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Sexualität: Zwischen den Geschlechtern

Die Gesellschaft reagiert auf Uneindeutigkeit mit Verunsicherung. Doch Intersexualität ist keine Krankheit.

Zu Beginn habe es „drei Geschlechter unter den Menschen“ gegeben, erzählt Platon in seinem „Gastmahl“. Die „Mannfrau“ sei jedoch von den Göttern in zwei Hälften getrennt worden, um ihr den Übermut zu nehmen. „Sehnsüchtiges Verlangen“ nach der anderen Hälfte verzehre seither die Menschen. Hermaphroditen, benannt nach dem Sohn des Hermes und der Aphrodite, dessen Körper die Götter mit dem der Quellnymphe Salmakis für immer verschmolzen, haben im Mythos eine hervorgehobene Rolle, der „Zwitter“ ist seit der Antike ein beliebtes Motiv der bildenden Kunst. Doch Menschen, die nicht eindeutig einem Geschlecht zuzuordnen sind, verunsichern zugleich. „Sie verursachen eine Ambivalenz aus Angst und Faszination“, weiß der Berliner Psychotherapeut Knut Werner-Rosen.

„Wenn nur für Mann oder Frau Platz ist auf dieser Welt, dann also nicht für mich“, sagt der Journalist Ernst Bilke in Ulla Fröhlings Buch „Leben zwischen den Geschlechtern“. Bilke wurde mit einer Hypospadie geboren, einem ungewöhnlichen Verlauf der Harnröhre, die in diesem Fall nicht an der Spitze, sondern auf der Unterseite des Penis mündet. Verursacht wird das durch einen Mangel an männlichen Hormonen in einer sensiblen Phase zu Beginn der Schwangerschaft. Bilke ist heute nach landläufiger Anschauung in der klassischen Männerrolle verankert. Er ist verheiratet und Vater von drei Kindern. Doch in seiner Kindheit gab es eine Phase, in der erwogen wurde, aus ihm ein Mädchen zu machen, operativ. „It’s easier to make a hole than building a pole“, („es ist leichter, ein Loch zu machen als eine Stange“), lautete damals die medizinische Anschauung. Bilke bezeichnet sich heute als „ein Wesen der dritten Art“, er sieht sich als „vollkommenen Zwitter“.

Die inneren Geschlechtsorgane und das äußere Erscheinungsbild passen nicht zusammen

Bei etwa einem von 5000 Neugeborenen ist eine eindeutige Geschlechtsbestimmung schwierig. International hat man sich unter Medizinern inzwischen darauf geeinigt, von „Disorders of Sex Development“ zu sprechen, kurz DSD. Die Ursachen und Erscheinungsformen sind vielfältig. Intersexualität hat aber nichts mit Transsexualität zu tun, die Menschen mit ihrem biologisch eindeutigen Geschlecht unzufrieden sein lässt. Intersexuelle stecken nicht im „falschen“ Körper, ihr Körper macht aber widersprüchliche Aussagen, jedenfalls aus Sicht einer binär organisierten Gesellschaft. So kann es sein, dass das chromosomale Geschlecht, die inneren Geschlechtsorgane und das äußere Erscheinungsbild nicht zusammenpassen. Da gibt es „XY-Frauen“ mit einem „männlichen“ Y-Chromosom und dem Androgen Insensitivity Syndrom (AIS), deren Gewebe auf männliche Hormone nicht anspricht: Ihre äußeren Genitalien sind weiblich, dabei finden sich im Inneren Hoden, Nebenhoden und Samenstränge. Andere Kinder sehen aufgrund eines Enzym defekts, des 5-Alpha-Reduktasemangels, bei der Geburt wie Mädchen aus, entwickeln jedoch während der Pubertät männliche Genitalien. Ein solcher seltener Fall wird in dem Roman „Middlesex“ von Jeff rey Eugenides beschrieben.

Weitaus am häufigsten ist das Adrenogenitale Syndrom (AGS), eine Störung der Tätigkeit der Nebennierenrinde. Wird AGS nicht behandelt, so führt es trotz weiblichem Chromosomensatz zur Vermännlichung der äußeren Geschlechtsorgane. Weil das AGS in vielen Fällen mit einem lebensgefährlichen Salzverlust verbunden ist, muss mit einer Kortisonersatztherapie behandelt werden.

81 Prozent der betroffenen Erwachsenen haben mindestens eine Operation hinter sich

Das ist aber die Ausnahme von der Regel, die für Kinderärzte heute lautet: DSD ist keine Krankheit, zumindest nicht per se. „Konflikte entstehen durch das Fehlen eines sozialen Raums, in dem Kinder mit DSD ihr Anderssein als normal erleben können“, heißt es in den jüngst erschienenen ethischen Grundsätzen zum Umgang mit Besonderheiten der Geschlechtsentwicklung, die eine interdisziplinäre Arbeitsgruppe aus dem BMBF-geförderten Netzwerk DSD/ Intersexualität erarbeitet hat. Dass ein Grundsatzpapier mit einer so klaren Aussage in der Monatsschrift für Kinderheilkunde (3/2008) erschienen ist, kann als Ausdruck einer geradezu revolutionären Veränderung in der Sichtweise der Mediziner gewertet werden. Noch in den 90er Jahren richteten sich viele von ihnen eher nach den Grundsätzen des US-Sexualforschers John Money, der in den 50er Jahren den Grundsatz aufstellte, Ärzte und Eltern sollten einem intersexuellen Kind sofort ein Erziehungsgeschlecht „zuweisen“ und dann operativ vollendete Tatsachen schaffen – möglichst ohne dem Kind davon zu erzählen.

Es erstaunt also nicht, wenn heute 81 Prozent der betroffenen Erwachsenen mindestens eine einschlägige Operation hinter sich haben. Das ist das vorläufige Ergebnis einer noch unveröffentlichten Studie des Netzwerkes DSD/Intersexualität. Bei 68 Prozent der Befragten passierte der Eingriff, als sie noch nicht drei Jahre alt waren. „Dabei haben die operativen Eingriffe keine Auswirkung auf die Geschlechtsidentität, Selbstvertrauen und Aufklärung sind hier weit wichtiger“, sagt Werner-Rosen, der seit Jahren von Intersexualität betroffene Kinder und Eltern berät und therapiert, zum Teil in Zusammenarbeit mit der Charité. Nur 40 Prozent der erwachsenen Studienteilnehmer leben heute in einer festen Partnerschaft, insgesamt haben sie weit weniger sexuelle Erfahrungen gemacht als der Durchschnitt der Bevölkerung, so zeigt die Studie des Netzwerks – die weltweit größte zum Thema. Diejenigen, bei denen eigens eine Vagina geschaffen oder der Penis verändert wurde und deren Eltern nicht frühzeitig psychologisch beraten wurden, leben demnach noch häufiger allein. Und vor allem Frauen haben der Studie zufolge eine deutlich unterdurchschnittliche Lebensqualität.

Zufriedenheit und Lebensglück sind es denn auch, was den neuen ethischen Grundsätzen zufolge im Mittelpunkt aller therapeutischen Bemühungen stehen soll. „Statt sich nur voller Angst auf technische Schwierigkeiten beim Geschlechtsverkehr zu fixieren, nehmen viele Menschen mit DSD inzwischen ihre Ressourcen in den Blick, leben ihr ,Anderssein‘ angstfreier, offener und spielerischer“, sagt Werner-Rosen.

Die Beziehung zwischen Eltern und Kind ist entscheidend

Alles steht und fällt mit der Beziehung zwischen Eltern und Kind. „Ziel ist es, dass die Eltern sich über das gesunde Kind freuen können und nicht nur denken: Operiert das schnell weg!“, sagt die Medizinsoziologin und Netzwerk-Koordinatorin Eva Hampel. Gelassenes Abwarten wird nicht zuletzt durch die erweiterten diagnostischen Möglichkeiten leichter. So wurden im Bauch von AIS-Mädchen angelegte Miniatur-Hoden früher aus Angst vor Krebs entfernt, heute kann man sie auch engmaschig per Ultraschall kontrollieren. „Falls eine Entfernung nötig wird, ist das Kind meist alt genug, um angemessen in die Entscheidung einbezogen zu werden, bis dahin können die Hoden aber sehr wichtige Hormone für die Entwicklung liefern“, erläutert Ute Hampel.

Meist ist schon viel erreicht, wenn die Eltern mit Verwandten und Freunden über die Besonderheit ihres Babys reden können, statt „komplizierte Landkarten zu entwerfen, auf denen verzeichnet ist, wer was wissen darf“, wie das nach Werner-Rosens Erfahrung viele Familien in der Vergangenheit getan haben. Inzwischen ist es möglich, mehr Offenheit zu leben. „Andererseits ist die Frage der Geschlechtszugehörigkeit in unserer bipolaren Gesellschaft ein großes Thema, auch ganz abgesehen von der Intersexualität.“ Zum Thema „kulturelles Geschlecht“ und Geschlechterrollen, das in Gender debatten jeder Art thematisiert wird, kommt bei DSD noch die Uneindeutigkeit des biologischen Geschlechts (Sex) hinzu. Auch wie eine Gesellschaft damit umgeht, ist allerdings Teil ihrer Kultur. „Mit dem Unmöglichen konfrontiert, gab es keine andere Wahl, als es normal zu finden“, heißt es im Roman „Middlesex“. Mag sein, dass das Göttern und Philosophen leichter fällt als der Mehrheit der „Normal“-Sterblichen.

Mehr zum Thema unter:

www.netzwerk-is.de

Buchtipp: Ulla Fröhling: Leben zwischen den Geschlechtern. Intersexualität – Erfahrungen in einem Tabubereich. Ch. Links Verlag, Berlin 2003, 14,90 Euro.

Adelheid Müller-Lissner

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