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Berlinerinnen. In großen deutschen Städten wie Berlin und Frankfurt am Main leben rund 180 Nationen zusammen.

© Kleist-Heinrich

Soziologie: Dem Alleinsein entfliehen

Der 100. Deutsche Soziologenkongress sucht nach Identitäten in transnationalen Gesellschaften.

Wer im 19. Jahrhundert nach Amerika auswanderte, war bei Strafe des Untergangs gezwungen, sich an die neue Heimat anzupassen und die zurückgelassene zu vergessen. Heute zieht das Heer der Arbeitsmigranten durch die ganze Welt, doch sie nehmen ihre kulturelle Identität mit, bilden Herkunftsgemeinschaften, während sie sich gleichzeitig in der Arbeitswelt integrieren, ihre Kinder in die Schule schicken und die Freizeitangebote des Gastlandes annehmen.

Junge Leute studieren an Universitäten im Ausland, und Kriege treiben Flüchtlinge in sichere Länder. Mit den Geld- und Warenströmen kommen auch die Menschen: aus gewohnten Verhältnissen in fremde Umgebungen oder vom heimischen Computer ins globale Netz. Wo sich aber globale Räume auftun, gewinnt das Lokale wieder an Bedeutung und überwindet soziale Grenzen: Das beste Beispiel ist der zähe Kampf gegen Stuttgart 21.

Wenn Bundespräsident Christian Wulff kürzlich darauf verwies, dass der Islam auch zu Deutschland gehöre, konzediert er, dass mit der Globalisierung transnationale Räume entstanden sind, in denen verschiedene Kulturen existieren und sich in den einzelnen Menschen vermischen. Die Migrationsforschung fasst diese Prozesse unter dem Begriff „Transnationalisierung“ zusammen. Unter dem Megathema „Transnationale Vergesellschaftung“ tagt ab Montag auch der internationale Kongress der Deutschen Gesellschaft für Soziologie (DGS) in Frankfurt, auf dem über 2500 Besucher erwartet werden. Mit dem Großereignis begeht die DGS ihren 100. Geburtstag.

Dabei hätten die Soziologen nicht einfach die Globalisierung entdeckt, stellt der in Frankfurt lehrende Kongressleiter Klaus Lichtblau klar. Es gehe vielmehr um die makro- und die mikrosoziologische Sicht auf diese Phänomene. Während die Politische Soziologie etwa den Integrations- und Konfliktraum Europa in den Blick nimmt, befassen sich andere Sektionen ganz konkret mit der Situation von Migrantinnen in der häuslichen Pflege, mit der transnationalen Vernetzung jugendlicher Communities oder sogar mit „transnationalem Nabelschnurblut“.

Mit dem Thema „Vergesellschaftungsprozesse“ knüpft die DGS an frühe soziologische Traditionslinien an. Ihr erster Vorsitzender, Ferdinand Tönnies, hatte 1987 in seiner berühmten Schrift „Gemeinschaft und Gesellschaft“ bereits die Spur gelegt. Seine Theorie gemeinschaftsstiftender Bindungen einerseits und zunehmend individualisierter Lebenszusammenhänge andererseits, die am Ende „Gesellschaft“ konstituieren, war allerdings noch in den zeitgenössischen Dualismen gefangen. Diese zu überwinden gehört zum Programm der Transnationalisierungsforschung.

Wie gehen Menschen damit um, wenn die traditionellen Lebensbezüge – Familie, Dorf oder Kirche – zerreißen, wenn die soziale Zugehörigkeit zu einer Klasse oder Schicht nicht mehr bestimmend ist für das Selbstbild und wenn die Herkunft in multinationalen Räumen diffus wird? „In Frankfurt leben 180 Nationen in unterschiedlichen ethnischen Kontexten, in den verschiedensten Lebens- und Arbeitsumgebungen“, beschreibt Lichtblau die Situation. Die Menschen seien gezwungen, „hin und her zu switchen“ und unterschiedlichste Identifikationen zu entwickeln. Sie müssten jedes Mal entscheiden, welche Identität sie gerade annehmen wollen. „Früher war das ein Problem, heute ist es selbstverständlich geworden“, sagt Lichtblau.

Die Kehrseite dieser Individualisierung, die es mit sich bringt, multiple Identitäten zu entwickeln, liegt auf der Hand: Wer als Einzelkämpfer auf dem Arbeitsmarkt unterwegs ist und sich in kollektiven Bezügen wie Gewerkschaften nicht mehr heimisch fühlt, benötigt neue Bindungen, um den Stress überhaupt auszuhalten. Es werden neue Identität stiftende Vergemeinschaftungsformen geschaffen, in verschiedensten Gruppen oder im Ehrenamt, manchmal sogar in der Disco: „Es gibt in Frankfurt Bankangestellte, die tagsüber in Schlips und Anzug funktionieren und sich nachts in der Disco austoben, ihre Art von Gemeinschaft herstellen, um die erlebte Vereinzelung zu ertragen“, sagt Lichtblau.

Die soziale Ausdifferenzierung der Gesellschaft, aber auch die spezifischen „Mischungen“, die dabei entstehen, spiegeln sich in der gegenwärtigen Soziologie. Das Kongressprogramm wirkt wie eine breit angelegte Parklandschaft, mit Haupt- und Nebenwegen, Verbindungspfaden und Schonungen, in der so ziemlich alles dem ordnenden Zugriff unterliegt, was die soziale Realität zu bieten hat. Vorbei die Zeiten, wo in der Soziologie noch um Paradigmen gerungen wurde, vorbei der Kampf der Schulen, vorbei auch der Stellungskrieg zwischen „bürgerlich-affirmativen“ und marxistisch aufgestellten Zunftbrüdern und -schwestern – und auch keine Bekehrungsversuche mehr. Hatte die soziologische Theorie über 15 Jahre lang andere Disziplinen mit Erklärungsmustern genährt, schwimmt sie nun in den ruhigen Wassern der Professionalisierung, die wenig öffentliche Aufmerksamkeit erregt.

Die Soziologie, sagt Lichtblau, sei immer eine Krisenwissenschaft gewesen und deshalb prädestiniert, die Krisen der Gesellschaft zu erklären. Das hat sie bis in die siebziger Jahre immer wieder geleistet, „musste letztlich aber scheitern, weil ihr Anspruch zu hoch war“. Der Rückzug von Jürgen Habermas aus der Soziologie, glaubt Lichtblau, sei ein signifikantes Zeichen für ihren öffentlichen Bedeutungsverlust. Der Großtheoretiker war als Festredner in der Paulskirche geladen, sagte aber ab – „aus terminlichen Gründen“.

Dramatisch findet Lichtblau diese Rückführung seiner Disziplin in die wissenschaftliche Normalität nicht. Gerade das Jubiläum biete Gelegenheit, die eigene Fachgeschichte kritisch zu beleuchten. Entspannend wirkt auch, dass sich die nationalen intellektuellen Hegemonien aufgelöst haben. Die Dominanz der amerikanischen Soziologie sei gebrochen, sagt Lichtblau. Die innovativsten Impulse beobachtet er derzeit in Frankreich und „sie gehen eine interessante Symbiose mit der Kritischen Theorie ein“. Neue nationale Deutungshoheiten seien allerdings nicht zu erwarten. Die USA und Frankreich, beides Länder mit einer ausgeprägten Soziologietradition, sind in Frankfurt mit eigenen Programmen vertreten.

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