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Eine demenzkranke Frau in einem Pflegeheim in Frankfurt (Oder).

© Patrick Pleul/dpa

„Spektakuläre“ Wirkung: Eine seltene Mutation könnte vor Alzheimer schützen

Ein verändertes Gen könnte eine Kolumbianerin vor frühzeitiger Demenz bewahrt haben. Wissenschaftler sehen darin einen neuen Therapieansatz.

Eine seltene Mutation könnte dazu beitragen, Menschen vor Alzheimer zu schützen. Das berichtet eine Forschungsgruppe um Joseph Arboleda-Velasquez von der Harvard Medical School. Sie stießen auf die Mutation im Erbgut einer 70-jährigen Kolumbianerin. Sie ist Teil einer Gruppe von Menschen, die aufgrund einer Genmutation eigentlich ungewöhnlich früh an Alzheimer erkranken. Eine weitere Mutation könnte die Frau jedoch vor der Demenz bewahrt haben, schreiben die Wissenschaftler im Magazin "Nature Medicine". 

Normalerweise tritt Alzheimer selten vor dem 65. Lebensjahr auf. Eine bestimmte Genmutation (Präsenilin-1) führt jedoch dazu, dass Menschen schon zwischen 40 und 50 Jahren erkranken. Die mit 1200 Menschen wohl größte Gruppe mit dieser Erbgutveränderung haben Wissenschaftler in Kolumbien ausgemacht. Eine Frau in der Gemeinschaft war allerdings besonders: Erst mit 70 Jahren zeigten sich bei ihr erste Symptome der Krankheit – also fast 30 Jahre später als erwartet. 

Als die Forscher das Erbgut der Frau untersuchten, fanden sie neben der erwarteten Präsenilin-1-Veränderung eine weitere, sehr seltene Mutation auf dem APOE3-Gen. Diese „Christchurch-Mutation“ führt dazu, dass ein Eiweiß namens Apolipoprotein E3 verändert ist. Apolipoproteine kommen beim Menschen normalerweise in drei Varianten vor: E2, E3 und E4. Aus früheren Studien weiß man, dass sie an der Entstehung von Alzheimer beteiligt sind. Je nachdem, welche Varianten im Körper vorliegen, tragen sie dazu bei, dass sich die Eiweiße Beta-Amyloid und Tau im Hirngewebe zu giftigen Eiweißklumpen zusammenlagern – wohl ein Grund, dass jemand an Alzheimer erkrankt. Der genaue Mechanismus ist aber noch unklar.

Das mutierte Gen könnte vor den toxischen Eiweißen schützen

In den Gehirnscans, die die Forscher von der Frau machten, fanden sich denn auch große Mengen an Beta-Amyloid-Klumpen, was typisch für Alzheimer ist. Allerdings fanden sich bei ihr erstaunlich wenige Bündel des Tau-Proteins, und auch Nervenzellen waren nicht in großer Zahl verloren gegangen. Das passte, denn schließlich war die Frau bis dahin weder besonders vergesslich, noch wies sie andere neurologische Auffälligkeiten auf.

In weiteren Experimenten untersuchten die Wissenschaftler, wie die Mutation vor der Erkrankung schützen könnte. In einem Versuch im Reagenzglas führte die Anwesenheit des mutierten APOE3 zum Beispiel dazu, dass sich weniger Beta-Amyloid ansammelte als beim „normalen“ APOE3. Die Forscher folgern, dass die Frau ohne die Mutation wahrscheinlich noch wesentlich mehr toxisches Eiweiß im Gehirn gehabt haben könnte. Es lag also nahe, dass das veränderte Protein etwas damit zu tun hat, dass die Frau weniger anfällig für Alzheimer ist. Und noch etwas stützt diese These.

Die Christchurch-Mutation verändert APOE3 just an einer Stelle, die für das Zusammenspiel mit bestimmten Eiweiß-Bindungsstellen im Gehirn wichtig ist. Womöglich ist das Zusammenspiel dieser Rezeptoren mit den normalen APOE3-Molekülen entscheidend dafür, dass sich Beta-Amyloid zusammenballt und die schädlichen Tau-Proteine in die Nervenzellen eindringen können. Mit der mutierten Version von APOE3 scheint dieses Zusammenspiel jedoch nicht zu funktionieren. Auf diese Art, so die Vermutung der Forscher, könnte die Mutation vor der Krankheit schützen.

Selbst wenn dieser Schutzmechanismus sich bestätigen sollte, ist die Christchurch-Mutation aber immer noch extrem selten. Somit hätten nur sehr wenige Menschen etwas von der Schutzwirkung. Den Forschern gelang es aber, einen Antikörper zu entwickeln, der die Bindungskraft von normalem APOE3 im Reagenzglas reduziert und so die Schutzwirkung der Mutation nachahmen könnte. Ihnen zufolge könnte das ein Ansatz für ein neues Medikament sein, um das Fortschreiten von Alzheimer zu stoppen.

Schutzwirkung ist „absolut spektakulär“

Die Studie ist nicht die erste, die zeigt, dass bestimmte Varianten des Eiweißes APOE das Risiko für Alzheimer senken oder erhöhen können. Auch die nun beschriebene Mutation sei nicht ganz neu, sagt Christian Haass vom Deutschen Zentrum für Neurodegenerative Erkrankungen. Ihre schützende Funktion hält der Wissenschaftler aber für „absolut spektakulär“. Zumal sie offenbar trotz der Genmutation zur Wirkung kommt, die eigentlich zu einer früheren Erkrankung führen müsste.

Trotzdem mahnt Haas zur Vorsicht. So könnten Antikörper gegen Apolipoproteine auch die biologische Funktion dieser Moleküle blockieren – mit noch ungewissen Folgen. Zudem handle es sich, um einen Einzelfall. Die Autoren könnten sicherlich nicht ganz ausschließen, dass die Frau keine anderen genetischen Veränderungen hatte, die zu ihrem besseren Krankheitsverlauf beigetragen haben könnten, meint Haass. Daher müsse nun im Tiermodell bewiesen werden, dass die Mutation auch wirklich schützt.

Bereits seit einiger Zeit weiß man, dass sich auch die Variante APOE2 schützend bei Alzheimer auszuwirken scheint. Daher forschen Wissenschaftler bereits daran, ihre Wirkung zu verstärken. „Diese Forschung wird ab sofort sicher auf die APOE3-Christchurch-Mutation ausgeweitet“, sagt Marc Aurel Busche vom University College in London.

Er betont außerdem, dass die untersuchte Frau erstaunlich wenig Tau-Eiweiß im Gehirn gehabt hat. „Der Befund bestätigt die Hypothese, dass nicht die Amyloid-Plaques, sondern vielmehr Tau mit Alzheimer-Symptomen korreliert.“ Die Tau-Proteine an der Ausbreitung im Gehirn zu hindern, müsse neben der Veränderung von APOE ein wesentliches Therapieziel sein. 

Ein neues Medikament könnte nächstes Jahr zugelassen werden

In Deutschland leben nach Informationen der Deutschen Alzheimer Gesellschaft derzeit etwa 1,7 Millionen Menschen mit Demenz, die meisten von ihnen sind von der Alzheimer-Form betroffen. Jährlich erkranken hierzulande etwa 300.000 Menschen neu. Weil die Menschen immer älter werden, könnte die Krankenzahl bis zum Jahr 2050 auf rund drei Millionen steigen.

Derzeit befinden sich verschiedene Therapieansätze in klinischen Studien. Zuletzt hatte der US-Biotech-Riese Biogen angekündigt, Anfang 2020 in den USA einen Zulassungsantrag für das Medikament Aducanumab zu stellen. Das ist ein Antikörper, der die Beta-Amyloid-Eiweißklumpen im Gehirn auflösen soll. Die entsprechenden Studien zeigten nun doch bessere Ergebnisse als gedacht, nachdem sie im Frühjahr vorerst gestoppt worden waren. Auch wenn die Verbesserungen für Patienten nicht sehr groß sein dürften, sehen Experten durchaus Chancen für eine Zulassung, auch weil die Alzheimer-Forschung in den vergangenen Jahrzehnten keine wirksame Therapie hervorgebracht hat.

Trotzdem sieht Christian Haass auch in Aducanumab „sicherlich noch nicht das endgültige Alzheimer-Medikament“. Daher müsse weiter nach neuen Ansätzen gesucht werden. Und als solcher sei die bei der Kolumbianerin beschriebene seltene Mutation durchaus interessant. (mit smc)

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