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Sprachsalat? Oft liegt der vermeintlichen Unordung eine Regel zugrunde, die erst noch entdeckt werden muss.

© imago/China Foto Press

Sprache: Hierarchie und Anarchie

Bei aller Ordnung gibt es in der Grammatik Sonderfälle. Für die Linguistik sind sie eine Herausforderung.

Angesichts der vielen Ausnahmen und Sonderregeln schimpfte der frustrierte Deutschlerner Mark Twain einst in seinem Essay über „die schreckliche deutsche Sprache“, dass das Deutsche völlig „unordentlich und systemlos daherkommt“. Einen ähnlichen Eindruck haben wohl die meisten Menschen, die gerade dabei sind, eine fremde Grammatik zu büffeln – egal in welcher Sprache, das ist nicht nur beim Deutschlernen so. Die fremde Sprache erscheint einem gelegentlich vollkommen chaotisch und unsystematisch.

In der Linguistik ist man sich allerdings darüber einig, dass allen Sprachen ein wohlorganisiertes System zugrunde liegt. Dieses System lässt sich entdecken, wenn man sich nur genau genug und mit dem nötigen Abstraktionsvermögen den Strukturen einer Sprache widmet. Allerdings gibt es immer wieder auch Beobachtungen, die es fraglich erscheinen lassen, ob die gefundenen grundlegenden Organisationsprinzipien tatsächlich immer und ausnahmslos wirken. Solche Beobachtungen waren jetzt Gegenstand einer sprachwissenschaftlichen Tagung an der Freien Universität Berlin. Dabei ging es um die Frage: Gibt es Anarchie in der Grammatik?

Jedes Wort und jeder Satz hat einen "Kopf"

Eine wichtige linguistische Grundannahme besagt, dass Sprache hierarchisch organisiert ist. „Man geht üblicherweise davon aus, dass es in jedem komplexen Wort, in jeder Wortgruppe, in jedem Satz und so weiter einen Teil gibt, der wichtiger ist als die anderen, da er die Eigenschaften der anderen Bestandteile und vor allem die Eigenschaften des großen Ganzen festlegt. Das sieht man an der Bedeutung eines Wortes oder Satzes, aber auch an der Form, zum Beispiel an den Endungen von Wörtern oder an der Wortreihenfolge“, erklärt Ulrike Freywald von der Universität Potsdam. Sie hat gemeinsam mit Horst Simon von der FU Berlin die internationale Tagung „Köpfigkeit und/oder grammatische Anarchie?“ organisiert. „Diesen wichtigsten, prominenten Teil, der die Eigenschaften des Ganzen bestimmt – also den Chef sozusagen – nennt man ‚Kopf’“, so die Sprachwissenschaftlerin.

Das ist zum Beispiel an zusammengesetzten Substantiven wie Gurkensalat zu sehen. In einem solchen Kompositum tragen alle Bestandteile zur Gesamtbedeutung bei: Gurke genauso wie Salat. Allerdings kommt dem zweiten Teil eine gewichtigere Rolle zu als dem ersten. Ein Gurkensalat ist eben eine bestimmte Art von Salat. Wenn man das Ganze umdreht, ändert sich auch das Rollenverhältnis: Salatgurke. Hier haben wir es nicht mehr mit einem Salat, sondern mit einer bestimmten Gurke zu tun, die durch Salat nur näher bestimmt wird, zum Beispiel, um sie von einer Essiggurke abzugrenzen. Obwohl die beiden Substantive Gurkensalat und Salatgurke aus denselben Wörtern bestehen, haben sie unterschiedliche Bedeutungen. Das zweite Substantiv legt die Gesamtbedeutung fest, es ist der Kopf des Kompositums, während das erste Substantiv nur Zusatzinformation beisteuert, die der Hauptinformation untergeordnet ist. Das komplexe Wort ist hierarchisch organisiert.

"Kindersitz": In Komposita steht der Kopf rechts

Es ist kein Zufall, dass bei Salatgurke und Gurkensalat immer das zweite, rechts stehende Substantiv der Kopf ist. Das ist im Deutschen nämlich durchgängig so, auch bei sehr langen Komposita. Man denke etwa an Kindersitz, Landtagswahlleiterbüro oder Donaudampfschifffahrtsgesellschaftskapitänsmütze. Was nun genau der Kopf ist, kann man mit einer Weglassprobe herausfinden. Wenn man das linke Element weglässt, wird die Bedeutung zwar weniger spezifisch, ändert sich aber nicht grundsätzlich: aus Kindersitz wird Sitz. Lässt man dagegen den rechten Teil weg, ändert sich die Bedeutung grundlegend: aus Kindersitz wird Kinder. Diese Vormachtstellung des rechten Wortes lässt sich nicht nur an der Bedeutung, sondern auch in der Grammatik erkennen. Nach dem rechten Wort richtet sich zum Beispiel der Artikel. Daher heißt es die Salatgurke (wie die Gurke) und der Gurkensalat (wie der Salat), aber niemals der Salatgurke.

Wer einem deutschen Kompositum die Hauptbedeutung entnehmen will, muss also auf dessen letzten Bestandteil achten. Komplexe Wörter sind hierarchisch strukturiert und die Hauptbedeutung ist immer am gleichen Ort zu finden. Alles in bester Ordnung also. Diese Konvention erleichtert das Verstehen von Äußerungen und ist besonders deshalb nützlich, weil ständig neue Komposita gebildet werden. Ein solches neues Wort kann man verstehen, auch wenn man es zuvor noch nie gehört hat. So werden sich alle, die Deutsch sprechen, einig sein, dass das frei erfundene Wort Papierschal einen bestimmten Schal bezeichnet (und nicht eine bestimmte Sorte Papier) und dass der Artikel der verwendet werden muss. Das zeigt: Wer Deutsch spricht, kennt diese Systematik, ist sich dessen nur nicht zwangsläufig bewusst. Solch implizites Wissen über Sprache explizit zu machen, macht für viele den Reiz an der Sprachwissenschaft aus: Man kann erkennen, was man alles weiß, ohne es zu wissen.

Unregelmäßigkeiten stellen allgemeine Prinzipien infrage

Das implizite Wissen und die einer Sprache zugrundeliegenden Organisationsprinzipien zu erkennen und zu beschreiben, ist allerdings alles andere als trivial. Häufig sieht man sich dabei mit Ausnahmen und Unregelmäßigkeiten konfrontiert, die allgemeine Prinzipien infrage stellen. Solche Problem- und Sonderfälle standen im Zentrum der Tagung an der FU Berlin. „Ausnahmen und Sonderfälle sind gute Prüfsteine für eine Theorie“, erläutert Konferenzorganisator Horst Simon. „Wenn die empirischen Beobachtungen nicht zum theoretischen Grammatikmodell passen, muss man überlegen, ob gewisse Grundannahmen modifiziert oder sogar verworfen werden müssen und auf welche Weise das Modell so verändert werden sollte, dass es die empirischen Beobachtungen erklären kann.“

Auch bei zusammengesetzten Substantiven wie Gurkensalat gibt es solche Problemfälle, etwa wenn nicht – wie sonst immer – klar ist, dass das zweite Substantiv der Kopf ist, der die Hauptbedeutung trägt. Solche Problemwörter sind zum Beispiel Spielertrainer, schwarzweiß oder Strichpunkt. Eine innere Hierarchie ist in diesen Wörtern nur sehr schwer auszumachen. Während Gurkensalat ein Salat aus Gurken ist, meint schwarzweiß kein schwarzes Weiß und ein Strichpunkt ist keine bestimmte Art von Punkt (sondern ein Semikolon, das aus der Kombination von einem Strich und einem Punkt besteht). Und ein Spielertrainer ist gleichermaßen Spieler wie Trainer. Es gibt hier also offenbar keinen Bestandteil, der die Gesamtbedeutung und andere Eigenschaften festlegt.

Sonderfälle sind beim Programmieren von Computern eine Herausforderung

Ähnliche Beispiele lassen sich auf allen sprachlichen Beschreibungsebenen finden, nicht nur bei komplexen Wörtern, sondern auch auf lautlicher Ebene und in ganzen Sätzen. Auch für diese Ebenen wird üblicherweise angenommen, dass es ein entscheidendes Element in einer komplexen Einheit gibt. Auf lautlicher Ebene ist das zum Beispiel die Betonung in einem Wort. So kommen Trochäus, Jambus und so weiter zustande – Konzepte, die in der Metrik von großer Relevanz sind. Auf Satzebene ist das Verb das entscheidende Element, da es allen anderen Satzbestandteilen grammatische Rollen zuweist. So verlangt helfen einen Dativ (ich helfe meinem Vater), unterstützen hingegen einen Akkusativ (ich unterstütze meinen Vater).

Systematiken wie das Kopfprinzip zu beschreiben, ist eine der wesentlichen Aufgaben der Grammatiktheorie. Der praktische Bezug ist aber durchaus gegeben: „Die Probleme, die vorgestellt und diskutiert wurden, sind sehr wichtig zum Beispiel für die Entwicklung von Sprachsoftware“, erläutert Horst Simon. „Wenn man einem Computer oder einem Handy beibringen möchte, menschliche Sprache zu verstehen, muss man genau wissen, wie eine Sprache strukturiert ist, und die sprachlichen Organisationsprinzipien gut kennen. Sonderfälle, die gegen solche Prinzipien wie das Kopfprinzip verstoßen, stellen hier eine besondere Herausforderung dar.“

Während Menschen leicht mit einem gewissen Maß an sprachlicher Unordnung fertig werden können (vor allem in Sprachen, die man als Kind erworben hat), tun sich Computer damit schwer. Ihnen muss man Ausnahmen einzeln oder durch viele Zusatzregeln beibringen. Genauso geht man in der theoretischen Sprachwissenschaft vor. Oft erkennt man dann, dass Bereiche, in denen (vermeintlich) Unordnung herrscht, doch einer eigenen Systematik folgen, die man bloß noch nicht gefunden und erkannt hatte. Auch wenn bei der Tagung an der FU nicht in allen Punkten Einigkeit erzielt werden konnte, so schätzten daher doch alle Beteiligten den Anteil der Anarchie in der Grammatik als sehr gering ein. Auf den Punkt gebracht lautet ihr Fazit: Gurkensalat ja – Sprachsalat eher nein.

Der Autor ist wissenschaftlicher Mitarbeiter im Bereich Historische Sprachwissenschaft an der FU Berlin

Christian Zimmer

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