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Schillernd. Rippenquallen schweben seit einer Milliarde Jahre durch die Weltmeere.

© Getty Images

Stammt der Mensch von der Rippenqualle ab?: Die Suche nach dem Urtier

Was sind die urtümlichsten aller lebenden Tiere? Lange Zeit hieß es: Schwämme. Doch es sind die Rippenquallen. Ein deutscher Biologe ahnte das schon früh - doch die Idee konnte sich lange nicht durchsetzen.

Zwei Millionen könnten es sein. Genau weiß niemand, wie viele Tierarten den Globus bevölkern. Generationen von Biologen haben versucht, die Vielfalt zu ordnen. Dafür ergründeten sie das Innere von Würmern, zählten geduldig die Haare auf den Beinen von Insekten oder verbrachten ein ganzes Forscherleben damit, die Formenvielfalt der Kopulationsorgane von Spinnen zu vergleichen. Sie entwarfen Dutzende Stammbäume, jeder zeichnete die Evolutionsgeschichte der Tiere anders, jeder hatte eine andere Theorie, wie das Urtier, der Urahn der vielzelligen Fauna, ausgesehen haben könnte.

Und da es keine objektive Messmethode gab, um die Evolution der Tiere zu rekonstruieren, verteidigte ein jeder seine Theorie nicht nur mit Argumenten, sondern auch mit Beleidigungen. Honorige Zoologen zankten wie Kinder im Sandkasten, die ihre eigene Burg für die schönste halten.

Das Gezeter verstummte erst, als in den 1980er Jahren die Technik der Erbgutanalyse erfunden wurde. Endlich konnte man die DNS der Arten miteinander vergleichen, ihren Verwandtschaftsgrad und ihr evolutionäres Alter messen. Nach und nach etablierten Molekularbiologen und Zoologen so eine neue Systematik des Tierreichs, die „Neue Stammesgeschichte der Tiere“. Erst vor Kurzem nahmen sich Genforscher das Erbgut der Rippenquallen vor – und wurden überrascht: Diese gallertigen, tagsüber in allen Regenbogenfarben schillernden und nachts sogar in grünlichem Licht gespenstisch glimmenden Kreaturen sind dem Urtier am ähnlichsten. Kaum ein Zoologe hätte das für möglich gehalten. Nur Wolfgang Friedrich Gutmann (1935 – 1997) vom Frankfurter Forschungsinstitut Senckenberg hatte diese kaum erforschten Tiere schon 1976 an die Basis tierischen Lebens gestellt.

Rippenquallen haben wenig gemein mit den Kreaturen, die Touristen schrecken

Rippenquallen haben außer einem ähnlich glibberigen Körperbau mit den bei Strandurlaubern so unbeliebten Nesselquallen nichts gemein. Sie haben keine Nesselzellen, mit denen sie Beute fangen oder Touristenhaut traktieren könnten. Eine der am besten untersuchten Arten ist die Meerwalnuss Mnemiopsis leidyi. Anders als die meisten Rippenquallen kommt die etwa zehn Zentimeter lange Qualle nicht in der Tiefsee, sondern in Küstennähe vor und lässt sich im Labor nachzüchten. Wohl nicht zuletzt deshalb entschloss sich Casey Dunn von der Brown-Universität auf Rhode Island, als erstes Rippenquallen-Erbgut das der Meerwalnuss zu analysieren und mit dem Erbgut von Schwämmen, Nesselquallen, Weichtieren und anderen ursprünglichen Tierarten zu vergleichen.

Dabei stellte er fest, dass die Vorfahren der heute noch lebenden Rippenquallen bereits existierten, bevor sich Schwämme und alle anderen Tiere entwickelten. Eine provokante These, als würde sich jemand hinstellen und anstelle von Schimpansen Giraffen als die nächsten Verwandten des Menschen bezeichnen.

Tatsächlich erscheinen die filigranen Rippenquallen auf den ersten Blick viel zu komplex, um die „primitivsten“ Tiere zu sein. Während die Quallen sowohl Muskelzellen als auch ein einfaches Nervensystem haben, haben Schwämme nur haut- und darmähnliche Gewebe. Es klang also logisch, dass erst Schwämme mit zwei Zelltypen existierten, aus denen dann die Rippenquallen mit vier Gewebearten hervorgingen. Oder haben die Schwämme Nerven- und Muskelzellen zurückgebildet, weil sie am Meeresboden dafür keine Verwendung hatten?

Lange galt die Ähnlichkeit als Hinweis auf eine Verwandtschaft - das barg Fehlerpotenzial

Bevor sich die Molekularbiologie durchsetzte, war es für Evolutionsforscher ein fast hoffnungsloses Unterfangen, solche Fragen zu beantworten. Als bestmöglicher Beleg für die Verwandtschaft zweier Arten oder Tiergruppen galt die Ähnlichkeit charakteristischer Organe. Weil Haare bei Mensch und Maus sich sowohl identisch entwickeln als auch gleich aufgebaut sind, werden sie als „homolog“ bezeichnet und die beiden Arten in einer Tiergruppe, den Säugetieren, zusammengefasst. Die Haare von Insekten hingegen sind anders aufgebaut und entwickeln sich aus anderen Körperteilen. Sie sind also „analog“ und taugen nicht als Merkmal für Verwandtschaft. „Wolfgang Gutmann war das viel zu simpel“, sagt der Biologe und Paläontologe Michael Gudo. Wie einst Gutmann war auch Gudo am Frankfurter Senckenberg-Museum tätig, bevor er die Auftragsforschungsfirma Morphisto gründete. Ähnlichkeit habe ihm nicht gereicht, um Verwandtschaftsbeziehungen zu belegen. Sein Grundgedanke: „Wenn die Evolution ein lebendes System umbaut, dann kann kein Zwischenstadium existieren, das mechanisch und energetisch nicht funktioniert.“ Selbst wenn sich also die Organe von zwei Arten ähneln, dann können sie trotzdem nicht verwandt sein, wenn die Zwischenformen nicht lebensfähig sind.

Deftige Worte für die Forscherkollegen

Gutmann versuchte, eine funktionierende Entwicklungsabfolge in kleinen evolutionären Schritten nachzuzeichnen. „Erst wenn so eine Reihe entworfen ist, kann man über Homologien und Analogien sprechen“, sagt Gudo. Gutmanns Gegner hätten genau umgekehrt gedacht – also zunächst ähnliche, homologe Merkmale gesucht und danach Übergangsformen rekonstruiert. „Dabei sind oft leichtfertig hypothetische Zwischenformen gezeichnet worden, bei denen sich keiner so recht überlegt hat, ob die überhaupt funktionieren konnten“, sagt Jürgen Markl, Zoologe und Evolutionsbiologe an der Universität Mainz. „Darüber hat sich Gutmann zu Recht aufgeregt.“

Gutmann musste selbst manche Demütigung einstecken

Dabei sparte der streitbare Forscher nicht mit deftigen Worten. Beispielsweise nannte er die Homologienlehre seiner Gegner „eine sinnleere, für Realitäten blinde morphologische Methode“, die sich auf der Ebene einer Logik bewege, „die empfiehlt, man müsse in Afrika nach Erdgas bohren, um in Australien Eisenerze finden zu können“. Allerdings hatte Gutmann zuvor selbst so manche Demütigung einstecken müssen. Der Grazer Biologe Erich Reisinger beispielsweise machte seine funktionsmorphologischen Ableitungen als „fiktive Konstruktionen ohne in der Natur vorhandene Repräsentanz und ohne Beweiskraft“ lächerlich. Doch auch wenn Gutmanns Ideen noch immer nicht in Biologie-Lehrbüchern stehen, haben die genetischen Stammbaumanalysen der vergangenen Jahre so manche seiner Annahmen bestätigt. Darunter ist auch die Theorie, dass die Vorfahren der heutigen Rippenquallen die ursprünglichsten vielzelligen Tiere gewesen sein könnten.

Anfang der 1970er hatte sich Gutmann überlegt, wie der Übergang von tierischen Einzellern zu Vielzellern abgelaufen sein könnte. Er nahm an, dass ein Einzeller mit vielen Zellkernen seine Zellmembran einstülpen und so zum Vielzeller werden kann, ohne seine Funktionalität zu verlieren. Da die Zellen aller Tiere sich in extrazelluläres Material (Gallerte) hüllen können, nahm Gutmann einen „Gallertoid“ als Urtier an – einen Vielzeller, der sich durch eine Gallertschicht stabilisiert, ohne dabei seine Bewegungsfreiheit einzuschränken (siehe Grafik). „Dabei hat er gemerkt, dass diese hypothetische gallertige Vielzeller-Konstruktion erstaunliche Ähnlichkeit mit den heute noch lebenden Rippenquallen hat“, sagt Gudos Kollege Tareq Syed, Biologe und Philosoph am Karlsruher Institut für Technologie.

„Eine Schlüsselrolle in der Evolution der Tierstämme kommt den ‚Gallertoiden‘ zu“, schrieb Gutmann im Mai 1976 im Fachblatt „Natur und Museum“: „Es sind im Meer lebende Tierformen, deren Körper großteils aus Gallerte besteht, die sich durch Cilienschlag in der Schwebe halten und die ein inneres Kanalsystem zur Nahrungsaufbereitung und -verteilung haben. Diese Tierkonstruktion lässt sich von der Entstehung der Mehrzeller aus Einzellern herleiten und aus ihr ergeben sich in der Weiterentwicklung die verschiedenen Tierstämme. Auf diese Weise wird hier erstmals in einem sprunglosen Ablauf die Entwicklung der verschiedenen Tiergruppen erklärt. Die Konstruktion der Gallertoide wird heute noch repräsentiert durch die Rippenquallen.“

Gutmann igelte sich ein und soll sich von seinen Gegnern verfolgt gefühlt haben

Gutmann hätte sich sicher darüber gefreut, dass die Erbgutanalysen der Rippenquallen ihn bestätigen, meint Jürgen Markl. „Aber das bedeutet nicht, dass sein System unbedingt besser gewesen ist als andere Systeme vergleichender Morphologie, die erklären wollten, wie Tiere und andere Organismen miteinander verwandt sind.“ Damals produzierten Biologen alle möglichen Stammbäume, ein Teil habe sich durch die Genanalysen bestätigt, ein weiterer sei völlig anders, als alle gedacht hätten, sagt Markl. Dass zum Beispiel Regenwürmer nicht mit Gliederfüßern wie Krebsen, Spinnen und Insekten verwandt sind, sondern viel näher mit schneckenartigen Weichtieren, ahnte auch Gutmann nicht. „Das ist etwas, was ausschließlich die Molekularbiologie herausgefunden hat.“

Streitbar: "Evolution ohne Anpassung"

Die vehemente Ablehnung der Gutmann’schen Ideen rühre daher, dass er Darwins Prinzip der Anpassung der Arten an die Umwelt durch Selektion widersprach, sagt Markl. Aus seinem funktionsmorphologischen Ansatz entwickelte Gutmann mit Kollegen am Forschungsinstitut Senckenberg eine neue, die „Frankfurter Evolutionstheorie“. Demnach würden Tiere nicht wie bei Darwin passiv durch schrittweise Mutation und Selektion an die Umwelt- und Lebensbedingungen angepasst, sondern erschlössen sich aktiv solche Lebensräume, die ihnen dank einer durch Mutation veränderten Morphologie oder Physiologie zugänglich werden. Die Körperkonstruktion der Tiere forme die ökologische Nische einer Art also zumindest mit – eine „Evolution ohne Anpassung“.

Markl hält das für völlig überzogen: „Natürlich ist er damit überall angeeckt.“ Gutmann igelte sich in seiner Außenseiterrolle ein und soll sich bis zu seinem Tod 1997 von seinen Gegnern regelrecht verfolgt gefühlt haben. „Er wäre wohl eher akzeptiert worden, wenn er sich darauf beschränkt hätte, Organismen funktionsmorphologisch zu beschreiben, damit man besser versteht, welche hypothetischen Zwischenstufen in der Evolution überhaupt funktionieren können“, meint Markl. „Diese Analysen hatten jedenfalls Hand und Fuß.“

Heute liefern sie eine plausible Erklärung für das Ergebnis der überraschenden Genanalysen, die Rippenquallen-ähnliche Tiere als tierische Urahnen auch des Menschen vermuten. Eine durchaus bezaubernde Verwandtschaft. Denn Rippenquallen sind „traumhaft schöne und einzigartige Organismen“, schwärmt Casey Dunn. „Es sind die größten Organismen, die sich nur mit Zilien fortbewegen“, den winzigen Rudern einer Zelle, wie sie beispielsweise auch menschliche Spermien haben. Fällt Licht auf die Abertausenden von Zilien der Rippenquallen, dann wird es in allen Regenbogenfarben gebrochen, sodass sie Raumschiffen gleich durch die Ozeane gleiten – und das seit etwa einer Milliarde Jahren.

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