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© Aurora/laif

Wissen: Stau in der Blutbahn

Eine neue Theorie soll erklären, wie Multiple Sklerose entsteht – Patienten hoffen auf eine bessere Therapie

Unter denen, die es unmittelbar angeht, ist die Aufregung groß. „Für mich persönlich ist das das bei Weitem überzeugendste Konzept zur Krankheitsentstehung, von dem ich gehört habe, seit ich vor über 16 Jahren an Multipler Sklerose erkrankte“, schreibt „Nick“ in einem Internetforum. Die Theorie, über die er so positiv urteilt, heißt unter Insidern kurz CCSVI. Das steht für „Chronic Cerebrospinal Venous Insufficiency“ und soll nicht weniger bieten als eine Erklärung dafür, warum Menschen an Multipler Sklerose (MS) erkranken – und einen neuen Ansatz zur Behandlung des bisher unheilbaren Nervenleidens liefern. MS ist die häufigste chronische neurologische Erkrankung der unter 50-Jährigen, sie führt typischerweise zu Empfindungsstörungen, Schwächegefühlen und Lähmungen.

Ursache sind der CCSVI-Hypothese zufolge Verengungen in den Venen, die Blut aus dem Kopf in Richtung Herz transportieren. Die Verengungen führen demnach zu Stau und Rückfluss des Blutes. Die Folge: Das Blut tritt aus den dünnen Venenwänden aus und in ihrer Umgebung lagert sich Eisen ab. So soll es im Gehirn zu den gefürchteten Entzündungen kommen, durch die die schützende Myelinschicht der Nervenbahnen angegriffen wird.

Der italienische Gefäßchirurg Paolo Zamboni von der Universität in Ferrara glaubt, den Beweis für diese Hypothese antreten zu können, die bereits Ende der 70er Jahre von dem österreichischen Mediziner Alfons Schelling vertreten wurde. Per Ultraschall und Magnetresonanztomographie sucht Zamboni, der durch die MS-Erkrankung seiner Frau zum Thema fand, bei MS-Kranken nach Verengungen der Venen. Anschließend weitet er sie mit einem Ballonkatheter auf.

Im Dezemberheft des „Journal of Vascular Surgery“ ist jetzt eine Studie erschienen, die einen ersten Beleg für die Wirksamkeit der Behandlung liefern soll. 65 MS-Patienten haben sich dafür zwei Blutgefäße aufweiten lassen: die im Hals verlaufende innere Drosselvene (vena jugularis interna) und die für den Abtransport des venösen Bluts aus dem Gebiet des Rückenmarks zuständige Azygos-Vene. In die geweiteten Venen setzten die Ärzte Stents ein, kleine Gefäßstützen.

Die Prozedur, die man sonst aus der Behandlung von verengten Herzkranzgefäßen kennt, hat der Studie zufolge bei einem Großteil der Patienten zu einer deutlichen Besserung geführt, die auch ein Jahr später anhielt. Allerdings waren das vorwiegend die 35 Studienteilnehmer, denen auch mit den bisherigen Mitteln besser geholfen werden konnte, weil sie unter der milderen schubförmig-remittierenden Form der MS leiden. Bei ihnen verschwinden die Symptome glücklicherweise nach einem akuten Schub, ohne eine bleibende Verschlechterung zu verursachen. Was wie ein Erfolg des Eingriffs wirkt, könnte also schlicht der natürliche Verlauf der Erkrankung sein.

Bei einem Teil der Betroffenen nehmen die Ausfallerscheinungen allerdings von Anfang an oder nach einiger Zeit stetig zu. Ihnen konnte mit den Stents nicht geholfen werden. Was die vermeldeten Erfolge von Zambonis „Big Idea“ betrifft, ist die neurologische Fachwelt deshalb ausgesprochen skeptisch. So moniert die Deutsche Multiple Sklerose Gesellschaft (DMSG) in einer gerade erschienenen Stellungnahme, dass der Gefäßspezialist für seine Studie auf eine Kontrollgruppe verzichtet habe. Auch ob die Patienten gleichzeitig Medikamente erhielten, und wenn ja welche, gehe aus der Studie nicht hervor. Die DMSG mahnt deshalb weitere wissenschaftliche Untersuchungen anderer Arbeitsgruppen an.

Eine von ihnen soll im Jahr 2011 aus den USA kommen. Dort rekrutiert das Team um Robert Zivadinov vom Buffalo Neuroimaging Analysis Center derzeit 1100 MS-Patienten und 600 gesunde Freiwillige oder Patienten mit anderen neurologischen Erkrankungen für eine groß angelegte Untersuchung der Venen an Kopf, Hals und Rückenmark.

Doch schon heute werden die Neurologen in den MS-Sprechstunden mit Fragen nach den Stents bestürmt. Im Netz argwöhnen Betroffene, ihre behandelnden Ärzte machten gemeinsame Sache mit den Herstellerfirmen der teuren Immuntherapeutika, mit denen derzeit neuen Schüben vorgebeugt wird. Und es kursieren Namen von polnischen Medizinern, die den Eingriff ebenfalls ausführen. Lutz Harms, Leiter des MS-Zentrums an der Klinik für Neurologie der Charité, bekommt jede Woche mehrere Anfragen. „Dies ist ein ausgesprochen experimenteller Ansatz, der gegenwärtig nicht zu rechtfertigen ist“, sagt der Neurologe. Er empfiehlt seinen Patienten, solide Studien abzuwarten.

Gleichzeitig hat die Arbeitsgruppe Ultraschall seiner Klinik begonnen, die Venen von MS-Patienten unter der neuen Fragestellung genauer zu untersuchen. „Wir sind dabei, uns das systematisch anzuschauen, haben bisher allerdings noch keine der von Zamboni beschriebenen Verengungen gefunden“, berichtet Harms. Dass der Zündfunke für die Schädigung der Myelinschicht durch venöse Stauungen gelegt wird, ist nach Ansicht des Neurologen auch deshalb wenig plausibel, weil an MS meist jüngere Menschen erkranken. „Zur Venentheorie würde besser passen, wenn Ältere mit einer Herzschwäche häufiger MS bekämen.“

Allerdings fehlt derzeit noch eine hieb- und stichfeste Theorie, wie MS entsteht. Als am wahrscheinlichsten gilt heute, dass Veranlagung und äußere Einflüsse zusammenwirken, um einen Selbstbekämpfungsvorgang des Immunsystems in Gang zu setzen. Doch Multiple Sklerose gilt zugleich als die „Krankheit mit den tausend Gesichtern“ – weil sie sich in so vielen unterschiedlichen Arten und Stärken bemerkbar macht. Gut möglich deshalb, dass auch mehr als eine Ursache dahintersteckt.

Adelheid Müller-Lissner

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