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Ausnahmesituation oder Depression? Deutsche Psychiater kritisieren, dass einem neuen Handbuch der American Psychiatric Association zufolge zu lang anhaltende Trauer als behandlungsbedürftiges Krankheitsbild definiert wird.

© dpa

Streit um psychiatrische Diagnosen: Ist das noch normal?

Inflation der Diagnosen: Deutsche Psychiater kritisieren ein neues US-Handbuch. Demnach wäre intensive Trauer um einen geliebten Menschen bereits nach 14 Tagen eine behandlungsbedürftige Depression.

Ist „verlängerte Trauer“ eine Krankheit? In den USA könnte es bald soweit kommen: Halten Traurigkeit, Apathie, Konzentrationsstörungen, Schlaflosigkeit und Appetitmangel länger als zwei Wochen nach dem Tod eines geliebten Menschen an, spricht das einem neuen Diagnosesystem zufolge für eine behandlungsbedürftige Depression. Im Mai wird die Neufassung des Krankheitskataloges der American Psychiatric Association (APA) veröffentlicht, die fünfte Version des Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders, kurz DSM-5. Den Vorabinformationen zufolge wird den Ärzten dort empfohlen, nach einem Trauerfall schon nach 14 Tagen in solchem Verhalten Zeichen einer Depression zu vermuten.

Bisher galt die Trauer noch als verständlicher Ausnahmefall. Koryphäen wie der Psychiater Allen Frances von der amerikanischen Duke-Universität warnen jedoch schon seit Jahren vor einer drohenden Inflation der Diagnosen in seinem Fachgebiet. Nun hat sich auch die Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (DGPPN) in einer Stellungnahme kritisch zu dem geplanten DSM-5 geäußert. Das US-Handbuch ist zwar nicht direkt Richtschnur für die Arbeit der deutschen Psychiater. Es könnte aber indirekt dazu werden, falls es Modellcharakter für eine Neuauflage des Klassifikationssystems der Krankheiten gewinnt, das von der Weltgesundheitsorganisation entwickelt wurde. Dessen Version ICD-10 ist in Deutschland maßgeblich.

Was das Thema Trauer betrifft, so bemängeln der DGPPN-Präsident Wolfgang Maier von der Uni Bonn und seine Kollegen Peter Falkai aus München und Andreas Heinz von der Berliner Charité, das DSM-5 lasse „das in der Regel natürliche Nachlassen der Trauerempfindung und die meistens erhaltene Fähigkeit zur Selbstregulation“ außer Acht und könne dazu führen, dass zu Unrecht bei einer zunehmenden Zahl Trauernder „eine krankheitsrelevante psychische Störung diagnostiziert wird“. Sie fürchten, das könnte dazu führen, dass Menschen mit wirklichen psychischen Erkrankungen nicht ausreichend Hilfe finden.

Auch undramatischen Formen des normalen Alterungsprozesses von Gedächtnis- und anderen Gehirnfunktionen werde im DSM-5 zu Unrecht Krankheitswert zugesprochen. Das lege die neue Diagnose „minore neurokognitive Störung“ (etwa: geringe geistige Fehlfunktion) nahe. Schon weil es keine erwiesenermaßen wirksame Therapie dagegen gibt, finden es die Autoren des DGPPN-Papiers falsch, solche „Varianten der Vergesslichkeit“ zu Krankheiten zu erklären.

Problematisch finden die deutschen Psychiater ferner die „Substanzgebrauchsstörung“. In dieser Sucht-Sammeldiagnose wurden schädlicher Gebrauch und Abhängigkeit zusammengefasst. Hier fürchten sie, die Grenze zwischen echter Sucht und Formen des Alkoholgenusses, die soziale Probleme zur Folge haben, könnte verwischen.

Die DGPPN betont, dass einige der im DSM-5 neuen Beeinträchtigungen „keinen Krankheitswert besitzen und zum ,normalen Leben’ dazugehören“. Lobend hebt sie hervor, dass es Beschwerden gibt, die auch in der Neuauflage nicht als eigene Krankheiten auftauchen. Darunter ist das umstrittene, vor allem in Deutschland medial präsente Burnout-Syndrom.

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