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Studentenandrang: Darf’s ein bisschen mehr sein?

Zwischen „proppenvoll“ und „wie immer“: Impressionen vom Semesterstart im Zeichen der Studierendenflut. In einigen Städten wird inzwischen der Wohnraum für Studierende knapp.

„Die Massenuni wird Ihnen am Anfang auf den Keks gehen“, sagt Studienberater Michael Winteroll zu den über 1200 Erstsemestern im Audimax der TU Berlin. Ein Microport hängt um seinen Hals, so dass man ihn auch in den hinteren Reihen gut versteht. Winteroll geht schwungvoll auf und ab. Er soll den Schulabgängern nicht nur eine erste Anweisung für die „große Maschine Universität“ geben. Er soll auch Mut machen. „Je weiter Sie im Studium kommen, desto familiärer wird es“, sagt er. Wer nach dem Bachelor im Master weitermacht, habe fast schon „Privatunterricht“. Aber auch sonst sei die Massenuni eigentlich unbedeutend: „Sie werden Ihre 27 000 Kommilitonen niemals an einem Platz sehen.“ Im Mathegebäude gebe es „Kuschelecken“ zum Lernen zwischen den Kursen. – Die „Erstis“ tragen Winterolls Hinweise beflissen in den Arbeitsbogen „6 mal 6 Tipps in 36 Minuten“ ein, den er vorher verteilt hat.

Noch nie gab es in Deutschland so viele Studierende. Fast 2,3 Millionen. Die Anfänger kommen in geburtenstarken und doppelten Abiturjahrgängen. Reichen da die Plätze?

In Niedersachsen und Bayern ist der doppelte Jahrgang jetzt da. Die Uni Hannover hat 42 Prozent mehr Erstsemester als vor einem Jahr. „Knackig“ ist die Auslastung, heißt es aus der Uni. Die Mensa der Juristen und Ökonomen ist überfordert. Das ist lästig, kein Drama. „Wir haben 25 Prozent mehr Anfänger als im Vorjahr, aber das ist etwas weniger als erwartet“, sagt eine Sprecherin der TU Braunschweig. Die 3800 Neuen werden erstmals im Stadion von Eintracht Braunschweig begrüßt werden. Aber: „Unser Audimax war schon lange viel zu klein.“

Die LMU München hat in den vergangenen Jahren ein Drittel mehr Unterrichtsräume geschaffen und mehr Personal eingestellt, sie ist „gerüstet“, sagt LMU-Präsident Bernd Huber. Schlimm ist aber die Wohnungsnot. 6000 Suchende stehen auf der Warteliste der Studentenwohnheime. Vermieter verlangen völlig überhöhte Preise „für das letzte Loch“, warnt der Mieterbund.

In Hannover sind 14 Studierende im Eilenriedestift untergekommen, „dem Traditionshaus für anspruchsvolles Senioren-Wohnen“, wie es im Internet wirbt. Den Studierenden fehlt es an Wohnraum, den Alten an Partnern zum Kartenspielen oder Vorlesen. So dürfen die Studierenden auf 30 Quadratmetern Luxus im Landhausstil für nur 300 Euro wohnen. „Die studentische Wohnungsnot kann man damit aber nicht lösen“, sagt Eberhard Hoffmann, Geschäftsführer des Studentenwerks Hannover. In manchen Einzimmerapartments im Studentenwohnheim haben schon wohnungslose Kommilitonen ihre Isomatten ausgerollt, wenn der Mieter nichts dagegen hat. Dass es noch einmal nötig wird, wie vor 15 Jahren Notunterkünfte aufzumachen, glaubt Hoffmann nicht. Gemeinsam mit sympathischen Studierenden – auch oft misstrauisch beäugten dunkelhäutigen – hat er schon früh bei Wohnungsgesellschaften geworben und Vereinbarungen abgeschlossen.

Wo ist der Andrang? Bei Stefanie Terp von der Pressestelle der TU Berlin klingelt ständig das Telefon: „Haben Sie vielleicht eine total überfüllte Vorlesung, wo ganz viele auf dem Fußboden sitzen?“, wollen Journalisten wissen. Sie sind auf der Suche nach Anschauungsmaterial für ihre Leser, Hörer oder Zuschauer. Doch gute Bilder wird es erst geben, wenn die Massenvorlesungen in „Analysis“ für Ingenieure in diesen Tagen anlaufen. Dann wird Terp auch erfahren, wie voll es an der TU wirklich ist. Denn weil die meisten sich an mehreren Universitäten bewerben, stellt sich erst spät heraus, welchen Platz sie tatsächlich annehmen.

An manchen Hochschulen wird wochenlang Halma gespielt: Wird ein Platz in München frei, kann die Kandidatin, die sich schon in Bayreuth sah, doch noch kommen. In Bayreuth ist dadurch Platz für den Kandidaten, der sich schon in Paderborn wähnte, auf dessen Platz nun jemand rückt, der lieber dort als in Saarbrücken studiert usw. Darum müssen die Unis die Studiengänge „überbuchen“. Zum Semesterstart merken sie dann oft, dass sie sich geirrt haben: Das „Annahmeverhalten“ war besser als geschätzt. Dann haben mehr Studierende eine Zusage bekommen als Plätze da sind. Es wird voll. Die Software, die dieses Problem bundesweit lösen sollte, ist wegen technischer Probleme aber nicht in Sicht.

TU-Pressesprecherin Terp verbindet zum Handy des TU-Präsidenten. „Die Politiker haben sich um Vorsorge bemüht“, erklärt Jörg Steinbach dem Tagesspiegel. Aber sie bauen eben auch auf den „Phantasiefaktor“: Die Universitäten werden sich schon was einfallen lassen. Kinos mieten, Tutoren einstellen. Darum schreibt Stefanie Terp über ihre Pressemitteilung auch die Zeilen: „Rekord bei neuen Studierenden. TU Berlin ist gut auf das gestiegene Interesse vorbereitet.“

Zum Beispiel die Studienberatung. Ihre Leiterin Claudia Cifire sortiert ständig neue Infobroschüren in die Regale auf dem Gang. Glücklicherweise hat die TU eine Hausdruckerei. Da kann sie ständig „bedarfsgerecht“ nachdrucken, sagt Cifire. Es sind eher die vielen Fragen aus dem doppelten Abiturjahrgang 2012 in Berlin, die die Beratung in ein paar Monaten lahm legen könnten. Darum hat die TU die Inforeihe „Alles doppelt“ schon jetzt gestartet, um „Standardanliegen früh abzuräumen“, sagt Cifire: „Leider kümmern sich die Leute aber erst spät. Die Freiheit ist für die Abiturienten zum Greifen nah. Da wollen sie natürlich nicht sofort wieder unter das Joch.“

Nachdem Michael Winteroll die Erstsemester im Audimax verabschiedet hat, strömen sie jetzt in die Halle vor den TU-Shop. Dort können Fans TU-Socken kaufen. Die Verkäuferin freut sich zwar schon auf den Kundenandrang zum Semesterstart. Der Lärmpegel vor dem Laden sei aber wegen der vielen neuen Studierenden höher als je zuvor und „ganz extrem“: „Man versteht sein eigenes Wort nicht.“

Ganz extrem? Die für Lehre zuständigen Vizepräsidenten der Berliner Unis klingen am Telefon so, als würde sie das Thema schläfrig machen. „Nichts Signifikantes“ ist an der Humboldt-Universität zu spüren, sagt Michael Kämper-van den Boogaart gelangweilt. Die Experten hätten die Folgen der Aussetzung der Wehrpflicht wohl überschätzt. „Alles auf Vorjahrsniveau“ – auch Michael Bongardt (FU) klingt so, als sei sein Blutdruck niedrig. Spektakuläre Studierendenberge kann auch Michael Heine, Präsident von Berlins größter Fachhochschule, der HTW, nicht sehen: „Klar ist es voller.“ Aber das Personal wurde um 25 Prozent aufgestockt, neue Flächen gemietet. Kein Chaos, nirgends. Der Zuwachs wird schließlich aus dem Hochschulpakt von Bund und Ländern finanziert. Und die Hochschulen haben den Numerus Clausus. Wie viele draußen auch drängeln, es kommen doch nur einige rein.

Sind es aber mehr als sonst? „Proppenvoll“ war es bei der Erstsemesterbegrüßung der Historiker an der HU, sagt Institutsdirektor Michael Wildt. 150 statt wie sonst 100 Anfänger würden die Historiker aufnehmen. Und die Wirtschaftswissenschaftler an der FU fahren eine 20-prozentige „Überlast“, wie Studiendekan Jochen Hundsdoerfer berichtet. Die Professoren müssten „deutlich mehr“ Prüfungen abnehmen, die Lehrbeauftragten seien ja nicht prüfungsberechtigt. Und wie die Studierenden später im Master unterkommen sollen, sei ein Rätsel.

Der Master! HU-Vizepräsident Kämper-van den Boogaart ist plötzlich hellwach. Ja, da wird es noch Probleme geben! „Alles konzentriert sich jetzt auf den Bachelor, aber warten Sie mal ab, im Master wird es sich verschärfen.“ Natürlich, „oxfordartige“ Betreuungsrelationen in Spezialdisziplinen gibt es. Aber die Lehrer-Master sind schon überfüllt. Und da viele Länder Bachelor und Master erst später eingeführt haben, werden erst demnächst massenhaft auswärtige Bewerber auf die Plätze an der HU aus sein. Darauf ist die Politik nicht vorbereitet.

Auf einer Bank vor der Studienberatung der TU sitzt Lisa Kramer, 20. Sie war nach dem Abi ein Jahr als Au-pair in den USA. Die Anmeldefristen an den deutschen Universitäten hat sie darüber vergessen. So blieb noch Elektrotechnik an der TU, das zulassungsfrei ist. Kramer ist nicht gerade begeistert. Ihr Vater hat das Fach studiert und kümmert sich jetzt um Schaltschränke auf Baustellen. Lisa Kramer hätte lieber Psychologie studiert. Aber mit 2,5 im Abi hätte das sowieso nicht geklappt. Nun hofft sie, dass Elektrotechnik besser ist als gedacht. Wenn es gar nicht geht, will sie sich im gehobenen Dienst der Polizei bewerben.

Nicht jeder muss studieren, hat der Unions-Abgeordnete Albert Rupprecht gerade erklärt. Eine Ausbildung ist auch nicht zu verachten. Studienberater Winteroll sieht das eigentlich auch so. Nachdem er die Erstsemester entlassen hat, sitzt er jetzt in einem Sessel in der Studienberatung und klingt viel weniger beschwingt als eben noch: „Leider ist eine Lehrstelle aber noch schwerer zu bekommen als ein Studienplatz“, sagt er. Also doch studieren. Dabei landen immer mehr im falschen Fach. Die Industrie wirbt seit Jahren unter Schülern, Naturwissenschaften und Technik zu studieren. Da kommt mancher mit einer Drei in Mathe ins Physikstudium. „Das kann gut gehen, geht aber nicht immer gut“, sagt Winteroll. Und was, wenn der Ingenieurmangel eigentlich nur bei Firmen existiert, die 70 Stunden in der Woche arbeiten lassen und mies zahlen? Oder wenn die Industrie jetzt viel mehr Ingenieure bestellt, als sie später wirklich braucht?

Mit den „Erstis“ im Audimax hat Winteroll seine dunklen Gedanken natürlich nicht geteilt. Sie sollten sich nicht sorgen, sondern freuen, hat er ihnen zugerufen: „Das wird die beste Zeit Ihres Lebens. Ich wünsche euch viel Spaß!“

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