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Comandante Camila. Das „Time Magazine“ nannte die 23-Jährige eine der 100 wichtigsten Persönlichkeiten der Welt.

© AFP

Studentenproteste: Das Gesicht des Aufstands

Verwegen und eloquent: Chiles Studentenführerin Camila Vallejo mobilisiert Massen. Eine Begegnung in Berlin.

Als vergangenes Jahr die Jugend zwischen Kairo, Madrid, Athen und New York protestierte, da fiel eins auf: Es gab keine Anführer. Die Bewegungen bestanden aus Hunderttausenden Anführern, Hunderttausenden Gesichtern. Dann kam Camila Vallejo.

Im April 2011 war die heute 23-Jährige noch eine unbekannte Geographiestudentin an der Universidad de Chile in Santiago. In den folgenden Monaten aber gingen die chilenischen Studenten gegen das ungerechte Bildungssystem ihres Landes auf die Straße und Vallejo, Präsidentin der Studentenvereinigung ihrer Universität, avancierte zur Wortführerin des Protests. In Umfragen unterstützten 80 Prozent der Chilenen Vallejos Forderung nach Abschaffung von Studiengebühren und öffentlich garantierter, unabhängiger Bildung. Zuletzt folgten eine Million Menschen ihrem Demonstrationsaufruf.

Camila Vallejo wurde ein Medienstar. Sie erhielt zeitweise 300 Interviewanfragen pro Tag, saß in Talkshows, stand auf Konzertbühnen und sprach stets frei und ohne den Eindruck zu hinterlassen, sie strebe nach persönlicher Aufmerksamkeit. Der weltweite Protest hatte plötzlich ein Gesicht: Vallejos Foto schmückte die Titelseite der „Zeit“, das „Time Magazine“ nannte sie einen der 100 wichtigsten Menschen der Erde, und die Leser des britischen „Guardian“ wählten sie mit großer Mehrheit zur „Person des Jahres“. In keiner Beschreibung fehlte der Hinweis auf Vallejos Attraktivität, ihren Nasenring und ihre leicht verwegene Schönheit, die sie zur idealen Gegenspielerin des chilenischen Präsidenten Sebastián Piñera machte, eines 52-jährigen Unternehmers mit Milliardenvermögen und neoliberaler Agenda, der oft mit Silvio Berlusconi verglichen wird.

Zurzeit sind die Proteste in Chile wegen der Sommerferien ausgesetzt, und Vallejo befindet sich auf einer Informationsreise durch Europa. Die führt sie auch nach Berlin, in die graukargen Räume der Rosa-Luxemburg-Stiftung im Friedrichshainer Verlagshaus des „Neuen Deutschland“. Vallejo präsentiert sich als überzeugte und überzeugende Frau, die eloquent aber zurückhaltend die Ziele der Studenten erläutert. Sie trägt Jeans, einen fliederfarbenen Pullover und die langen dunklen Haare zum lockeren Zopf geflochten. Und sie lehnt es ab, alleine interviewt zu werden. Man sei schließlich als Kollektiv angereist. Demonstrativ setzt sich Vallejo zwischen einen Funktionär des chilenischen Gewerkschaftsverbands und die ebenfalls blutjunge Generalsekretärin der Kommunistischen Jugend Chiles, der auch Vallejo angehört. Und auch in Berlin ist das Medieninteresse groß. Denn wann konnte man zuletzt eine Studentenführerin treffen, die ein ganzes Land in Atem hält?

Dabei ist Vallejo streng genommen gar nicht mehr der Kopf der chilenischen Studenten. Im Dezember verlor sie die Wahl zur Sprecherin an ihrer Universität gegen einen Konkurrenten aus dem radikalen Lager. Dieser lehnt im Gegensatz zu ihr Gespräche mit der Regierung ab, Vallejo ist nun seine Stellvertreterin. Dennoch wird sie in Chile weiterhin als die Stimme der sozialen Protestbewegung wahrgenommen, und es wird wild über ihre politische Zukunft spekuliert.

Vallejos politisches Engagement hat auch mit ihrer Herkunft zu tun. Ihre Eltern waren als Kommunisten im Widerstand gegen die neoliberale Pinochet-Diktatur, die 1990 endete. „Ich gehöre zur ersten Generation, die die Repression nicht mehr erlebt hat“, sagt Vallejo. „Daher fürchten wir uns nicht mehr vor dem Staat!“ Das ist natürlich kühn, weil die Regierung die Studenten niederknüppeln und zu Hunderten festnehmen lässt. Ein Student starb durch eine Polizeikugel, Vallejo selbst wurde von Polizisten in einen Hinterhalt gelockt und mit Tränengas beschossen. Nun hat Präsident Piñera drei Jahre Haft für Universitätsbesetzer gefordert. „Die Gesellschaft hat sich seit der Diktatur verändert“, urteilt Vallejo, „manche Politiker nicht“.

Der Kontext, in dem die Studentenproteste binnen weniger Monate zu einer Massenbewegung anwachsen konnten, ist das starke Wirtschaftswachstum Chiles, von dem aber nur die Reichen profitiert haben. Das Leben für die Mittelschicht ist hingegen immer teurer geworden. Das zeigt sich besonders im Bildungssystem, das noch aus der Diktatur stammt: Chile hat nach den USA die zweitteuersten Privatunis Amerikas sowie schlechte öffentliche Hochschulen, die hohe Studiengebühren einfordern. Laut einer OECD-Studie muss eine chilenische Durchschnittsfamilie heute 40 Prozent ihres Einkommens für die Ausbildung eines Kindes aufwenden. Chile ist damit das OECD-Land, in dem die Studenten am meisten für ihre Hochschulen zahlen. Der Staat gibt hingegen nur 0,9 Prozent des Bruttoinlandsprodukts für Bildung aus (in Deutschland sind es knapp fünf Prozent). Vier von fünf chilenischen Familien verschulden sich daher über Jahrzehnte hinaus. Gleichzeitig schotten die Eliten ihre Kinder in Privatunis ab. Für die Armen ist es wiederum nur noch in Peru schwieriger, Zugang zu Hochschulen zu erhalten. Nicht grundlos bezeichnet Vallejo das chilenische Bildungssystem daher als Klassensystem.

Die chilenischen Studenten haben zwei Bildungsminister zu Fall gebracht und die Regierung in eine schwere Krise gestürzt. Doch auf ihre Hauptforderung nach kostenlosen Hochschulen antwortete Präsident Piñera, Sohn einer der reichsten Familien Lateinamerikas: „Im Leben gibt’s nichts umsonst.“ Es ist also kein Wunder, dass Piñera zuletzt Zustimmungsraten von 18 Prozent hatte, während 68 Prozent der Chilenen Camila Vallejo gut finden.

Fragen zu ihrer Popularität beantwortet Vallejo dialektisch. Auf der einen Seite sei das mediale Interesse an ihr von Vorteil, weil eine Person die Ziele der Bewegung klarer formulieren könne. Auf der anderen Seite aber sei sie als Person auch leichter „zu zerstören“. Bisher hat Vallejo wenig Angriffsfläche geboten. Während sie in Europa „Comandante Camila“ getauft wurde, taten sich die chilenischen Medien mit sexistisch-paternalistischen Kommentaren hervor. Auch Morddrohungen hat Vallejo schon erhalten. Es scheint sie nicht zu berühren. Mit Genugtuung spricht sie davon, dass Chile nicht mehr wiederzuerkennen sei. „Es herrschte kollektive Angst vor Armut, Arbeitslosigkeit und Einsamkeit. Alle schwiegen. Jetzt haben die Chilenen wieder Mut.“

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