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Thomas Hundley steht mit seiner Mutter und seiner Schwester auf einer Wiese in seinem Heimatort.

© privat

Studiengebühren-Krise in den USA: Thomas muss in Woodcrest bleiben

Viele Amerikaner sind von den Studiengebühren überfordert. US-Präsident Barack Obama macht Druck, will ein neues Ranking nach der Gebühren- und Schuldenhöhe, doch die Unis bleiben gelassen.

Von Anna Sauerbrey

Thomas Hundley sollte eigentlich nicht hier sein. Anfang September hat an Universitäten überall in Amerika das Wintersemester begonnen. An Thomas’ Uni, Howard, einer kleinen, aber traditionsreichen Privatschule in Washington D.C., ist gerade die Einführungswoche zu Ende gegangen. „Die Homecoming-Wochen sind das Beste“, sagt der 23-Jährige. „Es gibt viele Partys und Veranstaltungen.“ Doch statt sein Wohnheimzimmer einzuräumen, sitzt Thomas auf einer Couch im Souterrain eines kleinen Hauses in Woodcrest, New Jersey. Thomas kann die Studiengebühren nicht bezahlen, wieder nicht.

Seit einem Jahr schon setzt er sein Studium aus. Seiner Mutter, in deren Namen ein großer Teil seines Studentenkredits läuft, wurde eine weitere Zahlung verweigert. Inzwischen studiert auch Thomas’ jüngere Schwester, deshalb habe die Familie ihren Kreditrahmen nun ausgeschöpft, entschied das Bildungsministerium. Thomas Hundley musste in Woodcrest bleiben.

Noch nie war ein College-Abschluss in den USA so teuer wie heute. In den letzten drei Jahrzehnten sind nach Angaben des National Center for Education Studies, einer Abteilung des Bildungsministeriums, die Kosten für ein vierjähriges Studium um 250 Prozent gestiegen, allein im letzten Jahrzehnt waren es 42 Prozent. Beinahe jedes Jahr schlagen die Universitäten wieder ein paar Prozent auf die Studiengebühren auf.

Auch in Howard stiegen sie, allein im akademischen Jahr 2012/2013 um 12 Prozent, auf 21 450 Dollar pro Jahr für einen Bachelor-Studenten. Hinzu kommen rund 10 000 Dollar für ein Mehrbettzimmer in einem Studentenwohnheim. „Ohne Essen“, betont Thomas. Im Schnitt zahlen Studenten an einer staatlichen Uni 8600, an einer Privatuni 26 000 Dollar pro Jahr ohne Unterbringung.

In der Folge wachsen auch die Schulden, mit denen amerikanische College-Absolventen ihre Hochschulen verlassen, im Durchschnitt sind es heute nach Angaben des Weißen Hauses 26 000 Dollar. Amerikas Absolventen brauchen immer länger, um diese Beträge abzustottern. Laut einer Studie der amerikanischen Zentralbank zahlten 2010 45 Prozent aller amerikanischen Haushalte noch Studienkredite ab. Auch unter Familien, in denen der Hauptverdiener schon über 45 ist, war der Anteil noch erheblich.

Obama spricht von einer Schuldenkrise unter Studenten

Das Center for American Progress, eine liberale Denkfabrik, malte im Frühjahr in einer Expertise ein düsteres Bild der volkswirtschaftlichen Folgen. Es prognostizierte immer spätere Familiengründungen, weniger Investitionen in Wohneigentum und geringere private Rücklagen für das Alter. Auch Barack Obama wählte vor einigen Wochen auf seiner College-Rundreise drastische Worte, um das Problem zu beschreiben. Er sprach von einer „Schuldenkrise“ unter Studenten und von einer „Krise“ der Bezahlbarkeit höherer Bildung.

Bevor er eine Zwangspause einlegen musste, war Thomas Hundley in Politikwissenschaft eingeschrieben. Das sei eine gute Vorbereitung, um später Jura zu studieren, hatte man ihm geraten. Im Nebenfach belegte er Altertumswissenschaften und entdeckte eine Leidenschaft für die griechischen Klassiker. Ein Professor legte ihm nahe, zu überlegen, das Hauptfach zu wechseln. Aber Thomas beschloss, bei seinem Plan zu bleiben. Als Anwalt würde er seine Schulden leichter zurückzahlen können.

Thomas Hundley jobbt in einer Anwaltskanzlei, sparen kann er fast nichts

Thomas ist ein smarter, eher ruhiger Typ. Er lächelt viel. „Ich versuche, es nicht zu schwer zu nehmen, das bringt ja auch nichts“, sagt er und meint es. Doch bis zu dieser Einstellung war es ein langer Weg. Als er erfuhr, dass seine Mutter kein Geld mehr bekommen würde, war er zunächst furchtbar wütend, erzählt er. Die Familie hatte es zuletzt nicht leicht. Thomas’ Vater ist vor einigen Jahren an einem Herzleiden gestorben. Die Mutter arbeitet im Krankenhaus einer Justizvollzugsanstalt und muss die Familie mit ihrem kleinen Gehalt allein durchbringen. „Ich habe das einfach nicht verstanden“, sagt Thomas. „Es macht doch keinen Sinn! Ich war ja fast fertig.“ Es wäre sein „senior year“ gewesen, das letzte Jahr vor dem Abschluss.

Ein Job hat ihm geholfen, mit dem Frust fertig zu werden. Thomas arbeitet als Assistent in einer Rechtsanwaltskanzlei. Er steht jetzt jeden Morgen um sechs Uhr auf, um acht ist er im Büro, eine Stunde früher als nötig. Weil er kein Auto hat, nimmt seine Mutter ihn auf dem Weg zu ihrer Arbeit mit. Die Kanzlei ist auf Klagen von Sozialhilfeempfängern spezialisiert. Bis um fünf Uhr nachmittags hilft Thomas Klienten dabei, bei Behörden die nötigen Unterlagen für Anträge und Beschwerden zusammenzubekommen. Die Kanzlei zahlt gut, sagt Thomas, sparen kann er allerdings fast nichts. Das meiste fließt in die Haushaltskasse, für Rechnungen und Ratenzahlungen.

Die Gebühren fließen in PR und Verwaltung, weniger in die Lehre

Wohin das Geld aus den steigenden Studiengebühren fließt, ist unklar. Thomas’ Universität Howard nannte bei der Gebührenerhöhung im Herbst 2012/2013 drei Gründe: Eine nachhaltige Konsolidierung ihrer Finanzen, Investitionen in Personal und Infrastruktur und „eine Angleichung der Preise an den Marktwert der Universität“. Aus der Sicht von Richard Vedder ist Letzteres der Hauptgrund für die Verteuerung der Colleges. Vedder war Professor für Wirtschaftsgeschichte an der Universität Ohio. Nach seiner Pensionierung gründete er ein kleines, privates Institut für Bildungsforschung, das unter anderem das Universitätsranking des Forbes-Magazins verantwortet.

Vedders These: Höhere Bildung ist in den USA ein Markt – und bei steigender Nachfrage und gleichbleibendem Angebot steigen eben die Preise. Das Geld fließe weniger in die Lehre als vielmehr in die Verwaltungsapparate: Harvard etwa beschäftigt 24 Personen allein in seiner Abteilung für Public Relations, mehr als viele Dax-Unternehmen. Auch in Technik und repräsentative Gebäude werde investiert, vieles davon ist Luxus, findet Vedder.

Allerdings macht der Bildungsforscher die Regierung mitverantwortlich für den Anstieg. Seit Jahren stellen Bildungspolitiker eine College-Ausbildung als wichtigste Voraussetzung für den Erfolg auf dem Arbeitsmarkt dar. Die Zahlen geben ihnen recht: College-Absolventen finden leichter einen Job.

"Wir haben eine Million Verkäufer mit College-Abschluss"

Doch nach Ansicht von Vedder gibt es inzwischen mehr Studierte, als der Markt braucht. „Immer mehr Absolventen sind daher gezwungen, einfache Jobs anzunehmen. Wir haben jetzt eine Million Verkäufer mit einem College-Abschluss“, sagt er. Seiner Meinung nach müsste das Land ein Berufsbildungssystem nach deutschem Vorbild aufbauen, um Alternativen zur College-Ausbildung zu schaffen, die weniger Zeit und Geld kosten. Außerdem habe die Regierung zu lange auf die steigenden Gebühren mit immer mehr Förderprogrammen reagiert. Erst unter dem Druck der Finanzkrise wurde hier gestrichen, dennoch fließen noch immer fast 200 Milliarden Dollar in die Subventionierung von Studiengebühren.

An diesem Punkt will auch die Obama-Regierung ansetzen. In seiner Rede zur studentischen „Schuldenkrise“ an der Universität in Buffalo kündigte der Präsident eine „große Reform“ an. Unter anderem soll ein neues Ranking geschaffen werden, Kriterien sollen die durchschnittlichen Studiengebühren einer Universität sein, die durchschnittlichen Schulden ihrer Absolventen und der Anteil ihrer Studenten aus weniger wohlhabenden Familien. Hochschulen, die gut abschneiden, sollen bei Regierungszuschüssen bevorzugt werden.

Obamas Reform der Hochschulfinanzierung kann bestenfalls 2018 greifen

Die Universitäten reagieren verhalten auf die Buffalo-Rede. Ein Harvard-Sprecher preist auf die Frage, ob seine Universität ebenfalls eine Schuldenkrise sehe, das „revolutionäre“ Hilfsprogramm, das man für Studenten der Unter- und Mittelschicht unterhalte. Eine Sprecherin der University of Chicago schreibt, man freue sich darauf „mit dem Weißen Haus und der Legislative zusammenzuarbeiten“, um die Vorschläge weiterzuentwickeln. Eile hat das nicht. Schon die Entwicklung der Kriterien soll nach Ankündigung des Weißen Hauses bis 2015 dauern, die Umverteilung der Gelder soll erst ab 2018 greifen – alles unter der Prämisse, dass Obama sich die Unterstützung des republikanischen Abgeordnetenhauses sichern kann.

Vielleicht, so hofft Richard Vedder, kommt der Markt der Regierung zuvor. Die Schmerzgrenze scheint erreicht zu sein. Das zeigen Zahlen des nationalen Statistikamtes. 2012 sind zum ersten Mal seit der Jahrtausendwende die Einschreibungen gesunken, um rund drei Prozent. Setzt sich der Trend fort, müssten die Universitäten um Studierende konkurrieren – und die Preise senken.

Thomas Hundley hofft, sein Studium im Januar fortsetzen zu können. Während er im Souterrain das Interview gibt, tagt oben am Küchentisch ein Strategiekomitee aus Freunden und Verwandten bei Crackern und Käse. Die Familie hat eine Fundraising-Kampagne gestartet, um die rund 25 000 Dollar zusammenzubekommen, die Thomas fehlen, um seinen Abschluss zu machen. Es läuft gut. Nachdem eine Regionalzeitung über ihn berichtet hatte, riefen wildfremde Leute an und boten Unterstützung an. „Ich muss das einfach fertig machen“, sagt Thomas. „Ich muss.“

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