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Nach der Kapitulation der polnischen Heimatarmee werden Teilnehmer des Warschauer Aufstands durch die Straßen der Stadt getrieben.

© akg-images / East News

Tagebuch einer Warschauer Journalistin, 1939-44: In der von barbarischen Horden zerstörten Stadt

Dokumente aus dem Zweiten Weltkrieg: Die Aufzeichnungen Aurelia Wyleżyńskas aus dem besetzten Polen bieten Einblicke in die zerrissene polnische Gesellschaft.

Es sind rund tausend vergilbte Blätter in Maschinenschrift, viele von ihnen mit Wasserschäden oder Brandflecken, dazwischen Zettel voller handschriftlicher Notizen. Bei den Aufzeichnungen der polnischen Journalistin und Schriftstellerin Aurelia Wyleżyńska aus Warschau unter deutscher Besatzung handelt es sich um historische Fundstücke mit literarischem Wert.

Vom Überfall Hitlers auf Polen erfuhr die angesehene Autorin am 1. September 1939 während ihrer Ferien in einem Künstlerhaus am Ufer des Dniestr, im malerischen Südosten der polnischen Vorkriegsrepublik, der heutigen Westukraine. Sogleich entschloss sie sich, nach Warschau – ihrem Wohnort – zurückzukehren, dort den weiteren Lauf der Dinge zu beobachten und alles aufzuschreiben.

Bis heute blieben die Aufzeichnungen unveröffentlicht, das aber soll sich bald durch eine Warschauer Edition ändern. Einen Großteil der Originale besitzt die Warschauer Nationalbibliothek. Weitere Fragmente lagern an einem anderen Ort der polnischen Hauptstadt, im Staatsarchiv für Neuere Akten.

Am 9. September 1939 stieg Aurelia Wyleżyńska in Lemberg in den Nachtzug nach Warschau und fand freie Plätze im Übermaß. Begehrt war gerade die entgegengesetzte Richtung. In Massen versuchten die Menschen der Hauptstadt zu entkommen, die von den Deutschen bombardiert wurde und gerade noch der Belagerung standhielt.

Bald flüchtete auch die Staatsführung samt Militärs und Beamten Richtung Rumänien. Schließlich überschritt die Rote Armee gemäß dem Hitler-Stalin-Pakt die Grenze im Osten. Polen lag im Würgegriff zweier totalitärer Nachbarstaaten darnieder. Im Stich gelassen von seinen westlichen Verbündeten hatte es keine Chance.

Verzweifelt über die vernichtende Niederlage

„Die Regierung geflüchtet, zwanzig Jahre staatlicher Unabhängigkeit durchgestrichen, das politische System bankrott, das Prestige des Staates dahin“, notiert Aurelia Wyleżyńska. Sie ist verzweifelt über die vernichtende Niederlage ihres Staates. Doch man spürt auch eine Dosis bitterer Genugtuung über das Ende des autoritären, nationalistischen Regimes, das die Nachfolger des 1935 verstorbenen Staatsgründers Józef Piłsudski verantwortet hatten.

Auf den Straßen Warschaus beobachtet die Tagebuchautorin, wie ihre Landsleute angesichts der jammervollen Lage laut und inbrünstig betend auf die Knie gehen. Das hinterlässt bei ihr ungute Gefühle. Frommes Pathos ist ihre Sache nicht.

Porträtbild von Aurelia Wyleżyńska.
Die Journalistin und Schriftstellerin Aurelia Wyleżyńska.

© Abbildung aus dem Buch Aurelia Wyleżyńska, Czarodziejskie Miasto, erschienen 1928, Verlag Dom Książki Polskiej.

Aurelia Wyleżyńska führt ihr Tagebuch knapp fünf Jahre lang bis zu ihrem Tod am 3. August 1944, als sie zu Beginn des Warschauer Aufstands ein Geschoss trifft. Bis dahin liefert sie eine Chronik der deutschen Grausamkeiten gegenüber den Polen: Auflösung von Schulen, Bibliotheken und Theatern, Apartheid in der Straßenbahn und oder im Stadtpark, Razzien auf offener Straße mit anschließender Verschleppung zur Zwangsarbeit, Massenhinrichtungen als Vergeltung selbst geringfügigen Widerstands – am besten öffentlich, am Strang, an der Straßenlaterne.

Unterwegs im Warschauer Ghetto

Wyleżyńskas Tagebuch bietet allerdings viel mehr als die Dokumentation deutscher Gräueltaten, die man zumeist auch aus anderen Quellen kennt. Die Schriftstellerin erkundet als Reporterin mit dem Notizblock die besetzte Stadt, notiert alles, was sie sieht und hört. Sie interessiert sich zum Beispiel für das Selbstgefühl deutscher Soldaten und deren Wahrnehmung ihrer Stadt.

Sie beschreibt das Warenangebot auf dem Schwarzmarkt und lobt die nach wie vor gute Qualität der polnischen Kuchen in den Konditoreien. Nicht ohne den Hinweis, dass gerade diese Qualität Heinrich Himmler zu eben solchen Wutanfällen verleitet habe wie der Widerstand der Polen gegen die Besatzer.

Auch im Warschauer Ghetto, seit Herbst 1940 bewacht und ummauert, ist Aurelia Wyleżyńska unterwegs. Wenn sie für Freunde Medikamente hineinschmuggelt, prägt sie sich das Elend der Eingesperrten ein und hält es in ihren Aufzeichnungen fest.

Władysław Tatarkiewicz: "Entscheidend ist nicht das Schicksal der Juden"

Ganz besonders beschäftigt sie, wie unterschiedlich ihre Mitbürger auf die Besatzungspolitik reagieren. Einige Stimmungslagen, die sie auf der sogenannten „arischen“ Seite Warschaus gewahrt, machen sie tief unglücklich. Sie erkennt eine wachsende Gleichgültigkeit gegenüber den deutschen Verbrechen des Holocaust, mitunter sogar offene Zustimmung.

Es ist ein Thema mit Schattierungen: von der primitiven Genugtuung nationalradikaler Jugendlicher, die sich auf ein katholisches Nachkriegspolen ohne Juden freuen, bis zur Reserviertheit, die sie beim renommierten Philosophen Władysław Tatarkiewicz ausmacht. Entscheidend sei im gegebenen historischen Augenblick, so Tatarkiewicz, die Bewahrung der polnischen Kultur, nicht das Schicksal der Juden. Häufig entlarvt Aurelia Wyleżyńska die bis heute gern beschworene Hilfsbereitschaft und den Heroismus aller Polen im Zweiten Weltkrieg als Mythos.

Die Autorin engagiert sich auch für den polnischen Untergrundstaat. Dieser Staat unterhält mit der sogenannten Heimatarmee ein Heer von bewaffneten Kämpfern, Gerichte, Schulen, Theater, Sportvereine und eine breit gefächerte Presselandschaft – alles konspirativ. Unterstützung erhält der Untergrund von der polnischen Exilregierung in London.

Aurelia Wyleżyńska schreibt für „Nowy Dzień“. Das Blatt gehört der ebenfalls geheim agierenden, im Bildungsbürgertum einflussreichen Demokratischen Partei. Doch gerade in der Untergrundpresse dominiert die nationale Rechte. Sie prangert nicht allein das deutsche Terrorregime an, sondern wettert auch gegen die Gefahr des angeblich jüdischen Bolschewismus.

Risse durch den politischen Untergrund und durch die Familie

Tatsächlich geht ein Riss durch den Untergrundstaat. Er geht auch durch die Familie von Aurelia Wyleżyńska. Ihr Bruder, der das Familiengut in Wielgolas unweit von Warschau führt und so seine Schwestern mit Nahrungsmitteln versorgen kann, sympathisiert mit der nationalen Rechten. Die meisten Angehörigen sehen in Aurelia eher ein Enfant Terrible denn eine bedeutende Vertreterin des polnischen Kulturlebens. Das aber war die Verfasserin des Tagebuchs allemal.

1881 in Podolien, auf dem Gebiet des damaligen Russischen Reiches, zur Welt gekommen, hatte sie als eine der ersten Frauen ein Philosophiestudium an der Jagellonen-Universität Krakau absolviert und preisgekrönte Romane verfasst. Als 1924 ihre langjährige Lebenspartnerschaft mit dem Schriftsteller und zeitweiligen Leiter des polnischen PEN Jan Parandowski in die Brüche ging, zog Aurelia Wyleżyńska als Korrespondentin polnischer Zeitungen und Zeitschriften nach Paris, übersetzte aus dem Französischen und schrieb weitere Romane. 1937 kehrte sie nach Polen zurück.

In ihrem Tagebuch der deutschen Besatzung sah die erfolgreiche Autorin ihr entscheidendes Werk und ein Vermächtnis. „Ich habe beschlossen, die Chronistin dieser von barbarischen Horden zerstörten Stadt zu sein, und ich muss Dokumente sammeln, wo ich nur kann.“ Dieses Vermächtnis wurde bis heute nicht eingelöst.

Im kommunistischen Nachkriegspolen interessierte sich kaum jemand für die Verfasserin. Wenn überhaupt, nahm man sie als literarische Stimme eines untergegangenen bürgerlichen Zeitalters wahr – oder man hatte sie einfach vergessen. Die bereits veröffentlichten Bücher wurden nicht mehr verlegt. Manchem staatlichen Kulturlenker blieb gar verborgen, dass Aurelia Wyleżyńska ihren Tod im Warschauer Aufstand gefunden hatte. Sie vermuteten, sie lebe – im Pariser Exil.

Veröffentlichung zunächst in Polen geplant

Auch von ihrem Tagebuch wussten lange Zeit nur die wenigsten. Irgendwann hatten ihre Schwester Felicja und ein mit Aurelia befreundeter Bibliothekar die von ihnen geretteten Blätter den dafür zuständigen Stellen übergeben. Dort wurden sie erst lange nach der Wende von der Literaturwissenschaftlerin Grażyna Pawlak und dem Historiker Marcin Urynowicz entdeckt.

Die Forscher arbeiten seit Jahren an einer vollständigen und kritischen Ausgabe des Werks. Ihre Mühen gleichen auch angesichts der Kriegsschäden am Manuskript einem Herkulesakt. Dennoch soll das Tagebuch demnächst in einem großen Warschauer Verlag erscheinen. Mehr noch: Hierzulande hat der renommierte Übersetzer Bernhard Hartmann bereits Teile ins Deutsche übertragen und in Zeitschriften publiziert. Nun sucht er nach einem Herausgeber für die deutsche Buchausgabe.

Über 75 Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg könnte der Wunsch der polnischen Autorin nach einer Veröffentlichung ihres im Geheimen angefertigten Opus Magnum doch noch in Erfüllung gehen.

Martin Sander

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