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Aufgezeigt. Noor Masood engagiert sich stark in der Mädchenbildung. Sie setzt auf das Miteinander mit den Eltern.

© Teach for Pakistan

Teach for Pakistan - Bildung gegen Instabilität: „Wir müssen unsere Kinder befreien“

Gewalt und Benachteiligung: In Pakistan ist die Lage der Schulen dramatisch. Noor Masood will das ändern.

Ein Viertel der Sieben- bis 16-Jährigen in Pakistan geht dem UNESCO-Bericht „Bildung für alle“ von 2012 zufolge nicht zur Schule – mit großen regionalen Unterschieden. Im Punjab sind 17 Prozent der Kinder und Jugendlichen betroffen, in Baluschistan 37 Prozent. Am schlimmsten ist die Lage von Mädchen aus den ärmsten Familien, im Swat-Distrikt besucht nur eines von drei Mädchen die Schule. Zur Schule zu gehen, garantiere aber keineswegs den Zugang zu Bildung, schrieb der pakistanische Bildungsexperte Mosharraf Zaidi im Oktober 2014 in der „New York Times“. Nach dem aktuellen Nationalen Bildungsbericht weist die Hälfte der Zehnjährigen in ihren Muttersprachen oder der Nationalsprache Urdu lediglich die Kenntnisse Sechsjähriger auf, die Ergebnisse für Mathematik sind ähnlich schlecht. Der Zustand der Schulen ist dem Bericht zufolge dramatisch: 51 Prozent der staatlichen Grundschulen haben keinen funktionierenden Stromanschluss, 42 Prozent keine funktionstüchtigen Toiletten.

Noor Masood, ursprünglich Computerspezialistin und Absolventin und Dozentin der Harvard Kennedy School of Government, will das mit der Initiative "Teach for Pakistan" ändern, die sie leitet.

Frau Masood, in kaum einem Land gibt es so viele Kinder wie in Pakistan, die keine Schule besuchen. Zwei Drittel davon sind Mädchen. Was bedeutet das für ihr Land?

Die Welt weiß, dass Pakistan viele Probleme hat, politisch und gesellschaftlich instabil ist. Wir müssen an die Wurzeln der Ursachen für die Instabilität herangehen. Der Hauptgrund ist die soziale Ungleichheit. Und der beste Weg, sie zu überwinden, ist Bildung.

Was können Sie mit ihrem Projekt, Teach for Pakistan, bewirken?

Unser Zugang ist, die besten jungen Talente von den besten Universitäten für zwei Jahre als Klassenlehrer in die am schlechtesten ausgestatteten Schulen zu schicken. Begonnen haben wir 2011, derzeit sind 100 unserer Fellows in Schulen in Karachi und Lahore tätig.

Wie wählen Sie die Schulen aus?

Die Schule muss wirklich benachteiligt sein, ein Kriterium ist ein Schüler-Lehrer-Verhältnis von 200 zu 1. Anderseits verlangen wir, dass eine grundlegende Infrastruktur vorhanden ist: Wände, Türen, ein dichtes Dach. Sonst ist ein geregelter Unterricht nicht möglich. Die Schulleitung muss bereit sein, vom üblichen Schema der reinen Wissensvermittlung abzuweichen. Außer Englisch, Urdu, Mathe und Naturwissenschaften unterrichten unsere Lehrkräfte kritisches Denken und persönliche Entwicklung.

Noor Masood (32) leitet die Organisation Teach for Pakistan, die 2011 gegründet wurde. Unlängst war Masood im Rahmen einer Bildungskonferenz der Bosch-Stiftung in Berlin
Noor Masood (32) leitet die Organisation Teach for Pakistan, die 2011 gegründet wurde. Unlängst war Masood im Rahmen einer Bildungskonferenz der Bosch-Stiftung in Berlin

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Wie überzeugen Sie die Bachelorabsolventen, zwei Jahre lang benachteiligte Kinder zu unterrichten?

Das Problem der Bildungsarmut ist so offensichtlich in Pakistan, dass niemand die Augen davor verschließen kann. Viele junge Leute sagen: Das ist so ungerecht, was kann ich tun? Wir sagen ihnen: Hier hast du 40 Schüler, ändere ihr Leben durch Bildung. Du musst sie von Denkweisen befreien, die sie einschränken. Unsere Kinder denken oft, dass sie nicht erfolgreich sein können. Die Fellows selber lernen, was Pakistan wirklich ausmacht. Dieses Wissen können sie dann nutzen, um einen Wandel zu bewirken.

Wie profitieren die Kinder?

Ein Beispiel: Eine unserer Klassenleiterinnen hatte sich zum Ziel gesetzt, ihre Mädchenklasse vor allem zur Selbstständigkeit zu erziehen. Immer wenn die Mädchen fragten: Wie können wir das schaffen?, antwortete sie: Überlegt doch mal selber. Nach den zwei Jahren blieb der Kontakt bestehen. Einige Monate vor ihrem Bord Exam, der staatlichen Prüfung nach der 10. Klasse, riefen sie wieder an: Was sollen wir tun, wir haben keinen Lehrer, der uns vorbereitet. Dass Lehrkräfte nicht mehr zur Arbeit erscheinen, ist in der Tat ein weit verbreitetes Problem.

Aber diesmal hat die Lehrerin sicher nicht gesagt: Helft euch doch selbst!

Doch, wieder dieselbe Antwort. Und wissen Sie was, die Mädchen haben in ihrem Stadtviertel potenzielle Lehrkräfte angesprochen, sie haben ein Casting veranstaltet und am Ende die Schulleiterin überzeugt, den Sieger einzustellen. Und das in einer streng hierarchischen Gesellschaft wie Pakistan! Was also haben diese Mädchen gelernt: Ich bin ein Mädchen aus einem benachteiligten Stadtteil, aber ich kann es schaffen!

Lernen kann lebensgefährlich sein

Seit dem Fall von Malala Yousafzai, der späteren Friedensnobelpreisträgerin, die 2012 von Taliban in den Kopf geschossen wurde, weiß die Welt auch, dass es in Pakistan nicht reicht, lernen zu wollen. Es kann lebensgefährlich sein, zur Schule zu gehen.

Pakistan ist eine postkoloniale Gesellschaft mit allen negativen Folgen, etwa dadurch, dass Menschen verschiedenster ethnischer Herkunft zu einer „Nation“ zusammengeführt wurden. Darunter leidet Pakistan bis heute. Was für ein Kind stimmt, ist für ein anderes total falsch. Malala hat die Mädchenbildung in der ganzen Welt auf die Agenda gesetzt. Aber gleichzeitig muss man wissen: Pakistan hat multiple Realitäten für Millionen von Mädchen in einer multiplen Gesellschaft.

Ende 2014 wurden in Peshawar 130 Schüler und Lehrer ermordet. Der Staat hat militärisch geantwortet, mit Gegenattacken und erhöhten Sicherheitsmaßnahmen. Wie schätzen Sie das staatliche Vorgehen gegen die religiös begründete Gewalt ein?

Es ist sehr schwierig, eine Antwort zu finden, die der komplexen Lage in Pakistan gerecht wird. Daher möchte ich über das Vorgehen der Regierung nichts sagen.

Ein Schwerpunkt von Teach for Pakistan ist die Mädchenarbeit. Was tun Sie konkret?

Wir arbeiten mit Familien, die aus dem Norden nach Karachi zugewandert sind. Zuerst wollen wir den Mädchen helfen, zu träumen und ihre Träume wahr zu machen. Wunderbar, alle strengen sich in der Schule sehr an, entwickeln Vorstellungen für ihre Zukunft. Dann gehen wir auf die Mütter zu, fragen sie, was sie von Mädchenbildung halten. Die Mütter haben oft kaum Schulbildung, kommen aus sehr traditionellen Familien. Die Mädchen, sagen sie, sollen gut ausgebildet werden und einmal ein glückliches Leben führen. Danach sprechen wir mit den Vätern – mit demselben Ergebnis. Und auf einmal gibt es zumindest in diesen Familien kein Problem mehr mit der Mädchenbildung.

Sie erreichen allerdings nur einen kleinen Teil der Gesellschaft.

Diese Mütter und Väter sind stolz auf ihre selbstbewussten Mädchen. Sie gehen als Multiplikatoren auf andere Familien zu und eröffnen dort neue Zugänge zur Bildung. Viele der von uns beobachteten Beschränkungen in der pakistanischen Gesellschaft sind darin begründet, dass wir über andere urteilen und nicht zuhören. Aber im Dialog, im respektvollen Miteinander mit den Eltern, wird alles möglich.

Bevor Sie in den USA studiert haben, sind Sie durch Pakistan gereist, um Schulen in verschiedenen Teilen des Landes zu erforschen. Was haben Sie herausgefunden?

Das Schulsystem ist wirklich nicht gut. Selbst für mich als Pakistanerin war aber überraschend, wie unterschiedlich die Lebenswirklichkeiten sind. Baluschistan zum Beispiel ist die größte Provinz, aber extrem dünn besiedelt. Sie kommen an ein Dorf mit hundert Leuten, dann fahren sie drei Stunden durchs Nichts bis zum nächsten Dorf. Wo stellt man da Schulen hin, um viele Kinder zu erreichen? Anders ist es im dicht besiedelten Süden des Punjabs. Die Gesellschaft dort ist stark durch verwandtschaftliche Bindungen geprägt. Von dem Clan, dem man angehört, hängt es ab, ob man Zugang zu Ressourcen hat.

Sie haben in Harvard studiert und gelehrt. Auch in den USA gibt es Diskussionen über die Ungerechtigkeiten des Bildungssystems, ebenso in Deutschland. Können wir voneinander lernen oder sind die Unterschiede so groß, dass die Suche nach globalen Lösungsansätzen nicht sinnvoll ist?

Natürlich können wir Probleme teilen, genauso wie die Lösungen! Egal ob in den USA oder in Pakistan: In schlechten Schulen unterrichten Lehrer ohne Engagement, der Lernfortschritt der Kinder scheint ihnen egal, Klassenzimmer sind nicht als Lernort geplant. Auf die Lehrkräfte kommt es überall an: Wenn wir deren Fähigkeiten verbessern, die Kinder anzuleiten, und zwar fachlich wie gesellschaftlich, ist viel gewonnen. Lehrer müssen die Gemeinschaft positiv verändern wollen, Agenten der Zukunft werden.

Noor Masood (32) leitet die Organisation Teach for Pakistan, die 2011 gegründet wurde. Unlängst war Masood im Rahmen einer Bildungskonferenz der Bosch-Stiftung in Berlin.

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