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Mullig. Nacktmulle sind extrem soziale Tiere.

©  Roland Gockel/MDC

Tierversuche: Berliner Nacktmullforscher am Pranger

Der Verein Ärzte gegen Tierversuche wirft einem Berliner Forscher "grausame" Experimente mit Nacktmullen vor. Dafür soll er einen Schmähpreis bekommen.

Es ist offensichtlich angenehm kuschelig in der etwa eimergroßen Höhle aus Plastik, in der ein Dutzend Nacktmulle auf-, über-, unter- und nebeneinander schläft. Ebenso augenfällig ist, dass die Hüter der insgesamt neun Nacktmull-Kolonien am Max-Delbrück-Centrum für Molekulare Medizin in Berlin Buch (MDC) wohl Fans der Fernsehserie „Game of Thrones“ sind. Denn auf einer der Nacktmull-Tiefburgen prangt das Wappen des „House of Stark“, die benachbarte Schlafstatt hingegen gehört der „Barathon“-Dynastie.

In der Tat leben Nacktmulle in streng hierarchischen sozialen Gruppen mit einer Königin als Oberhaupt und Arbeitern, Soldaten und anderen „Kasten“ als Untertanen. Mittelalterliches Schlachtgemetzel gibt es im Keller des Berliner Forschungszentrums allerdings nicht zu sehen. Bei konstant 32 Grad kriechen die Nacktmulle, die live wesentlich putziger aussehen als auf Fotos, gemütlich und piepsend durch transparente Plastikrohre, die die „Häuser“ miteinander verbinden – fast so wie in den weitverzweigten unterirdischen Gängen in ihrem natürlichen, sandigen Lebensraum im ostafrikanischen Somalia, Kenia und Äthiopien. Dort, wie auch im Berliner Forschungskeller, schlafen die Tiere stets zusammen in Knäueln aus Körpern.

Die Kunst, ohne Sauerstoff zu überleben

Das brachte Forscher wie Gary Lewin und seinen Kollegen Thomas Park von der Universität Illinois in Chicago ins Grübeln: Wenn in den ohnehin sauerstoffarmen, metertiefen Gängen Dutzende Tiere übereinander liegen, warum ersticken dann die untersten nicht? „In der Tat wirken die, die ganz unten schlafen, zunächst wie tot und brauchen eine Weile länger, um wieder aufzuwachen“, sagt Lewin. Wie überstehen die Tiere einen Sauerstoffentzug, der für Menschen tödlich wäre? Um diese Frage zu klären und womöglich daraus zu lernen, wie Patienten mit Herzinfarkten, Schlaganfällen oder sonstigen Fällen von Sauerstoffmangel geholfen werden könnte, machten die Forscher ein naheliegendes Experiment. Sie testeten, wie lange Nacktmulle ohne Sauerstoff überleben können und was dabei in den Zellen der Tiere passiert.

Das legen Aktivisten des Vereins „Ärzte gegen Tierversuche“ nun Gary Lewin persönlich zur Last und wollen ihm am Donnerstag das „Herz aus Stein“ verleihen – für das „schlimmste Tierexperiment des Jahres“. In der Tat wurden die Tiere für das Experiment in Behälter mit Atemluft ohne Sauerstoff gesetzt. „Die Tiere merken das erst einmal gar nicht, sondern schlafen nach etwa 40 Sekunden einfach ein“, sagt Lewin. Anders als Mäuse, deren Herz bereits nach weniger als einer Minute stehen bleibt, arbeiteten Hirn und Herz der Nacktmulle hingegen ruhig weiter. Und nach bis zu 18 Minuten ohne Sauerstoff standen die Tiere einfach wieder auf. „Sie zeigten keine Bewegungsprobleme, Anzeichen von Stress oder sonstige Schäden“, sagt Lewin. Entzogen die Forscher den Sauerstoff für 30 Minuten, wachten die Tiere, insgesamt drei, allerdings nicht mehr auf. Ein weiteres Tier kam nach 24 Minuten zwar wieder zu sich, hatte aber schlaganfallartige Schäden davongetragen und wurde getötet.

Im Schlaf angepasst

Haben diese Tiere gelitten? „In der freien Wildbahn ist Sauerstoffentzug bei Nacktmullen etwas Alltägliches“, sagt Lewin. In den langen Gängen fällt der Sauerstoffanteil von normalerweise 20 Prozent oft auf unter fünf Prozent. Während bei Menschen und Mäusen schon nach kurzer Zeit Atemnot und die dazugehörigen Panikreaktionen einsetzen, reagieren Nacktmulle mit gelassener Schläfrigkeit. „Sie haben sich in 30 Millionen Jahren Evolution angepasst und zwar mit einem Genom, das dem der Maus und des Menschen sehr ähnlich ist.“ Die Forscher fanden heraus, dass die Tiere ihren Stoffwechsel umstellen. Nicht mehr nur der Blutzucker Glukose, sondern große Mengen Fruktose und Saccharose fließen bei Sauerstoffmangel durch die Gefäße. Ein spezielles Transportmolekül schafft den Spezialzucker in die Zellen.

Auch Menschen und andere Säugetiere nutzen Fruktose, jedoch nicht in solchen Mengen und nicht in allen Geweben. Darüber hinaus lernten die Forscher, dass Nacktmulle bei Sauerstoffmangel die Kraftwerke in ihren Zellen, die Mitochondrien, abschalten können. Bei Menschen und Mäusen laufen diese Energiefabriken ohne Sauerstoff gewissermaßen heiß. „Das zerstört die Maschinerie“, sagt Lewin. Der Nacktmull hingegen drückt gewissermaßen auf den „Aus“-Knopf. Das geschieht sekundenschnell. „Es ist ein Rätsel, wie sie das machen, das wollen wir lösen.“ Die Chance ist gut, dass im vergleichsweise ähnlichen Erbgut des Menschen ein solcher Mechanismus schlummert, der, wenn er medikamentös aktiviert oder unterstützt würde, den Folgen von Herzinfarkten oder Schlaganfällen entgegen wirken könnte, sagt Lewin. „Der Nacktmull hat nichts Neues erfunden, er nutzt nur lange existente Mechanismen und hat sie optimiert.“

Ablehnung "jeglicher Tierversuche"

Die Tierschutzorganisation, die „jegliche Tierversuche aus ethischen und wissenschaftlichen Gründen ablehnt“, also auch Experimente an Fruchtfliegen und Fadenwürmern, hält all das nur für „vorgeschobene Gründe“. Es handele sich um „Neugierforschung ohne jeglichen Bezug zum kranken Menschen“. Zwar lehne die Organisation Grundlagenforschung (und auch daraus hervorgegangene Medikamente) nicht generell ab, wohl aber „Grundlagenforschung an Tieren mit vorgeblichem Nutzen für den Menschen“, antwortete Claus Kronaus, Geschäftsführer des Vereins, auf Anfrage des Tagesspiegel. „Tierversuche schüren Hoffnungen für (tod-)kranke Menschen, die sich mit Tierversuchen nicht erfüllen lassen“. Ergebnisse von Tierversuchen ließen sich nicht auf den Menschen übertragen.

„Zu behaupten, dass es keine Übertragbarkeit gäbe, ist absurd“, sagt Stefan Treue von der Universität Göttingen, der sich für die Initiative „Tierversuche verstehen“ der Allianz der Wissenschaftsorganisationen engagiert. „Mensch und Tier sind verwandt, das heißt, je näher die Tierart dem Menschen ist, umso ähnlicher ist auch die Physiologie und damit wird auch die Übertragbarkeit immer besser.“ Natürlich gebe es keine vollständige Übertragbarkeit, so wie sich schon Daten von Studien mit Männern nicht eins zu eins auf Frauen oder Kinder übertragen lassen. „Aber wir wissen inzwischen sehr viel über die Physiologie von Versuchstieren und was sich übertragen lässt und was nicht“, sagt Treue.

Ein Zufallsfund führt dreißig Jahre später zu einer Schmerztherapie

Obwohl die sich für Tierschutz einsetzenden Ärzte keinen klinischen Zusammenhang sehen, will die Abteilung Raumfahrtmedizin des Deutschen Instituts für Luft und Raumfahrt (DLR) mit Lewin künftig zusammenarbeiten. Es soll überprüft werden, ob auch bei Piloten oder Extremtauchern, die kurzzeitig mit Sauerstoffmangel konfrontiert sind, Hinweise auf Stoffwechselveränderungen zu beobachten sind und sich herbeiführen lassen, um speziell Nervenzellen zu schützen. Die Forschungsarbeit, die im April 2017 im Fachblatt „Science“ veröffentlicht wurde, habe großes Interesse bei Grundlagenforschern und Medizinern hervorgerufen, sagt Lewin.

Dass ähnliches durchaus zu neuen Therapien führen kann, kann Lewin aus der eigenen Forschungshistorie belegen: Anfang der 90er Jahre entdeckte er mit Kollegen, dass eine Überdosis des Nervenwachstumsfaktors NGF bei Ratten ein chronisches Schmerzsyndrom auslöst. „Blockiert man NGF mit einem Antikörper, kann man Schmerzen lindern.“ Inzwischen hat dieser Antikörper namens Tanezumab in klinischen Phase-II-Studien seine prinzipielle Wirksamkeit bewiesen und soll nun in einer Zulassungsstudie an tausenden Patienten getestet werden. „Das wäre das erste Schmerzmedikament seit 50 Jahren, das auf einem völlig neuen Mechanismus beruht, Patienten hilft und weder süchtig macht noch nennenswerte Nebenwirkungen hat“, sagt Lewin. „Stolz“ sei er darauf.

"Persönliche Verleumdungen inakzeptabel"

Den Versuch, den ihm die Tierschützer nun ankreiden, hat Lewin selbst auch gar nicht durchgeführt, sondern sein Kollege Thomas Park in Chicago. Aus der Verantwortung will sich Lewin damit aber nicht stehlen. Die Forscher teilen sich die Experimente und damit verbundene Genehmigungsprozeduren.

Die „Attacke“ der Tierschützer versucht Lewin so gut es geht nicht persönlich zu nehmen. Grundsätzlich hält er sachliche Diskussionen über Tierversuche für wichtig. Sein Chef Martin Lohse, Vorstandsvorsitzender des MDC, stimmt ihm zu. Er will die Tierversuchsgegner am Donnerstag zum Gespräch einladen. Persönliche Verleumdungen seien aber inakzeptabel. Wohin das führen kann, daran erinnert sich der gebürtige Brite Lewin nur zu gut: Anfang der 1990er entging ein Forscher einer Autobombe der „Animal Liberation Front“ nur knapp.

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