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Kostümierte Reiter und Reiterinnen führen einen Schaukampf auf.

© Thomas Warnack/dpa

Traum vom Eintauchen in die Vergangenheit: Die Sehnsucht nach dem Leben wie in alten Zeiten

Living History kommt von „lebenden Bildern“ und aus den ersten Freilichtmuseen in den USA und in Schweden. Deutsche Museen begegnen dem Phänomen mit Skepsis.

Living History ist ein fester Bestandteil unserer Alltagswelt: Kaum ein Wochenende vergeht, an dem Besucher*innen nicht in die nachgestellte Welt des Mittelalters auf Märkten und Burgen eintauchen können. Städtetourist*innen werden an ihren Reisezielen bei historischen Führungen von verkleideten Burgfräulein oder anderen historisch anmutenden Gestalten begleitet und in die Geschichte des Ortes eingeführt.

Besondere Relevanz entfaltet der Living History-Ansatz in (Freilicht-)Museen. Während im angloamerikanischen Raum Living History als Bildungsangebot und Programmbestandteil vollständig in die Museumslandschaft integriert ist, gibt es an deutschen Einrichtungen noch immer Vorbehalte gegen diese Art der Darstellung.

Im Rahmen einer first person interpretation begegnen die Darsteller*innen den Besucher*innen als fiktionale Spielcharaktere aus der Vergangenheit in der Ich-Form, sprechen scheinbar zeitgenössische Dialekte und versuchen, die Gäste in die vergangene Zeit hineinzuholen, in der sie vorgeben zu leben. Gäste fungieren als Zeitgenossen, nicht als Gestalten aus der Zukunft, was eine Immersion durch Ausblendung der Gegenwart und aller Bezüge in die Lebenswelt der Besucher*innen befördern soll.

Die selbstgemachte Erfahrung ist nur bedingt authentisch

Stehen die Aktivitäten der Museumsgänger*innen selbst im Mittelpunkt, etwa das Ausprobieren historischer Waffen oder die Herstellung von Lebensmitteln unter historisch verbürgten Bedingungen, wird von einem second person approach gesprochen. Der Lernprozess ist in dieser partizipativen Form von mehr Selbststeuerung und -erfahrung geprägt, hat jedoch auch Grenzen. Denn die selbstgemachte Erfahrung ist nur bedingt selbstgesteuert, findet sie doch immer unter den Augen der Museumsmitarbeiter*innen statt und folgt einem im Vorfeld von ihnen erdachten und die Praxis steuernden Skript.

[Die Autorin ist Kulturwissenschaftlerin und wissenschaftliche Mitarbeiterin am Imre Kertész Kolleg der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Ihr Text beruht auf einem Beitrag für die Internetenzyklopädie „Docupedia Zeitgeschichte“]

Bei der third person interpretation berichtet der Interpret über die in der Vergangenheit handelnden Personen in der dritten Person („Sie taten dies ...“). Es herrscht eine Distanz zur gespielten Zeit in der Vergangenheit; die Darsteller*innen können moderieren und sind als Begleitpersonen für die Museumsbesucher*innen ansprechbar. Die markierte Distanz zur Vergangenheit stimuliert Beobachtungen über die vergangene Lebenswelt ebenso wie eine kritische Auseinandersetzung mit der Gegenwart.

Brot aus steinzeitlichen Backöfen

In Reenactments werden historische Ereignisse möglichst detailgetreu nachgespielt. Sie finden meist außerhalb des etablierten und autorisierenden musealen Kontextes statt, weshalb die Akteur*innen besonders großen Wert auf die Authentizität von Aufführungsort, Darstellung und Ausrüstung legen. Angestrebt wird ein Einfühlen in die Vergangenheit, das Erleben und die persönliche Erfahrung vergangener Lebenswelten durch das spielende Subjekt.

In einer weiten Auslegung von Living History wird auch die experimentelle Archäologie mit einbezogen. Als Spezialgebiet der Archäologie versucht sie, mit Hilfe von Experimenten zu Einsichten über ur- und frühgeschichtliche Phänomene zu gelangen, über die nur bedingt materielle Zeugnisse als Quellen vorliegen. Das Repertoire ist umfangreich und reicht vom Nachbau steinzeitlicher Backöfen, um darin Brot zu backen, bis zum Anlegen von Erdwällen.

Die zwischen Feldern gelegene Kreisanlage des Heiligtums in einer Luftaufnahme.
Experimentelle Archäologie - hier bei der Rekonstruktion des Heiligtums von Pömmelte in Sachsen-Anhalt.

© LDA Sachsen-Anhalt; M. Zirn

[Lesen Sie auch unseren Bericht über das Ringheiligtum von Pömmelte, bei dem experimentelle Archäologie zum Einsatz kam]

Das Nachspielen und Erleben von Vergangenheit wird seit Beginn der 2000er-Jahre vermehrt auch in Doku-Soaps in Reality-TV-Formaten behandelt. Sei es in Europa, in den USA oder Australien - das Prinzip ist länderübergreifend gleich: Eine gezielt im Vorfeld ausgewählte Personengruppe wird bei ihrem Lebensvollzug in einer konstruierten historischen Situation und Kulisse gefilmt.

Der Reiz gegenüber rein fiktionalen Serien besteht darin, dass durch die Perspektive der Laiendarsteller*innen als „echte Menschen“ ein anderer Realitätsbezug hergestellt werden kann. In der bekannten deutschen Produktion des SWR Schwarzwaldhaus 1902 war dies eine Berliner Familie, die den Annehmlichkeiten der Gegenwart entledigt das Leben vor 100 Jahren auf einem kleinbäuerlichen Hof nachempfinden sollte. Der SWR bezeichnete das Format als „Experiment“, das ein tieferes Verständnis für Vergangenheit und Gegenwart schaffen wollte.

Leben um 1900 lässt sich nicht wirklich nachleben

Einlösen lässt sich der Anspruch eines wissenschaftlichen Experiments schwerlich. Das Fernsehdispositiv und die damit verbundene Dramaturgisierung sowie die Orientierung auf Unterhaltung stehen bei diesen Formaten meist im Vordergrund. So gingen die Protagonist*innen auf „Zeitreise“, um dem Fernsehpublikum anhand ihrer eigenen Erlebnisse Einblicke in die vergangene Lebenswelt zu geben.

Es liegt auf der Hand, dass dies jedoch kaum möglich ist: Die Laiendarsteller*innen agieren in einer vorgefertigten Realitätskonstruktion, die Vorannahmen über die Vergangenheit höchstens bestätigen und durch ihr eigenes Erleben authentifizieren kann, jedoch kaum einen Erkenntnisgewinn zu generieren vermag.

Auch historische Video- und Digitalspiele gehören zu einem weit gefassten Verständnis von Living History. Sie haben sich in der letzten Dekade grundlegend verändert. Die Erschaffung historischer Welten als Rahmenhandlung erhält gegenwärtig gänzlich neue Impulse durch die technischen Möglichkeiten von Augmented und Virtual Reality (AR/VR).

Folglich wandelt sich die Mensch-Maschine-Beziehung und das Verhältnis zwischen Spieler*innen und Spielfigur. Bewegten sich die Spieler*innen bis vor kurzem noch mit Hilfe von Figuren vor dem Bildschirm sitzend durch die historisch anmutende Spielwelt, hat das Erleben und Nachvollziehen der angenommenen historischen Realität ein Höchstmaß an Immersion erreicht.

Menschen in historischen Kostümen aus Leinen sitzen im Kreis auf einem mittelalterlichen Dorfplatz.
Im Museumsdorf Düppel in Berlin-Zehlendorf stellen engagierte Laien das Leben in einem mittelalterlichen Dorf nach.

© Thilo Rückeis

Living History ist indes kein ausschließlich postmodernes Phänomen und keine singuläre Erscheinung des späten 20. Jahrhunderts. So vielgestaltig die Ausdrucksformen sind, so vielfältig sind auch ihre historischen Wurzeln, die sich überwiegend im Museum aber auch außerhalb finden lassen. Ursprünge der Living History liegen etwa in religiösen Passionsspielen sowie später in historischen Festumzügen, die im 19. Jahrhundert populär wurden.

In Straßenumzügen stellten Städte, Dörfer beziehungsweise Gruppen ihre Vergangenheit kostümiert und für die Öffentlichkeit mit dem Ziel nach, den Zusammenhalt durch den Rückbezug auf eine gemeinsam geteilte Vergangenheit zu stärken.

Im 18. Jahrhundert wurden "Lebende Bilder" populär

Ähnlich den bereits im 18. Jahrhundert populären Tableaux Vivants („Lebende Bilder“), die als Abfolge etwa aufwändig nachgestellter historischer Gemälde oder historisch bedeutsamer Szenen statisch blieben, spielten bei den Ende des 19. Jahrhunderts aufkommenden pageants lokale Laiendarsteller*innen pompös arrangierte historische Szenen nach. Körperliche Teilhabe und sinnliches Erleben meist lokaler Identitätsangebote prägten den Grundgedanken der pageants, die in Großbritannien, den USA, Canada und Australien weite Verbreitung fanden.

Im Bereich der Museen finden sich Ursprünge der Living History in dem von Artur Hazelius (1833-1901) im Jahr 1891 gegründeten, weltweit ersten Freilichtmuseum Skansen in Stockholm. Hazelius wollte ein Museum für das Alltagsleben seiner Landsleute schaffen. Hatten die großen Museen bis dato überwiegend Kunst oder archäologische Funde fremder Zivilisationen in den Mittelpunkt von Sammlungs- und Ausstellungstätigkeit gestellt, sollten in Skansen Menschen in ihren Lebensvollzügen von den Oberschichten bis hin zu den Ärmsten gezeigt werden.

Verkleidete Personen gehen in einer Prozession über einen Festplatz.
Allgegenwärtige Living History - hier beim Mittelalter-Fest auf der Rennbahn in Berlin Hoppegarten.

© Mike Wolff

[Unsere Artikel über archäologische Ausgrabungen - auch in der Region Berlin-Brandenburg - finden Sie hier]

Dafür ließ Hazelius Gebäude aus ganz Schweden auf das Museumsgelände nach Stockholm schaffen, um in einer Mischung aus Kultur und Natur einen lebendigen Eindruck, vor allem des vorindustriellen Schwedens, zu vermitteln. Skansen sollte, so Hazelius’ nationalromantischer Anspruch, bei den Besuchern patriotische Gefühle wecken und ihr nationales Bewusstsein stärken.

Hazelius’ Museum sollte keine Exponate in Reih und Glied ausstellen, sondern „living characteristics“. Diese wurden anfänglich mit lebensgroßen Figurinen in Häusern und Hütten umgesetzt und später durch Museumsmitarbeiter*innen ersetzt, die dort unter anderem handwerklichen Tätigkeiten nachgingen.

Als spezifischer Zugang zur Darstellung von Vergangenheit war Living History vor allem in den Vereinigten Staaten in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg erfolgreich. Spätestens seit den 1970er-Jahren begannen sich sowohl der Begriff als auch die Praxis der Living History in erster Linie in Freilichtmuseen durchzusetzen.

Einen positiven Einfluss auf die Entstehung und Etablierung von Living History-Museen in den USA hatte der Umstand, dass viele nicht staatlich, sondern aus privaten Geldern finanziert wurden und eigene Einnahmen erwirtschaften mussten und müssen. Die Interessen der Konservator*innen und Forscher*innen bestimmen weit weniger die Museumsarbeit, die sich stärker an den Bedürfnissen der Besucher*innen ausrichtet.

Deutsche Museen sehen vor allem ihrem Bildungsauftrag

Die Entwicklung deutscher Museen unterscheidet sich davon. Zwar hat das aufklärerische Bildungsideal Museen seit dem 18. Jahrhundert von vormals privaten und elitären Kuriositätensammlungen zu öffentlichen Bildungseinrichtungen gewandelt. Ausgewählte Artefakte und Überreste vergangener Ereignisse und Prozesse, die durch Selektion und Isolierung aus ihrem Kontext zu „Museumsdingen“ geworden waren, kamen seither in relativ statischer Form und meist mit einem Bildungsauftrag zur Anschauung.

Es bleibt das vorrangige Ziel von Museen, ein vorgebildetes, akademisch interessiertes Publikum mit ihren wertvollen Sammlungen anzusprechen. Auch wenn sich dieser Anspruch gewandelt hat, erklärt sich so teilweise die Skepsis bezüglich der Living History. Zwar wurden auch in Deutschland zu Beginn des 20. Jahrhunderts Freilichtmuseen gegründet, etwa das Ammerländer Bauernhaus in Bad Zwischenahn im Jahr 1910.

Dort stand neben dem Aspekt des Bewahrens traditioneller, vorindustrieller Lebensformen auch der Unterhaltungsfaktor mit begleitenden Trachtenfesten und gastronomischem Betrieb im Mittelpunkt. Das Vorführen bäuerlicher Arbeits- und Handwerkstechniken fand jedoch nicht statt, auch fehlten historisch gekleidete Darsteller*innen wie im schwedischen Skansen.

Ein Umdenken ist seit den 1990er-Jahren zu beobachten, etwa im Fränkischen Freilandmuseum Bad Windsheim, dem Freilichtmuseum Kommern oder dem Freilichtmuseum am Kiekeberg. In Ermangelung museumseigener Living History-Programme werden häufig Reenactment-Gruppen in die Museumsarbeit eingebunden. Neben vielen gelungenen Kooperationen gibt es jedoch vor allem im Bereich frühgeschichtlicher Darstellungen auch problematische politische Haltungen unter Reenactors, die zu Verzerrungen in der Darstellung führen.

Die Gruppe Ulfhednar ist eines der bekanntesten Beispiele dafür, wie Germanendarstellungen mit fragwürdiger Symbolik, etwa einer Verwendung von Hakenkreuzsymbolen ohne archäologische Vorbilder, durch die Gruppe auch in großen deutschen Museen zu sehen waren.

"Germanophile Volksbildung" im Nationalsozialismus

Weitere Gründe für Skepsis und Zurückhaltung gegenüber der Living History könnten bis in die Zeit des Nationalsozialismus zurückreichen. Nach 1933 wurden in Deutschland zahlreiche Freilichtmuseen errichtet, die sich im Rahmen der NS-Ideologie der „germanophilen ‚Volksbildung‘“ widmen sollten. Elemente der Belebung und Inszenierung der Vergangenheit – also Formen der Living History – kamen dabei zum Einsatz.

Der Bildungsanspruch der Museen, so scheint es, ist nur schwer vereinbar mit den Prämissen erlebnis- bzw. erfahrungsorientierter Präsentation. Aus lerntheoretischer Sicht wird ferner zu bedenken gegeben, dass der Konstruktcharakter des Dargestellten häufig intransparent bleibe, wenn Besucher*innen mit einer vermeintlich authentischen historischen Situation konfrontiert werden.

[Lesen Sie auch unseren Bericht über den interaktiven Ansatz des Humboldt Labors im Humboldt Forum (Tagesspiegel plus): Fische erschrecken und Forschenden helfen]

Zur distanzierten Reflexion, Interpretation und Dekonstruktion derselben sollten daher zusätzlich Werkzeuge bereitgestellt werden. Diese Bedenken beziehen sich vor allem auf den first person-Ansatz, der die Gegenwart bewusst ausklammert und Bezüge zur aktuellen Lebenswelt der Besucher*innen vermeidet.

Inzwischen reagieren Museen mit ihren Programmangeboten verstärkt auf neue Herausforderungen des User Generated Content sowie die Konkurrenz durch individuell kuratierte Inhalte im Online-Bereich. Elemente der Living History leben in den neuen experimentellen, partizipativen oder digitalen Lernangeboten fort. Sie machen diese in Zeiten des Museums 2.0 konkurrenzfähig, setzen sie doch zumeist auf Immersion beziehungsweise die emotionale und affektive Verbindung zwischen der thematisierten Vergangenheit und der Lebenswelt der Besucher*innen.

Juliane Tomann

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