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Die physischen Spuren des Amoklaufs von Winnenden, wie diese Einschusslöcher in einer Glasscheibe, sind lange verschwunden. Doch die psychischen Spuren machen vielen Opfern weiterhin zu schaffen.

© picture alliance / dpa

Traumatherapie: Nach den Schüssen

Die Erinnerung an eine Gewalttat kann Menschen noch Jahre später quälen, ihnen den Schlaf rauben und sie krank machen. Ausgerechnet das Stresshormon Cortisol könnte helfen, den Weg ins Leben zurückzufinden.

Der 11. März 2009 ist ein Mittwoch. In der dritten Stunde unterrichtet Marie-Luise Braun Deutsch in der Klasse 9c. Die Schüler sollten zu Hause einen Text von Manfred Spitzer zusammenfassen, dem bekannten Hirnforscher. Sie diskutieren gerade über seine These, dass Computerspiele aggressiv machen. Plötzlich geht die Tür auf, ein Jugendlicher kommt herein und beginnt zu schießen.

„Ich dachte zuerst, der will sich einen Spaß erlauben und wollte ihn zur Rede stellen“, erinnert sich Marie-Luise Braun. Dann merkt sie, dass die Kugeln echt sind. Dass sie in die Tafel hinter ihr einschlagen.

Die Lehrerin wird am Arm getroffen. Die Schüler verschanzen sich unter den Tischen. Als der Täter kurz den Raum verlässt, gelingt es Braun, die Tür zuzuschließen. Der Täter kommt zurück, schießt durch die Tür. Dann ist er weg.

Braun eilt zu den verletzten Schülern. Ein Mädchen ist sofort tot, zwei weitere werden später ihren Verletzungen erliegen. „Die Jana lag in einer riesigen Blutlache.“ Das Mädchen atmet noch, aus ihrem Kopf quillt Gehirnmasse hervor. „Ich habe gedacht: Kann ich das wieder reindrücken? Kann ich das in ihren Kopf reindrücken?“ Es ist ein Bild, das Marie-Luise Braun nie mehr verlassen wird.

In der Albertville-Realschule in Winnenden sterben an diesem Tag acht Schülerinnen, ein Schüler und drei Lehrerinnen. Auf der Flucht vor der Polizei tötet der Amokläufer einen Passanten und zwei Männer in einem Autohaus. Dann tötet er sich selbst. Für alle anderen beginnt der lange Kampf zurück ins Leben.

Für die Opfer bricht eine Welt zusammen

„Wir wissen inzwischen, dass von Menschenhand verübte Gewalttaten die höchsten Störungsraten nach sich ziehen“, sagt Georg Pieper. Der Traumatherapeut aus dem hessischen Friebertshausen betreut bis heute Opfer des Amoklaufs von Erfurt, 2002. Anders als bei einem Zugunglück oder einem Erdbeben hat hier ein Mensch die Katastrophe bewusst herbeigeführt. Für die Opfer, die den Täter oft kennen, bricht eine Welt zusammen. „Ich habe Menschen erlebt, die durch dieses eine Ereignis den Anschluss an ihr normales Leben vollkommen verloren haben“, sagt Pieper.

Marie-Luise Braun kann nach dem Amoklauf nicht mehr schlafen. Ihr Kopf dreht sich, ihr Herz rast, und ihre Muskeln verkrampfen sich so stark, dass sie kaum laufen kann vor Schmerzen. Trotzdem geht sie jeden Tag in die Schule. Die Schüler wollen nicht mit dem Rücken zur Tür sitzen. Wenn im Nachbarzimmer ein Tisch umfällt, kann Panik ausbrechen: „Manche standen da schon halb im Fenster und wollten rausspringen“, sagt sie.

Nach einem traumatischen Ereignis wie einem Amoklauf stehen erst einmal alle unter Schock. Die meisten Menschen schaffen es von sich aus, diesen Zustand zu überwinden. Die schmerzhaften Erinnerungen bleiben zwar, doch nach ein paar Monaten finden sie zurück in ihren Alltag. Und dann gibt es diejenigen, für die der Schrecken nicht aufhört. Die durch verschiedene Reize – das können Geräusche sein oder Gerüche – immer wieder von dem Ereignis eingeholt werden. Die eine posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) entwickeln.

In Flashbacks durchleben sie das Trauma immer wieder aufs Neue, dieselben Schmerzen, dieselben Ängste. „Wenn sie im Trauma gedacht haben: jetzt sterbe ich, jetzt werde ich erschossen, das überlebe ich nicht, dann erleben sie das in diesen Intrusionen genau so“, sagt Tanja Michael, Psychologin an der Universität des Saarlandes. Manche Patienten erleben einen Flashback pro Tag, andere zwanzig. Wissenschaftler glauben, dass bei ihnen ein eigentlich sinnvoller evolutionärer Mechanismus aus dem Ruder gelaufen ist.

Die Patienten müssen sich ihrem Trauma noch einmal stellen

Eine Katastrophe löst extreme Stressreaktionen im Körper aus. Das Erlebte wird praktisch ins Gedächtnis gebrannt, damit sich der Mensch gut daran erinnert und ähnliche Gefahren in Zukunft vermeidet. Normalerweise werden die Erinnerungen später geordnet, im autobiografischen Gedächtnis als Vergangenheit markiert; doch bei Patienten mit einer posttraumatischen Belastungsstörung, vermuten Traumaforscher, hat diese Einordnung nicht stattgefunden. Ihr Leben bleibt im Trauma stehen. „Der Kontext fehlt mir, und plötzlich zieht dieser Schrecken in die Gegenwart ein“, sagt Thomas Elbert, Psychologe an der Universität Konstanz. Es gibt nur einen Weg, diesen Teufelskreis zu durchbrechen: Die Katastrophe muss richtig ins autobiografische Gedächtnis eingeordnet werden. Und dafür müssen sich die Patienten ihrem Trauma noch einmal stellen.

Nach dem Amoklauf kommen Psychologen aus ganz Deutschland nach Winnenden. Braun findet schnell Hilfe bei einer Traumatherapeutin, die die Tat bis ins kleinste Detail mit ihr durcharbeitet. Eine sogenannte traumafokussierte Behandlung ist die einzige wirklich effektive Therapie bei PTBS. Was empfinden Sie, wenn Sie beschreiben, wie Sie die Jana da haben liegen sehen, will die Therapeutin wissen. „Da hatte ich sofort diese Verkrampfungen“, sagt Braun. „Ich konnte kaum sprechen. Herzrasen.“ Mit der Zeit sei es besser geworden, aber richtig weg ging es nie. „Wenn ich das Wort Gehirn höre oder lese, habe ich sofort dieses Bild vor mir. Von der Jana, wie sie am Boden liegt.“

Bei einer Traumabehandlung wird das Gedächtnis im Nachhinein korrigiert. „Ich muss wieder in Erinnerung rufen, was da im Einzelnen passiert ist“, sagt Thomas Elbert. Wo welcher Schrecken hingehört. Es gibt dafür unterschiedliche Methoden; Elbert hat zusammen mit Kollegen von der Universität Konstanz die Narrative Expositionstherapie entwickelt. Dabei lernen die Patienten, ihre gesamte Lebensgeschichte zu erzählen, mit allen schönen und schrecklichen Ereignissen. Ziel sei es, die Erinnerungen, die in Form von Geräuschen, Gerüchen und Gefühlen abgespeichert seien, in das sprachlich zugängliche, autobiografische Gedächtnis zu holen. „Wie in einem Tagebuch“, sagt Elbert.

Eine Traumatherapie verlangt vor allem PTBS-Patienten eine Menge ab

Die Konstanzer Psychologen behandeln Menschen in Kriegsgebieten, unter anderem im Norden Ugandas und im Kongo. Ihre Patienten haben oft mehrere Traumata erlebt, doch gerade in Krisengebieten können die Therapeuten oft nur wenige Sitzungen anbieten. „Ich kann mit dem Patienten nicht durch alle schrecklichen Erlebnisse gehen, aber durch die wesentlichen.“ Um keine Zeit zu verlieren, muss Elbert sofort ins Trauma einsteigen. Studien haben gezeigt, dass sich die Betroffenen schon nach kurzer Zeit besser fühlen: „Wir hätten am Anfang nicht gedacht, dass das so effektiv ist.“

Eine Traumatherapie verlangt vor allem den PTBS-Patienten eine Menge ab. Die Betroffenen haben große Angst, sich den Ereignissen zu stellen. Und in den ersten Wochen der Therapie geht es ihnen meist schlechter als vorher. Deshalb suchen Forscher schon seit Jahren nach Medikamenten, die die Patienten in der Therapie unterstützen könnten. Einer der Wirkstoffkandidaten ist das Stresshormon Cortisol.

„In einer traumatischen Situation wird der Körper regelrecht mit Cortisol geflutet“, erklärt die Psychologin Tanja Michael. Es wirkt dabei zweifach auf das Gedächtnis. Erstens: In der Gefahrensituation selbst erschwert es den Abruf älterer Gedächtnisinhalte – weil es in dem Moment keine Rolle spielt, was es gestern zu essen gab oder wie der Wellensittich aus Kindertagen hieß. Zweitens verbessert Cortisol die Lernfähigkeit, was wahrscheinlich auch der Grund dafür ist, warum sich traumatische Erinnerungen so ins Gedächtnis einbrennen.

Der Ansatz birgt auch Risiken

Psychologen wollen sich nun die Doppelwirkung des Cortisols zunutze machen. Zu Beginn der Therapie könnte es eingesetzt werden, um die schrecklichen Erinnerungen abzuschwächen. So könne man den Patienten den Einstieg erleichtern, sagt Michael.

Später – wenn die Patienten etwa ihre Schuld- und Angstgefühle überwunden haben, wenn ihnen bewusst wird, dass sie nicht anders hätten reagieren können – könnte das Cortisol dabei helfen, diese neue, therapeutische Version der Ereignisse im Gedächtnis zu verfestigen.

Doch der Ansatz birgt auch Risiken. „Wenn die Therapie nicht gut läuft und der Patient vorher Cortisol bekommen hat, dann wird dieses neue traumatische Ereignis eben auch besser gespeichert im Gedächtnis“, sagt Michael. In ersten klinischen Studien werden PTBS-Patienten zwar schon mit Cortisol behandelt. Aber die Forscherin will vorerst lieber noch die grundlegenden Wirkmechanismen des Hormons im Gehirn erforschen. Mit psychisch gesunden Probanden.

Neben Cortisol haben sich auch Betablocker als hilfreich bei PTBS erwiesen. Und Wissenschaftler vermelden regelmäßig neue chemische Verbindungen, die schlimme Erinnerungen in Schach halten – zumindest bei Versuchsmäusen. Bislang hat es aber noch kein einziger Wirkstoff in den klinischen Alltag geschafft.

Betroffene müssen lernen zu akzeptieren, was passiert ist

„Die perfekte Antitrauma-Pille gibt es nicht, und die wird es auch nie geben“, sagt Michael. Die Menschen seien durch das Trauma in ihren Grundfesten erschüttert. Oft sei alles, woran sie einmal geglaubt hatten, „zusammengekracht wie ein Kartenhaus“. Die Patienten müssten lernen, damit umzugehen. „Das kann kein Medikament für sie machen“, sagt die Psychologin.

Menschen mit einer PTBS müssten lernen zu akzeptieren, was passiert ist, sagt der Traumatherapeut Pieper. „So dass sie es sich anschauen können, ohne davon emotional überflutet zu werden.“ Akzeptieren, was passiert ist. Gerade das fällt Opfern von Amokläufen besonders schwer. Viele fragen sich immer wieder: Warum bin ich an diesem Tag in die Schule gegangen? Warum habe ich da gesessen? Warum habe ich nicht anders reagiert? „Wenn die Menschen so hadern damit, dann werden sie niemals erlöst werden. Dann werden sie immer weiter leiden“, sagt Pieper.

Marie-Luise Braun spricht heute kaum noch über den Amoklauf. Selbst Freunde wollen nichts mehr davon wissen. Nach fünf Jahren müsse das langsam mal abgehakt sein, hat eine Bekannte neulich gesagt. „Wer so etwas erlebt hat, der kann das auch nach fünf Jahren nicht abhaken“, sagt Braun.

Jahrestage sind besonders schlimm

Vor jedem Jahrestag kommen die Symptome zurück. Dieses Jahr war es besonders schlimm: die Schlafstörungen, die Albträume. Das Herzrasen, der Schwindel. Die Muskelverkrampfungen, die Bauchschmerzen – alles war wieder da. Wie damals, kurz nach dem Amoklauf.

Marie-Luise Braun hat damals keinen einzigen Tag in der Schule gefehlt. „Ich glaube, dass mir das auch geholfen hat“, sagt sie. Und für die Schüler war sie ein Vorbild. Wenn sie nicht wollten, wenn sie sich nicht konzentrieren konnten. „Ich habe dann zu ihnen gesagt: Schaut, ich bin auch da. Ich arbeite auch. Wir müssen sehen, dass es vorwärtsgeht.“ Und dann ging es wieder.

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