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Christian Thomsen in einer Reihe von Demonstrierenden beim "Klimastreik".

© TU Berlin/PR/Dominic Simon

TU-Präsident über Uni in Zeiten von Corona: „Ich kann den Wunsch nach Präsenz nachvollziehen“

Wie sich der Präsident der TU Berlin das Wintersemester vorstellt, wann Homeoffice gut ist und welche Rolle Wissenschaft in der Pandemie spielt. Ein Interview.

TU-Präsident Christian Thomsen (61) fällt unter den Berliner Unipräsidenten als engagierter Zeitgenosse auf, der etwa bei Fridays for Future präsent war und sich zum Homeschooling als Vater zu Wort meldete. Thomsen ist Physiker und leitet die Technische Universität Berlin seit 2014. Nach seinem Studium in Tübingen, der Promotion an der Brown University (USA) und der Habilitation an der TU München kam er 1994 an die TU Berlin. Tilmann Warnecke spricht mit Thomsen über die Situation der Studierenden, Lehrenden und Verwaltungsangestellten in Zeiten von Corona - und darüber, wie Thomsen persönlich durch die Krise kommt.

Herr Thomsen, nach fast einem halben Jahr Ausnahmezustand in der Corona-Pandemie: Bemerken Sie bei sich selbst auch manchmal Anzeichen von Nachlässigkeit bei den Schutzregeln und Sehnsucht nach vermeintlicher Normalität?
Die Sehnsucht nach Normalität ist schon da. Es hat einen hohen Wert, Kolleginnen und Kollegen live zu sehen und nicht nur am Bildschirm.

Aber zu Ihrer Frage nach der Ermüdung bei Schutzmaßnahmen – die gibt es bei mir überhaupt nicht. Ich ziehe immer eine Maske an, wo es Pflicht ist, im Kindergarten, wenn ich mein Kind abhole, im Laden, wie auch immer. Und es macht mir auch gar nichts aus. Die Bedeutung dieser Schutzmaßnahmen ist ausgesprochen hoch, da bin ich fast penibel.

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Bitten Sie auch Leute, ihre Maske hochzuziehen oder anzulegen? Das kann ja mit aggressiven Reaktionen verbunden sein.
Wenn ich jemandem im Hauptgebäude der Uni ohne Maske begegne, dann bitte ich die Person freundlich, eine Maske aufzusetzen. Bisher gab es keinen Widerstand. Aber hier bin ich ja auch Hausherr. In der U-Bahn ist das sicher etwas Anderes.

Ich frage auch deswegen, weil den Berliner Hochschulen ein weiteres Semester bevorsteht, das vor allem digital stattfinden wird. Können Sie nachvollziehen, wenn Studierenden, Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern und Mitarbeitenden das womöglich zu viel wird?
Ich kann den Wunsch nach Präsenz nachvollziehen. Viele Lehrende wollen gemeinsam mit ihren Studierenden Seminare durchführen und Vorlesungen halten. Insbesondere betrifft das die Erstsemester. Für die kann Uni aus der Ferne nicht gut funktionieren. Dementsprechend werden wir uns für diese Gruppe etwas überlegen müssen.

Woran denken Sie?
Wir überlegen uns intensiv Konzepte, den Erstsemestern mindestens eine Präsenzveranstaltung zu erlauben, vielleicht sogar zwei. Wir beobachten da auch die Schulen, und wie deren Regeln funktionieren werden. Ein Beispiel: Man könnte die Studierenden eines kleinen Studiengangs mit 20 Leuten wie in den Schulen als Klasse oder Kohorte definieren. Wenn diese Studierenden alle dieselben Lehrveranstaltungen belegen – was durchaus möglich ist –, müsste im Fall einer Coronainfektion nur diese Gruppe in Quarantäne.

[Lesen Sie auch unseren bundesweiten Ausblick auf das - wohl weitgehend digitale - Wintersemester 2020/21: "Die Uni darf nicht zum Corona-Hotspot werden"]

Sie vermitteln immer den Eindruck, dass man der Coronazeit auch Gutes abgewinnen kann. Was gehört für Sie dazu?
Das eine ist die Beobachtung, dass Hochschulen sehr schnell und sehr professionell auf solche außerordentlichen Situationen reagieren können. Soweit ich das beurteilen kann mit gutem Erfolg. Der zweite Aspekt ist zukunftsgerichtet.

Und zwar?
Es ist uns gelungen, aus dem Homeoffice die Verwaltung aufrechtzuerhalten – mit Einschränkungen, weil wir die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zunächst auch nicht mit Computern ausstatten konnten und auch weil viele Homeschooling mit ihren Kindern machen mussten oder andere Care-Verpflichtungen hatten. Ich denke, dass es grundsätzlich gut und erstrebenswert ist, Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern Homeoffice zu ermöglichen, auch wenn Corona irgendwann vorbei ist. Die größere Flexibilität im Homeoffice schätzen viele.

Konkret haben Sie für die TU vorgeschlagen, dass künftig allen Mitarbeitenden in der Woche zwei Tage Homeoffice ermöglicht werden soll. Sie haben es angesprochen: Nur wenige haben daheim einen vollwertigen Büroplatz. Werden Sie Mitarbeitenden das Homeoffice auch richtig ausstatten?
Natürlich, das werden wir. Die Frage, was genau richtig ist, werden wir mit dem Personalrat erörtern. Ein Laptop gehört auf jeden Fall dazu, ein großer Computer und ein großer Bildschirm passt bei den meisten Menschen zu Hause nicht noch zusätzlich in die Wohnung. Ich würde sicher auf wenig Begeisterung stoßen, wenn ich mit einem großen Bildschirm ankomme und sage: Den stelle ich jetzt ins Wohnzimmer. Weitere Frage: Bürostuhl. Wenn man mehrere Stunden auf dem Küchenstuhl arbeitet, tut einem der Rücken weh. Die Ausstattung muss auf jeden Fall so sein, dass sich alle zu Hause wohl fühlen.

Unsere Berichte zur Corona-Lage an den Hochschulen

Was bevorzugen Sie persönlich – Homeoffice oder Ihr Büro an der TU?
Eine Mischung daraus wäre für am besten: ein Tag Homeoffice, vier Tage Büro. Die Bürozeiten sind ja geprägt durch viele Gespräche mit anderen. Die sind wichtig, erlauben aber nicht, zwei Stunden am Stück über ein Thema nachzudenken. Diese Reflexion ist zu Hause besser möglich – vorausgesetzt natürlich, die Kinder sind im Kindergarten und in der Schule.

Für viele Studierende, die womöglich ihren Job verloren haben, könnte jetzt die Frage nach dem Homeoffice eher wie ein Luxusproblem klingen. Was kann eine Uni wie die TU tun, um ihre Studierenden noch besser zu unterstützen?
Finanzielle Unterstützung ist natürlich schwierig zu leisten. Was wir aber zum Beispiel als Aufgabe haben, ist, wie bereits angesprochen, die Erstsemester zu integrieren: Wie schaffen sie es, sich im Unibetrieb zurechtzufinden, sich zu vernetzen, Freunde und Lerngruppen zu finden. Bis November werden wir noch das eine oder andere überlegen müssen.

Junge Studierende drängeln sich im Foyer der TU um Infostände.
Erstsemestertag 2015 an der TU Berlin: So voll darf es momentan nicht werden.

© TU Presse/Jacek Ruta

Die TU Berlin hat gemeinsam mit anderen Technischen Universitäten einen Digitalpakt für die Hochschulen vorgeschlagen, der 500 Millionen Euro umfassen solle. Da rührt sich aber nichts. Sind Sie enttäuscht?
Total enttäuscht von der Bundesbildungsministerin. Die Wissenschaftsorganisationen werden von ihr in großem Stil gefördert, während die Ländereinrichtungen wie die Universitäten geringer vorkommen, um es vorsichtig zu formulieren. Helmholtz und Max Planck leben aber davon, dass sie den Nachwuchs von den Universitäten bekommen. Die Ministerin denkt da zu kurz. Die 500 Millionen Euro wären locker drin gewesen bei all den Corona-Maßnahmen. Und im Gegensatz zu den Schulen wären wir auch in der Lage, einen Digitalpakt effizienter umzusetzen.

Am Anfang der Pandemie wurde sehr stark auf die Expertise der Wissenschaft zurückgegriffen. Später hatte man dann den Eindruck, dass das Pendel zurückschwingt und vor allem ökonomische Belange in den Vordergrund gestellt wurden. Wie hat sich der Stellenwert der Wissenschaft Ihrer Meinung nach durch Corona geändert?
Insgesamt ist es bemerkenswert, wie stark die Politik auf die Wissenschaft gehört hat. Die Wissenschaft selber hat vielleicht ganz am Anfang ökonomische und soziale Aspekte zu wenig im Kopf gehabt. Ein harter Lockdown ist virologisch gesehen perfekt, um das Virus auszurotten. Aber er hat wirtschaftliche und soziale Nachteile. In Spanien durften Kinder wochenlang praktisch nicht mehr vor die Tür.

Oder denken Sie daran, dass Frauen statistisch häufiger von ihren Männern geschlagen wurden. Mit dem rein naturwissenschaftlichen Zugang hat man vielleicht andere Belange vernachlässigt. Das ändert sich jetzt. Christian Drosten, den ich sehr schätze, hat in diesem Zusammenhang gerade vom Mut zum Restrisiko gesprochen. Schulen offenzuhalten ist etwa ein wichtiger Aspekt: Der Zugang zu Bildung ist extrem wichtig.

Aktuelle Berichte zu Schulöffnungen und Homeschooling

Sie haben soziale Folgen angesprochen. Eine Folge in den Familien war auch, dass vor allem Frauen die Carearbeit, das Homeschooling übernehmen mussten. Wie haben Sie das in Ihrer Familie geregelt?
Ich habe mein Büro gebeten, mir die Zeit von zehn bis zwölf möglichst freizuhalten. Das ist in Bezug auf den Terminkalender nicht sehr einfach, weil beruflich sehr viel genau in der Zeit passiert. Aber ich kann nicht zwischen vier und sechs Uhr mit dem Kindern Schule machen. Also haben wir das vormittags gemacht. Wir haben drei Kinder. Die beiden, die schulpflichtg sind, hatten nicht so viel Lust aufs Homeschooling. Der Jüngste dagegen wollte immer Unterricht haben, also mussten wir uns auch für ihn altersgemäße Aufgaben ausdenken. Insgesamt hat meine Frau da sicher mehr geleistet, aber ich habe immer versucht, von zehn bis zwölf dabei zu sein.

Ein Vater unterstützt seine beiden Söhne beim Homeschooling.
Inwiefern sich beide Elternteile im Homeschooling engagieren, ist eine Frage der Geschlechtergerechtigkeit.

© Eric Baradat/AFP

[Lesen Sie auch unseren Bericht über einen Aufruf von Professorinnen der Alice-Salomon-Hochschule zur Care-Arbeit: Tut mehr für Pflegende, Frauen, Kinder und Arme!]

Sie haben sich in der letzten Zeit mehrfach in öffentliche Debatten eingeschaltet, sei es beim Rezo-Video, bei Fridays für Future oder kürzlich gemeinsam mit Ihrer Frau, der Wissenschaftlerin Stephanie Reich, zur Coronapolitik der Schulsenatorin. Von anderen Kollegen hört man das selten. Sind Unipräsidenten in Deutschland da prinzipiell noch immer viel zu zurückhaltend?
Ich versuche mal für mich zu sprechen. Eine Universität als öffentlich finanzierte Einrichtung sollte sich in öffentliche Themenstellungen einmischen. Das betrifft alle: Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, Studierende, die das bei Fridays for Future besonders hervorragend gemacht haben – und es betrifft auch die Leitungen. Wir müssen das mit der gebotenen Vorsicht tun, damit nicht die Neutralität verletzt wird. Man kann sich nicht parteipolitisch äußern. Es sei denn, man trennt das ganz klar von seinem Amt, aber das ist schwierig.

Sie gehen allerdings nicht so weit, sich in den sozialen Medien, etwa auf Twitter, zu äußern. Warum nicht? Christian Drosten hat doch zum Beispiel gezeigt, dass auch Forschende das sehr gut für sich nutzen können.
Soweit ich weiß, hat Herr Drosten seinen Twitter-Account seit Ende Juni nicht mehr aktiv gefüllt – wobei ich nicht weiß, welche Gründe das hat. Twitter braucht eine sehr schnelle Reaktion. Ich neige ein bisschen mehr dazu, mir ausführlich Gedanken zu machen. Amt und Person kann man bei Twitter auch schwer voneinander trennen.

Kommen wir zum Schluss noch einmal zur Schule. Mit welchen Gefühlen schicken Sie ihre Kinder jetzt wieder in den Unterricht?
Wir werden in den kommenden 14 Tagen sehen, was passiert. Ich habe insbesondere bei den Rückkehrern aus Risikiogebieten Sorge, dass einige in die Schule gehen, obwohl sie in Quarantäne müssten. Das wird ja nicht überprüft. Man kann nur hoffen, dass nicht gleich wieder viele Schulen schließen müssen.

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