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Bremse auf dem Marsch durch die Institutionen: Rudi Dutsche, 3.v. li, hier fast auf den Tag genau vier Jahre vor Inkrafttreten des Radikalenerlasses (17.02.1968, Berlin, durch den Sozialistischen Deutschen Studentenbund (SDS) durchgeführte «Internationale Vietnam-Konferenz»

© picture alliance / Chris Hoffmann

Turners Thesen: 50 Jahre Radikalenerlass: Von Umstürzlern und künftigen Ministerpräsidenten

Ein halbes Jahrhundert nach einem der umstrittensten Beschlüsse zur Auslegung eines Gesetzes kann man, meint unser Kolumnist, zurückblickend Lehren ableiten.

Vor 50 Jahren, im Jahr 1971, herrschte vornehmlich an den Universitäten helle Aufregung. In Vorbereitung war der Beschluss der Regierungen des Bundes und der Länder, Bewerber für den Öffentlichen Dienst vor der Einstellung auf deren Verfassungstreue zu überprüfen.

Die Befürchtung einer drohenden „Unterwanderung“ durch „Extremisten im öffentlichen Dienst“ wurde begründet mit dem Hinweis auf Rudi Dutschkes Parole vom „langen Marsch durch die Institutionen“.

Der erste Erlass war zwei Jahrzehnte alt

Bestimmungen zum Ausschluss von „Radikalen“ aus dem öffentlichen Dienst waren nicht neu. So hatte im Jahr 1950 die Bundesregierung in einem Erlass beschlossen, „Gegner der freiheitlich-demokratischen Grundordnung“ aus dem Staatsdienst zu entlassen.

Studierende, die Mitglieder bei sogenannten K-Gruppen („K“ für kommunistisch) waren, mussten um ihre berufliche Zukunft fürchten. Betroffen waren vor allem Lehramtsbewerber, Aspiranten auf Stellen für Richter und Staatsanwälte, aber auch Kandidaten für Positionen in der Verwaltung. Wer Anlass für Zweifel an der Verfassungstreue bot, musste mit einer Ablehnung rechnen.

Berufsverbot - oder nur ungeeignet für bestimmte Jobs?

Geschürt wurde die Diskussion in den 1970ern mit dem Kampfbegriff „Berufsverbote“. Doch darum handelte es sich gewiss nicht. Vielmehr ging es um eine fehlende Voraussetzung für die Einstellung. So wie jemand nicht in den höheren Dienst eingestellt wird, der nicht über die fachliche Qualifikation verfügt, etwa über das Staatsexamen. So war es auch in den kritischen Fällen, in denen die die Voraussetzung der Verfassungstreue fehlte, um in den öffentlichen Dienst übernommen zu werden.

Abgelehnte Bewerber konnten im Übrigen ihre berufliche Betätigung außerhalb des öffentlichen Dienstes suchen. Das geschah im Schulbereich bei privaten Einrichtungen oder in der Anwaltschaft. Das hinderte linke Kreise allerdings nicht, kampagnenartig Front gegen das Vorhaben der Regierungschefs zu machen. So durfte es nicht überraschen, dass einzelne Rechtsanwälte sich als Kämpfer gegen „Berufsverbote“ hervorgetan haben.

Der Fall eines zukünftigen Ministerpräsidenten

Die Ablehnung geschah in Einzelfall-Prüfungen in den Ländern, je nach Erkenntnissen des Verfassungsschutzes. Inzwischen ist die Debatte abgeflacht und hat einer sachlichen Erörterung Platz gemacht, zumal die Anzahl Fälle und betroffener Personen gering ist.

Lehrreich war sicher auch die Erkenntnis, dass sich früher abgelehnte Bewerber später als durchaus staatstragend erwiesen haben. Das wohl bekannteste Beispiel ist der heutige Ministerpräsident von Baden-Württemberg. Ein ihn entlastendes Votum des Präsidenten der Universität Hohenheim, an der er Asta-Vorsitzender war, führte trotz Bedenken des Verfassungsschutzes zu seiner Einstellung in den Schuldienst.

Die Einordnung der Mitgliedschaft in einer K-Gruppe erweist sich so oft als Jugendsünde, der man keine ausschlaggebende Bedeutung für die Zukunft beimessen sollte. Unbelehrbare allerdings sind im öffentlichen Dienst nicht zu gebrauchen – bis heute nicht.

Ein aktuelles Gespräch des damaligen Präsidenten der Universität, dm Autor dieser Kolumne, mit dem heutigen Ministerpräsidenten Baden-Württembergs, Winfried Kretschmann, über „50 Jahre Radikalenerlass“ ist Teil einer ARD-Dokumentation, die am 17. Januar 2022 gesendet wird. Wer mit dem Autor diskutieren möchte, kann ihm eine E-Mail senden: george.turner@t-online.de

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