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Kolumnist George Turner.

© Mike Wolff

TURNERS Thesen: Das Abitur ist nicht Maß aller Dinge

Für die Ausbildung als Hebamme, Krankenpfleger oder Krankenschwester sollen die Zulassungsvoraussetzungen europaweit von zehn auf zwölf Jahre Schulausbildung angehoben werden. Das sei nötig, da die Anforderungen an das Pflegepersonal gestiegen seien.

Für die Ausbildung als Hebamme, Krankenpfleger oder Krankenschwester sollen die Zulassungsvoraussetzungen europaweit von zehn auf zwölf Jahre Schulausbildung angehoben werden. Das sei nötig, da die Anforderungen an das Pflegepersonal gestiegen seien. So will es der Entwurf einer EU-Richtlinie. 24 von 27 EU-Staaten schreiben für die Ausbildung in Pflegeberufen bereits jetzt eine zwölfjährige Schulzeit vor. Tritt die Regel in Kraft, müsste auch in Deutschland entweder das Abitur oder der Abschluss einer Fachoberschule erworben werden.

Gewiss wäre es eine Aufwertung der entsprechenden Berufe, wenn die Latte höher gelegt wird. Andererseits würde der Mangel an Personal weiter steigen, wenn bestimmte Gruppen von der Ausbildung ausgeschlossen werden. Wie auch in anderen Fällen steht hinter solchen Vorschlägen die Absicht, den Anteil der Hochschulabsolventen hochzutreiben. Der nächste Schritt nämlich wäre die „Akademisierung“ der Berufsausbildung, indem der Bachelor-Abschluss gefordert wird.

Seit langem ist es den einschlägigen Kreisen vor allem in der OECD ein Dorn im Auge, dass der Anteil der Hochschulabsolventen in Deutschland hinter dem anderer europäischer Länder zurück- bleibt. Dabei wird außer Acht gelassen, dass es hierzulande ein duales Ausbildungssystem gibt, das zu einem Berufsabschluss führt, wozu anderenorts ein Studium erforderlich ist. Nun soll dem offenbar der Garaus gemacht werden. Das Abitur soll das Maß aller Dinge sein, gefolgt von einem Studium.

Was aber geschieht mit den jungen Leuten, die trotz Werbung für eine höhere Bildung, Öffnung der Schleusen und Senkung der Anforderungen bei der Reifeprüfung nicht den vorausgesetzten Abschluss erwerben? Dass hier geeignetes Potenzial für die in Betracht kommenden Berufe vorhanden ist, wird niemand ernsthaft bestreiten können. Sie bleiben auf der Strecke; doch das interessiert die EU-Bürokraten nicht.

Zu dem EU-Entwurf passt sehr wenig eine andere Tendenz: Auch ohne Abitur kann die Zulassung zu einem Studium erfolgen, wenn Bewerber eine abgeschlossene Berufsausbildung und anschließende praktische Tätigkeit vorweisen können. Das heißt: Bewerber ohne den Nachweis einer 12jährigen Schulzeit könnten nicht die Ausbildung als Krankenpfleger beginnen; absolvieren sie eine Malerlehre mit anschließender Berufspraxis können sie (theoretisch) Medizin studieren. So viel Absurdität ist selten.

Wer mit dem Autor diskutieren möchte, kann ihm eine E-Mail schicken: g.turner@tagesspiegel.de

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