zum Hauptinhalt
Ein Junge bringt am 1. August 1914 den Koffer und das Gewehr seines Vaters zum Bahnhof.

© dpa

Umfrage: Berliner Historiker über den Ersten Weltkrieg: Der erste Schuss

Der Beginn des Ersten Weltkrieges jährt sich in diesem Jahr zum 100. Mal. Zum Auftakt des Gedenkjahres erklären Berliner Historiker, welche Themen zum Krieg sie heute umtreiben oder wie sie die neue Diskussion um die Kriegsschuld bewerten.

Jürgen Kocka: Schübe der Demokratisierung

George Kennan hat den Ersten Weltkrieg, diesen ersten industriellen Krieg der Weltgeschichte mit etwa 15 Millionen toten Soldaten und Zivilisten, als die „Urkatastrophe“ des 20. Jahrhunderts bezeichnet. Das bleibt wahr. Das 19. Jahrhundert war in Europa relativ friedlich gewesen, jetzt begann eine Zeit mörderischer Kriege, massenhafter Gewalt und immenser Zerstörungen. Der Krieg mündete in Revolutionen. Auf Jahrzehnte des wirtschaftlichen Wachstums und der Mehrung des Wohlstands folgten Jahrzehnte wirtschaftlicher Krisen und erneuter Verarmung. Fortschrittsglauben und Zivilisationsvertrauen wurden nachhaltig erschüttert. Aus dem Krieg gingen die beiden großen antiliberalen, später totalitären Massenbewegungen des Kommunismus und des Faschismus hervor, die für die Katastrophen der 1930er und 1940er Jahre mehr Verantwortung tragen als irgendwelche anderen Kräfte.

Jürgen Kocka.
Jürgen Kocka.

© Promo

Doch der Zusammenbruch der multinationalen Reiche der Habsburger, der Zaren und der Osmanen ermöglichte Völkern die nationale Unabhängigkeit, die lange vergeblich dafür gekämpft hatten, die Polen als Beispiel. Der Krieg läutete den Niedergang der europäischen Vorherrschaft in der Welt ein, aber er brachte Zugewinne für andere Regionen – vom Machtgewinn der USA über den Eintritt Australiens in die internationale Politik bis hin zur beginnenden Dekolonisierung. Auch in Europa brachte der Krieg nicht nur Zerstörung und Brutalisierung, sondern auch Schübe der Demokratisierung und den Aufstieg des Sozialstaats hervor. In globaler Perspektive und aus großer zeitlicher Entfernung wird die Bilanz des Ersten Weltkriegs immer gemischter.

Jürgen Kocka war Professor an der Freien Universität Berlin und Präsident des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung.

Ute Frevert: Über neue "Entschuldung" not amused

Mein erstes Proseminar, 1971 in Münster (bei Jürgen Kocka), handelte vom Ersten Weltkrieg. Es firmierte unter „Zeitgeschichte“, denn es gab noch Menschen, die sich aus erster Hand daran erinnern konnten. Jene Erinnerung war „heiß“: Um den Krieg und seine Deutung wurde erbittert gerungen. Die Fischer-Kontroverse – um Fritz Fischers These von 1961, der deutschen Reichsleitung falle „ein erheblicher Teil der historischen Verantwortung“ für den Krieg zu – lag nicht lang zurück und sorgte auch im Proseminar für Zündstoff. Von Lloyd Georges Diktum aus den 20er Jahren, „die Nationen“ seien 1914 in den Krieg „hineingeschlittert“, wollte die kritische Studentengeneration nichts mehr wissen. Die Schuldfrage wurde neu gestellt, die Suche nach Ermöglichungsstrukturen, Interessen und Motiven nahm Fahrt auf.

Ute Frevert.
Ute Frevert.

© Promo

Dabei kamen Themen und Aspekte auf den Tisch, die das klassische Feld der Diplomatie- und Politikgeschichte weit hinter sich ließen. Die Wirtschafts- und Sozialgeschichte des Krieges wurde vermessen, bald auch seine Geschlechter-, Alltags- und Mentalitätsgeschichte. Die nationale Nabelschau rückte in den Hintergrund, die Forschung wurde vergleichender, europäischer, globaler. Und auch die Erinnerung sollte sich europäisieren, etwa durch gemeinsame Museen.

Auf dieser Entnationalisierungsspur bewegt sich auch der größte historische Bucherfolg von 2013, Christopher Clarks „Schlafwandler“. Er zieht, ganz traditionell, die diplomatisch-außenpolitische Karte, verteilt aber die Gewichte neu. Und hat mit seiner spannenden, multiperspektivischen Erzählung offenbar den Geschmack der Leser getroffen. Zugleich aber zeigt dieser Geschmack deutliche nationale Unterschiede: Das deutsche Publikum nimmt die relative „Entschuldung“ der Reichsleitung dankbar zur Kenntnis, während man (nicht nur) in Serbien auf Clarks scharfe Kritik an Belgrads terrorismusfreundlicher Politik not amused reagiert. Von einer gesamteuropäischen Erinnerung kann also, trotz der Bemühungen vieler Historiker, noch immer keine Rede sein: Erinnerung bleibt national, heiß und empfindlich, selbst dann, wenn sie aus zweiter Hand stammt.

Ute Frevert ist Direktorin des Forschungsbereichs „Geschichte der Gefühle“ am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung in Berlin.

Oliver Janz: Folgen wirken bis heute nach

Unser Bild vom Ersten Weltkrieg ist immer noch auf Deutschland, Frankreich und die Westfront verengt. Ost- und Südosteuropa wurden jedoch noch stärker in Mitleidenschaft gezogen als der Rest des Kontinents. Die serbischen und rumänischen Armeen hatten höhere Gefallenenquoten als die deutsche oder französische. Der Krieg im Osten war stärker Bewegungskrieg als im Westen und forderte daher hier viel größere Opfer unter der Zivilbevölkerung, zumal die militärische Gewalt hier bald traditionelle Grenzen hinter sich ließ. Der große Krieg war aber auch der erste wirklich globale Krieg der Weltgeschichte. Er wurde nicht nur außerhalb Europas geführt – in Afrika, China, im Nahen und Mittleren Osten und auf den Weltmeeren. An ihm waren auch außereuropäische Mächte beteiligt, vor allem das Osmanische Reich, Japan und die USA.

Oliver Janz.
Oliver Janz.

© Promo/Jonah Langkau

Großbritannien und Frankreich bezogen überdies von Anfang ihre Kolonialimperien umfassend in den Krieg ein. Hier wurden rund drei Millionen Soldaten mobilisiert, von denen die meisten auch in Europa oder im Nahen und Mittleren Osten zum Einsatz kamen.

Im allgemeinen Bewusstsein wenig präsent ist auch, dass es sich um den ersten weltweiten Wirtschaftskrieg handelt, den die westlichen Alliierten vor allem deshalb gewannen, weil sie ihre globale Marktmacht konsequent ausspielten und ihre Versorgung auf den Weltmärkten zentral koordinierten. Lenkt man den Blick von Westeuropa weg, dann endete der Krieg auch nicht 1918. In Osteuropa und im Nahen und Mittleren Osten ging er nahtlos in weitere Kriege über, die erst 1922 zu Ende gingen. Ihre Folgen wirken bis heute nach.

Oliver Janz ist Professor an der Freien Universität Berlin und Autor der 2013 erschienenen Gesamtdarstellung „14. Der große Krieg“.

Gabriele Metzler: Gewalt auf der Mikroebene untersuchen

Ein Krieg besteht aus unzähligen Gewaltakten, begangen an unzähligen Orten, von unzähligen Akteuren. In ihrer Summe erst ergeben sie das große Ganze, machen sie „den Krieg“ aus. Aber erfahrbar für die Menschen sind sie nur im Einzelnen, ganz Konkreten. Ein Gewaltakt hat einen Anfang, an dem ein Angriffsbefehl stehen kann, das eigenmächtige Handeln eines Einzelnen oder der schiere Zufall, durch den sich der eine Schuss im Gewehr löst.

Gabriele Metzler.
Gabriele Metzler.

© Promo

Gewalt hört irgendwann auch wieder auf, irgendwann, nach Minuten, Tagen, ja in diesem Krieg auch: nach Wochen oder Monaten, sind die Gewalttäter erschöpft, irgendwann ist der Feind geschlagen und vernichtet, irgendwann mag aber auch eine stärkere Streitmacht auf dem Schauplatz des Gewalthandelns erscheinen und diesem ein Ende setzen. Wenn der letzte Schuss gefallen, das Bajonett ein letztes Mal zum Einsatz gekommen ist, ist nichts mehr wie zuvor. Friedliebende Familienväter haben getötet, auf Befehl zwar, aber sie hatten den Finger am Abzug. Eben noch Schüler, fühlen sich junge Männer als Helden – oder sind abgrundtief verzweifelt ob des Erlebten, verlieren den Verstand. Die überlebt haben, müssen weiterleben mit dieser Erfahrung, die sie nicht verlassen wird. Vorstellungen sozialer Ordnung, das gesellschaftlich vermittelte Selbstverständnis als „ganze Männer“, das Vertrauen in „Normalität“ – all dies gerät in der Erfahrung des Krieges ins Schwanken, muss neu fixiert werden.

Eine historische Weltkriegsforschung muss auf das Gewaltgeschehen auf der Mikroebene blicken, muss nach den Möglichkeiten und den Formen eines Endes der Gewalt fragen und danach, was für alle Beteiligten danach kommt. Dann trägt sie Substanzielles zu einer Gesellschaftsgeschichte von Nachkriegsgesellschaften bei und zur drängenden Frage, ob und wie die Gewalt jemals wieder aufhört.

Gabriele Metzler ist Professorin an der Humboldt-Universität zu Berlin.

Stefanie Schüler-Springorum: Verheerende Vogelperspektive

Der Erste Weltkrieg wird als Weltenbrand wahrgenommen, dem Millionen von Soldaten in den Schützengräben ohnmächtig ausgeliefert waren. Doch gleichzeitig entstand das Bild des Fliegerhelden, des einsamen „Ritters der Lüfte“, der über dieses Grauen erhaben ist. Max Immelmann, Oswald Boelcke und später vor allem Manfred von Richthofen prägten den Typus des individuellen Kämpfers, der integer bleibt, gewissermaßen über der schmutzigen Realität des Krieges. Eine neue, hochtechnische Waffengattung entsteht, doch sie wird in der Öffentlichkeit – und auch die Flieger selbst sind daran beteiligt – in ganz alten Bildern vom „Duell Mann gegen Mann“ oder des edlen mittelalterlichen Ritters inszeniert.

Stefanie Schüler-Springorum.
Stefanie Schüler-Springorum.

© Thilo Rückeis

Transportiert über Figuren wie Curd Jürgens als „Des Teufels General“ oder Tom Cruise in „Top Gun“ wirkt der Mythos des Jagdfliegers bis heute weiter. Bisher wenig erforscht ist, wie die nun möglich gewordene Vogelperspektive unsere Sicht auf die Welt ganz grundsätzlich veränderte. Für das militärische Denken ist der Wandel eindeutig: Im Krieg war die Zivilbevölkerung nun auch jenseits der Frontlinien bedroht und betroffen. Für großflächige Bombardements waren die Flugzeuge des Ersten Weltkriegs noch nicht geeignet, aber sie wurden in den 20er Jahren weiterentwickelt, so dass in den 30er Jahren die Konzepte für den Luftkrieg europaweit diskutiert wurden. Als gleichrangige Waffen wurden Kampfflugzeuge erstmals im Spanischen Bürgerkrieg eingesetzt. Schon vor dem Zweiten Weltkrieg nahm die große Angst vor dem Unheil aus der Luft die tatsächliche Verheerung durch die Bombardements der Städte und schließlich den Abwurf der Atombomben vorweg.

Stefanie Schüler-Springorum ist Direktorin des Zentrums für Antisemitismusforschung der Technischen Universität Berlin und hat 2010 ein Buch über die Legion Condor im Spanischen Bürgerkrieg vorgelegt.

Gertrud Pickhan: Historische Dimension der "Armutsmigration"

Europe on the move“ – mit dieser Formel beschrieb der Migrationsforscher Eugene Kulischer den Zustand des Kontinents am Ende des Ersten Weltkriegs und das Phänomen der bis dahin ungekannten Migrationsströme von rund zehn Millionen Menschen, die in Folge des Krieges durch Massenvertreibungen und Massenfluchtbewegungen entwurzelt waren. Kulischer selbst gehörte zeitweise zu den osteuropäisch-jüdischen Migranten, die auch durch Pogrome aus ihrer Heimat vertrieben wurden und in Berlin strandeten.

In Deutschland hielten sich nach dem Ersten Weltkrieg rund eine halbe Million Flüchtlinge und Emigranten auf, einige zehntausende von ihnen waren jüdischer Herkunft. Die meisten lebten in Berlin, wo in den 20er Jahren ein facettenreicher und kreativer osteuropäisch-jüdischer Mikrokosmos entstand.

Gudrun Pickhan.
Gudrun Pickhan.

© Promo

Fragt man nach den Ursachen von Entwurzelung und Heimatverlust, so ist vor allem der Zusammenbruch der multiethnischen Imperien am Ende des Weltkriegs zu nennen, der zu einem Anwachsen des extremen und zumeist antisemitischen Nationalismus führte. Er wurde zur Leitideologie der neugegründeten ethnisch und konfessionell heterogenen Nationalstaaten in Ost- und Ostmitteleuropa. Ausgrenzungen und Fremdenfeindlichkeit waren nunmehr an der Tagesordnung.

Auch die Wirtschaftslage hatte sich durch den Krieg dramatisch verschlechtert. All dies trug maßgeblich dazu bei, dass Millionen Menschen ihre angestammte Heimat verloren und anderswo neu beginnen mussten. Diejenigen, die damals in Deutschland blieben, sahen sich auch hier massiven Anfeindungen ausgesetzt und wurden seit 1933 in großer Zahl zu Opfern der nationalsozialistischen Verfolgung. Es bleibt zu hoffen, dass man sich angesichts der „Armutsmigration“ aus Rumänien und Bulgarien dieser historischen Dimension bewusst ist.

Gertrud Pickhan ist Professorin am Osteuropa-Institut der Freien Universität.

Wolfgang Benz: Der pazifistische Rüstungsmanager

Dank Bertha von Suttner gab es die Deutsche Friedensgesellschaft mit prominenter Beteiligung aus Wissenschaft und liberaler Politik. Dort wurde der Gedanke „Nie wieder Krieg!“ geboren. 1914 im Sommer war das vollkommen vorbei. Aus deutschen, aber auch britischen oder belgischen Pazifisten wurden Patrioten, die zu den Waffen eilten. Doch eine kleine Gruppe von Leuten schwenkte weiter das Fähnlein des Friedens. Viele sahen sich wegen der chauvinistischen Stimmung gezwungen, in die Emigration zu fliehen.

Wolfgang Benz.
Wolfgang Benz.

© TU Pressestelle/Dahl

Ein prominenter Fall war der Krupp-Direktor Wilhelm Muehlon, zuständig für den internationalen Waffenverkauf. Er hatte Indizien, dass die Regierung des Deutschen Reichs schon vor dem Ultimatum an Serbien den Krieg geplant hatte. Muehlon war das zuwider, er kündigte bei Krupp, ging zunächst noch als deutscher Sondergesandter für die Beschaffung von Getreide und Erdöl nach Rumänien, emigrierte aber alsbald in die Schweiz. Dort scharte er einen Kreis deutscher Pazifisten um sich, darunter die Schriftsteller Hermann Hesse und Hugo Ball. Sie wurden zu einer informellen liberalen und demokratischen Opposition. Sein Fall wurde im Reichstag behandelt, Muehlon zur Unperson erklärt. Im Frühjahr 1918 erschienen seine Tagebücher aus den ersten Kriegsmonaten unter dem Titel „Die Verheerung Europas“ – damals ein Kultbuch.

Für mich ist der Rüstungsmanager, der keinen Krieg wollte und sich vom Hurrapatriotismus nicht anstecken ließ, eine der eindrucksvollsten Persönlichkeiten im Ersten Weltkrieg.

Wolfgang Benz ist ehemaliger Direktor des Zentrums für Antisemitismusforschung an der Technischen Universität Berlin.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false