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Riskant. Der Mensch geht ständig Risiken ein. Er kann und muss nur lernen, rational damit umzugehen, sagt der Psychologe Gerd Gigerenzer.

© Science Photo Library

Umgang mit Risiken: Passiert schon nichts

Von Pillen, Passagieren und der Angst, dass etwas schiefgeht. Warum Bürger endlich lernen müssen, Risiken richtig einzuschätzen.

Erinnern Sie sich an den Vulkanausbruch auf Island mit seiner Aschewolke? Die Immobilienkrise? Was ist mit dem Rinderwahnsinn? Jede neue Krise macht uns Sorge, bis wir sie vergessen und uns wegen der nächsten sorgen. Viele von uns saßen in überfüllten Flughäfen fest, sahen sich durch wertlos gewordene Pensionsfonds ruiniert oder hatten Angst davor, sich ein saftiges Steak schmecken zu lassen. Wenn etwas schiefgeht, erzählt man uns, künftige Krisen ließen sich durch bessere Technik, mehr Gesetze oder aufwendigere Bürokratie verhindern. Wie können wir uns vor der nächsten Finanzkrise schützen? Strengere Vorschriften, kleinere Banken und bessere Berater. Wie können wir uns vor der Bedrohung durch den Terrorismus schützen? Größeres Polizeiaufgebot, Ganzkörperscanner, weitere Einschränkung der individuellen Freiheit. Was können wir gegen die Kostenexplosion im Gesundheitswesen tun? Steuererhöhungen, Rationalisierung, bessere Genmarker.

Ein Punkt fehlt auf dieser Liste: der risikokompetente Bürger.

Großbritannien hat viele Traditionen, eine von ihnen ist die Angst vor Antibabypillen. Seit Anfang der 60er Jahre werden die Frauen alle paar Jahre durch Berichte aufgeschreckt, dass die Pille Thrombosen verursachen kann – potenziell lebensbedrohliche Blutgerinnsel in Beinen oder Lunge. Berühmt ist die Schreckensnachricht, die das britische Komitee für Arzneimittelsicherheit herausgab: Die Antibabypillen der dritten Generation verdoppeln das Thromboserisiko – das heißt, sie erhöhen es um 100 Prozent. Kann man mehr Sicherheit verlangen? Diese erschreckende Information wurde in sogenannten Dear Doctor Letters an 190 000 praktische Ärzte, Apotheker und die Leiter von Gesundheitsämtern weitergegeben und in einer Eilmeldung an die Medien übermittelt. Überall im Land schrillten die Alarmglocken. Viele besorgte Frauen setzten die Pille ab, was zu unerwünschten Schwangerschaften und Abtreibungen führte.

Fragt sich nur, wie viel sind 100 Prozent? Die Studien, auf die sich die Warnung stützte, hatten gezeigt, dass von je 7000 Frauen, welche die Vorgängerpille der zweiten Generation genommen hatten, eine Frau eine Thrombose bekam und dass die Zahl sich bei Frauen, die Pillen der dritten Generation nahmen, auf zwei erhöhte. Das heißt, die absolute Risikozunahme betrug nur 1 von 7000, während die relative Risikozunahme tatsächlich bei 100 Prozent lag.

Diese eine Warnung führte im folgenden Jahr in England und Wales zu geschätzten 13 000 (!) zusätzlichen Abtreibungen. Doch das Unheil währte länger als ein Jahr. Vor der Meldung gingen die Abtreibungsraten stetig zurück, aber danach kehrte sich dieser Trend um, und die Abtreibungshäufigkeit stieg in den folgenden Jahren wieder an. Die Frauen hatten das Vertrauen in orale Kontrazeptiva verloren, und die Pillenverkäufe gingen stark zurück. Nicht alle unerwünschten Schwangerschaften wurden abgebrochen; auf jede Abtreibung kam eine zusätzliche Geburt. Die Zunahme der Abtreibungen und der Geburten war besonders ausgeprägt bei Mädchen unter 16 – dort kam es zu 800 zusätzlichen Schwangerschaften.

Paradoxerweise bergen Schwangerschaften und Abtreibungen ein größeres Thromboserisiko als die Pillen der dritten Generation. Die Pillenangst schadete den Frauen, schadete dem National Health Service (dem britischen Gesundheitssystem) und sogar den Aktienkursen der Pharmaindustrie. Die durch Schwangerschaftsabbrüche verursachten Kosten für den National Health Service werden auf vier bis sechs Millionen Pfund geschätzt. Zu den wenigen Profiteuren gehören die Journalisten, die eine Geschichte für die Titelseiten hatten.

Die Tradition der Pillenängste dauert bis auf den heutigen Tag an, und immer bedient sie sich des gleichen Tricks. Die Lösung sind nicht bessere Pillen und raffiniertere Abtreibungstechniken, sondern risikokompetente junge Frauen und Männer. Es wäre nicht besonders schwierig, Teenagern den einfachen Unterschied zwischen einem relativen Risiko („100 Prozent“) und einem absoluten Risiko („1 von 7000“) zu erklären. Schließlich sind viele Leute, alte wie junge, mit Sportstatistiken verschiedenster Art vertraut - Prozentsatz der Asse beim Tennis oder des Ballbesitzes beim Fußball.

Doch bis auf den heutigen Tag gelingt es Journalisten, Ängste mit großen Zahlen zu wecken, woraufhin die Öffentlichkeit Jahr für Jahr auf vorhersehbare Weise in Panik gerät.

Die meisten Menschen erinnern sich genau, wo sie am 11. September 2001 waren. Die Bilder der Flugzeuge, die in die Zwillingstürme des World Trade Center krachen, haben sich unauslöschlich in unser Gedächtnis gegraben. Inzwischen scheint alles über den tragischen Angriff gesagt zu sein. Um künftige Angriffe zu verhindern, richtete der drei Jahre später veröffentlichte 9/11 Commission’s Report (Bericht der Untersuchungskommission zu den Anschlägen des 11. September) sein Augenmerk vor allem auf die Frage, wie sich der Terrorismus von Al Qaida entwickelte, und auf diplomatische Strategien, Justizreformen und technische Maßnahmen. Eine Maßnahme jedoch vernachlässigte der 636-seitige Bericht – nämlich risikokompetente Bürger.

Drehen wir die Uhr zurück auf den Dezember 2001. Stellen Sie sich vor, Sie leben in New York und möchten nach Washington, D. C., reisen. Würden Sie fliegen oder mit dem Auto fahren?

Wir wissen, dass viele Amerikaner nach dem Anschlag nicht mehr flogen. Blieben sie zu Hause oder stiegen sie ins Auto? Um eine Antwort zu finden, habe ich mir die Beförderungsstatistik angesehen. In den Monaten nach dem Anschlag nahmen die im Auto zurückgelegten Kilometer beträchtlich zu. Besonders deutlich war die Zunahme bei den ländlichen Interstate Highways, auf denen der Fernverkehr rollt: bis zu fünf Prozent in den drei Monaten nach dem Anschlag. Zum Vergleich: In den Monaten vor dem Anschlag (Januar bis August) waren die Zahlen für die individuellen Autokilometer pro Monat gegenüber 2000 nur um knapp ein Prozent angestiegen, was der üblichen jährlichen Zunahme entspricht. Diese zusätzliche Autonutzung hielt zwölf Monate an und ging dann wieder auf ihr Normalmaß zurück. Zu diesem Zeitpunkt war das Feuer in den Zwillingstürmen aus der täglichen Medienberichterstattung verschwunden.

Die Zunahme des Straßenverkehrs hatte ernüchternde Konsequenzen. Vor dem Anschlag entsprach die Zahl tödlicher Verkehrsunfälle weitgehend dem Durchschnitt der vorausgegangenen fünf Jahre. Doch in jedem der zwölf Monate nach dem 11. September lag die Zahl der tödlichen Unfälle über dem Durchschnitt und meist sogar noch höher als alle Werte aus den vorangegangenen fünf Jahren. Alles in allem sind etwa 1600 Amerikaner infolge ihrer Entscheidung, die Risiken des Fliegens zu vermeiden, auf der Straße umgekommen.

Diese Todesrate ist sechsmal so hoch wie die Gesamtzahl der Passagiere (256), die bei den vier Todesflügen starben. Alle diese Opfer des Straßenverkehrs könnten noch leben, wenn sie geflogen wären, statt sich für das Auto zu entscheiden. Von 2002 bis 2005 haben US-amerikanische Fluggesellschaften 2,5 Milliarden Passagiere befördert. Nicht ein einziger starb bei einem Flugzeugabsturz. Obwohl stets berichtet wird, bei den Anschlägen vom 11. September seien 3000 Amerikaner ums Leben gekommen, müsste man also eigentlich noch einmal die Hälfte dazurechnen.

Terroristen schlagen zweimal zu: zuerst mit physischer Gewalt und dann mithilfe unserer Gehirne. Der erste Schlag zieht die ganze Aufmerksamkeit auf sich. Für die Entwicklung riesiger bürokratischer Strukturen, wie der Homeland Security, und neuer Technologien, wie Ganzkörperscanner, die nackte Hautoberfläche unter der Kleidung sichtbar machen, hat man Milliarden ausgegeben. Der zweite Schlag hingegen bleibt fast unbemerkt. Bei den Vorträgen, die ich weltweit, von Singapur bis Wiesbaden, vor Nachrichtendiensten und Antiterrorbehörden über Risikomanagement hielt, zeigten sich meine Gastgeber immer wieder überrascht, weil sie diesen Aspekt nie berücksichtigt hatten. Bin Laden, der Gründer von Al Qaida, erklärte einmal genüsslich, wie wenig Geld er aufwenden musste, um Amerika einen ungeheuren Schaden zuzufügen: Al Qaida hat für das Unternehmen 500 000 Dollar ausgegeben, während Amerika durch den Vorfall und seine Folgen – nach zurückhaltendsten Schätzungen – mehr als 500 Milliarden Dollar verlor. Mit anderen Worten: Jeder Dollar von Al Qaida hat eine Million Dollar vernichtet. Es mag schwierig sein, Selbstmordattentate von Terroristen zu vereiteln, aber es ist gewiss leichter, sie daran zu hindern, unsere Gehirne als Waffen zu gebrauchen.

Welche psychologische Regel unseres Gehirns machen sich die Terroristen dabei eigentlich zunutze? Ereignisse mit geringer Eintrittswahrscheinlichkeit, bei denen viele Menschen plötzlich getötet werden, sogenannte Schockrisiken (Dread Risks ), bringen eine unbewusste Faustregel zur Anwendung: Wenn viele Menschen gleichzeitig sterben, reagiere mit Furcht und vermeide die Situation.

Dabei gilt die Furcht nicht dem Sterben an sich, sondern dem Umstand, dass viele Menschen zur gleichen Zeit – oder in kurzen Zeitabständen – gemeinsam ihr Leben verlieren. Bei solchen Anlässen, etwa den Anschlägen vom 11. September, reagiert unser evolutionär geprägtes Gehirn mit großer Angst. Doch wenn genauso viele oder mehr Menschen über einen längeren Zeitraum verteilt sterben, beispielsweise bei Auto- und Motorradunfällen, bleiben wir eher gelassen. Allein in den Vereinigten Staaten von Amerika sterben jedes Jahr rund 35 000 Menschen bei Verkehrsunfällen, trotzdem haben nur wenige Leute beim Autofahren Angst.

Woher kommt dieser Hang, Schockrisiken zu fürchten? Wahrscheinlich gab es eine Zeit in der Menschheitsgeschichte, als dies eine vernünftige Reaktion war. Über weite Strecken der Evolution lebten die Menschen in kleinen Verbänden von Jägern und Sammlern, die zwanzig bis fünfzig Personen umfassten und selten mehr als hundert Mitglieder aufwiesen – ähnlich entsprechenden Verbänden, die es heute noch gibt. In so kleinen Gruppen konnte der schlagartige Verlust vieler Leben das Risiko erhöhen, Raubtieren zum Opfer zu fallen oder zu verhungern, und damit das Überleben der ganzen Gruppe gefährden. Doch was in der Vergangenheit vernünftig war, muss es heute nicht mehr sein. In modernen Gesellschaften ist das Überleben des Individuums nicht mehr auf die Unterstützung und den Schutz von Kleingruppen oder Stämmen angewiesen. Trotzdem lässt sich diese psychologische Reaktion immer noch leicht hervorrufen. Bis auf den heutigen Tag sind reale oder vorgestellte Katastrophen in der Lage, Panikreaktionen auszulösen.

Wie können so viele Menschen ungewollte Schwangerschaften und Abtreibungen in Kauf nehmen, weil sie den Unterschied zwischen relativen und absoluten Risiken nicht kennen? Warum wiederholt sich die Angst vor Schockrisiken mit jeder neuen Bedrohung, vom Rinderwahnsinn über SARS bis zur Vogelgrippe, in einem scheinbar endlosen Kreislauf. Warum lernen die Menschen nicht?

Nach Meinung vieler Experten sind die Menschen hoffnungslos überfordert. Versuche, sie von ihren Irrtümern zu befreien, schlügen in der Regel fehl. Ausgehend von dieser zutiefst pessimistischen Einschätzung der allgemeinen Öffentlichkeit, präsentiert eine Veröffentlichung von Deutsche Bank Research eine Liste mit Verstößen, die wir „Homer Simpsons“ gegen die Vernunft begehen. In populärwissenschaftlichen Büchern hat man diese Botschaft rasch aufgegriffen und verkündet nun, Homo sapiens sei „vorhersagbar irrational“ und brauche „Anstöße“ zum vernünftigen Verhalten durch die wenigen zurechnungsfähigen Menschen auf der Erde.

Ich sehe das anders. Unser Bildungssystem ist erschreckend blind im Hinblick auf Risikointelligenz. Wir lehren unsere Kinder die Mathematik der Sicherheit – Geometrie und Trigonometrie –, aber nicht die der Ungewissheit: Statistisches Denken. Und wir unterrichten unsere Kinder in Biologie, aber nicht in Psychologie, die ihre Ängste und Wünsche prägt. Selbst viele Experten sind nicht dazu ausgebildet, der Öffentlichkeit Risiken verständlich zu vermitteln, was höchst schockierend ist. Und es kann durchaus Interesse daran bestehen, die Menschen zu erschrecken: um einen Artikel auf die Titelseite zu bekommen, Menschen einzureden, die Abschaffung der Bürgerrechte sei legitim, oder ein Produkt zu verkaufen. Alle diese äußeren Gründe tragen zu dem Problem bei.

Der Text stammt aus dem Buch „Risiko“ von Gerd Gigerenzer. Es ist bei Bertelsmann erschienen (400 S., 19,90 Euro).
Der Text stammt aus dem Buch „Risiko“ von Gerd Gigerenzer. Es ist bei Bertelsmann erschienen (400 S., 19,90 Euro).

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Die gute Nachricht lautet: Es gibt eine Lösung. Wer hätte vor ein paar hundert Jahren gedacht, dass eines Tages so viele Menschen auf der Erde lesen und schreiben lernen würden? Jeder, der es will, kann risikokompetent werden.

„Kompetent“ heißt sachkundig, versiert und klug. Doch risikokompetent ist mehr, als gut informiert zu sein. Man braucht Mut, um einer ungewissen Zukunft zu begegnen, um sich gegen Experten zu behaupten und um kritische Fragen zu stellen. Wir können die Fernbedienung für unsere Emotionen wieder selbst in die Hand nehmen. Es bedarf einer gewaltigen psychologischen Umstellung, um den eigenen Verstand ohne Anleitung durch andere zu nutzen. Eine solche innere Revolution sorgt für mehr Aufklärung und weniger Angst im Leben.

Gerd Gigerenzer ist Direktor am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung in Berlin. Der Text entstammt seinem neuen Buch „Risiko“. Es ist bei Bertelsmann erschienen (400 S., 19,90 Euro).

Gerd Gigerenzer

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