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Wolfgang Thierse

© Thilo Rückeis

Universität: Lenin ließ für Humboldt keinen Platz

Zeitzeugen berichten vom Studium an der Humboldt-Universität

Hatte ein Philosophiestudium in der DDR noch mit Philosophie zu tun – oder war das ein marxistisch-leninistisches Pflichtprogramm? Drei Zeitzeugen diskutierten über diese Frage in der Humboldt-Universität. Zeitzeugen, die in den 1960er und 1970er Jahren an der Vorzeigeuniversität der DDR studiert hatten und nun im Jubiläumsjahr des 200-jährigen Bestehens der HU Bilanz zogen. Die Philosophie, die sie suchten, fanden sie eher in Vorlesungen der Theologen, Germanisten und Kunsthistoriker. Dass sie in dem durchorganisierten Studium für solche Ausflüge in andere Fächer noch Zeit hatten, das ist für sie eine der wenigen angenehmen Erinnerungen an diese Zeit.

Guntolf Herzberg, heute emeritierter Philosophieprofessor der Nachwende- HU, nannte die Prioritäten, die den Studierenden verordnet wurden: Lenin, Engels, Marx – in dieser Rangfolge. Im Stundenplan wechselten Grundkurse im Marxismus-Leninismus mit Kursen der politischen Ökonomie. Die großen Philosophen von Platon bis Hegel wurden als überholte Idealisten abgetan. Herzberg, zu Beginn seines Studiums noch SED-Mitglied, wurde aus der Partei ausgeschlossen und erhielt Berufsverbot.

Wolfgang Thierse, heute Vizepräsident des Bundestages und damals Student der Kulturwissenschaften und Germanistik, berichtete, dass in einem Hörsaal das Motto an der Wand geschrieben stand: „Der Marxismus ist allmächtig, weil er wahr ist.“ Das habe einschüchternd wirken sollen. Der Marxismus sei in der DDR weniger als kritische Wissenschaft, sondern als ideologische Leitwissenschaft gelehrt worden.

Thierse hatte sich seinen Studienplatz hart erkämpfen müssen, weil er als gläubiger Christ von vornherein als ideologisch unzuverlässig eingestuft wurde. Zunächst musste er in die Produktion und sich zum Schriftsetzer ausbilden lassen. Als Thierse später in die Akademie der Wissenschaften der DDR abgeschoben wurde, schlug ihm weiter das Misstrauen der Partei entgegen: Da er nicht Mitglied der SED werden wollte, war er von Auslandsreisen ausgeschlossen und bekam auch keinen Zugang zu Westliteratur.

Der Verleger Christoph Links berichtete von der Schwierigkeit in Seminaren, in denen die Stasi mithörte, kritische Gespräche zu führen. Von Humboldts Geist sei da nichts zu spüren gewesen, sagte Links. Besonders erniedrigend für unabhängige Geister waren sogenannte Solidaritätserklärungen: Als 1976 der Liedermacher Wolf Biermann ausgebürgert wurde, sollten die Intellektuellen das auf Unterschriftenlisten billigen. Etliche, darunter auch Christoph Links, entzogen sich dieser Peinlichkeit durch Krankmeldung.

Auch Wolfgang Thierse erlebte diese Demütigung, als nach dem Einmarsch der Sowjettruppen zur Niederschlagung des Prager Frühlings 1968 Jubelerklärungen verlangt wurden, in denen der Abscheu vor dem Revisionismus ausgedrückt werden sollte. Thierse sprach von „Formen der Erniedrigung“ und erzwungener „ideologischer Arschkriecherei“.

An einer Universität, an der die Kreisleitung der SED das Sagen hat, in der das Zentralkomitee den jeweiligen Rektor auswählen konnte und Forschungspläne vom Zentralkomitee der SED beschlossen wurden, war in der Sicht von Thierse wenig Raum, um den Geist der Brüder Humboldt an der berühmten Universität Unter den Linden zu bewahren. Kein Wunder, dass in der Zeit der Wende die Universitäten nicht zu Zentren des Widerstandes wurden. An den Hochschulen saßen diejenigen, die Karriere machen wollten. Die Opposition hatte sich in Hinterzimmern und in den Kirchen organisiert.

Herzberg erinnerte an die Wendezeit: Als die Bürger der DDR schon auf den Straßen demonstrierten, hielten die Philosophen der DDR einen Kongress ab, auf dem die vorher mit dem Zentralkomitee der SED abgestimmten Referate unverändert gehalten wurden. Herzbergs Fazit: Weder 1968 in der Folgezeit des Prager Frühlings noch 1989 beim Fall der Mauer habe die Humboldt-Universität zur revolutionären Veränderung etwas beigetragen.

Mit Jan-Hendrik Olbertz hat die HU einen Erziehungswissenschaftler und Bildungspolitiker zu ihrem neuen Präsidenten gewählt, dem für seine wissenschaftlichen Arbeiten aus der DDR-Zeit Opportunismus vorgeworfen wird. Diese Koinzidenz aber war kein Thema beim Zeitzeugengespräch. Uwe Schlicht

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