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Nicht nach Plan. Schülerinnen und Schüler lernen in diesem Jahr ständig neue Verhaltensregeln zum Schutz vor dem Coronavirus.

© mauritius images / Wavebreakmedia

Unterricht in der Corona-Pandemie: Stehen Deutschlands Schulen vor dem Lockdown?

Die Schulen sollen geöffnet bleiben – das verspricht die Politik. Doch ganze Klassen müssen inzwischen daheim bleiben, viele Lehrer fallen aus.

Die Schulen bleiben offen, sie werden vom (Teil-)Lockdown verschont – das ist das große Versprechen, das die Politik gegeben hat: Viele Eltern setzen darauf, und auch für den Bildungserfolg der Kinder wäre das wichtig. Aber kann die Politik ihr Versprechen halten?

Immer mehr Schülerinnen und Schüler und Lehrkräfte müssen in Quarantäne, immer mehr ganze Schulen werden geschlossen. Von einem „Salami-Lockdown“ spricht Heinz-Peter Meidinger, Präsident des Deutschen Lehrerverbandes, in der „Bild“-Zeitung: Die Politik habe sich zurückgezogen und würde die Schulen alleine lassen.

Wie ist die Situation an den Schulen?

Mehr als 300.000 Schüler und bis zu 30.000 Lehrkräfte befinden sich bundesweit in Quarantäne: Davon geht der Lehrerverband aus. Ende September waren es noch etwa 50.000 Schülerinnen und Schüler. Einen genauen bundesweiten Überblick konnte die Kultusministerkonferenz (KMK) am Mittwoch nicht geben.

In Berlin waren am vergangenen Freitag 365 Lerngruppen wegen Corona-Infektionen geschlossen. Zahlen, wie viele Schülerinnen und Schüler das betrifft, nennt die Bildungsverwaltung nicht. Hochgerechnet dürften das in Berlin etwa 10.000 von rund 360.000 Schülerinnen und Schülern sein. Es wird aber von Schulen berichtet, an denen wegen Quarantäne-Fällen bereits 30 Prozent der Lehrer fehlen.

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Die KMK geht seit langem davon aus, dass Schulen „kein Treiber“ der Pandemie sind. Dass diese Auffassung womöglich zu optimistisch ist, zeigt eine interne Einschätzung der Corona-Infektionslage durch die Bundesregierung, die dem Tagesspiegel vorliegt. Insgesamt wird da zwar von einem „diffusen Geschehen“ ausgegangen. Dennoch werden bei sieben der 15 Stadt- und Landkreise mit den höchsten Infektionsraten explizit auch Ausbrüche an Schulen im Zusammenhang mit den steigenden Zahlen genannt. So heißt es zum Stadtkreis und zum Landkreis Rosenheim: „Infektionsübertragungen ereignen sich überwiegend im privaten Umfeld und in Schulen.“ Auch Hagen meldet „vermehrt Ausbrüche in Schulen und Kindertageseinrichtungen“.

Ein weiteres in dem Bericht genanntes Beispiel ist der Landkreis Cloppenburg. Das Infektionsgeschehen dort geht ursprünglich auf einen Ausbruch in einer Sportmannschaft vor anderthalb Monaten zurück, sagt ein Sprecher des Landkreises auf Nachfrage. Deren Mitglieder gaben das Virus dann in Familien und Schulen weiter. Die Ausbrüche ließen sich irgendwann nicht mehr kontrollieren – auf dem Höhepunkt musste ein Gymnasium geschlossen werden sowie der Teil einer Berufsschule, der sich im selben Gebäude befand. An anderen Schulen befanden sich ganze Jahrgänge in Quarantäne.

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Wie debattiert die Politik die Situation?

Die KMK bleibt dabei: Ein Schließen der Schulen soll vermieden werden. „Es ist unser Ziel, das Recht auf Bildung so lange wie möglich in Schule und Kita zu verwirklichen. Lernen und Lehren im Präsenzunterricht, aber auch das soziale Miteinander sind zentral für die Entwicklung der Kinder und Jugendlichen“, erklärte KMK-Präsidentin Stefanie Hubig (SPD). Die Länder hätten „zusätzliche Maßnahmen“ ergriffen, um den Präsenzunterricht möglich zu machen“.

Genau das bezweifeln Kritiker wie Lehrerverbandschef Meidinger. Die Länder hätten vielmehr ihre eigenen Stufenpläne, die entsprechend der RKI-Empfehlungen unter anderem halbierte Klassen in Corona-Hotspots vorsehen, außer Kraft gesetzt.

Gibt es einen Plan B für Berliner Schulen?

Regelunterricht ist nicht mehr überall praktikabel. Der Plan B besteht darin, auf den Unterricht zu Hause umzuschalten. Das bedeutet vielerorts, dass Schüler – inbesondere an Grundschulen – Arbeitsblätter für zu Hause bekommen, wie schon im Frühjahr. Viele Schulen haben den Sommer genutzt, um sich mit ihren Schülern auf digitalen Plattformen neue Kommunikations- und Lernmöglichkeiten aufzubauen. Dennoch wäre für die Berliner Bildungssenatorin Sandra Scheeres (SPD) eine komplette Schulschließung nicht verantwortbar: Zu groß sei das Risiko, dass große Lernlücken, soziale Verwahrlosung und häusliche Gewalt zunähmen.

Der Parlamentarische Geschäftsführer der Berliner SPD-Fraktion, Torsten Schneider, behauptete aber am Mittwoch im Hauptausschuss, dass es keine „Studie“ gebe, die beweise, dass häusliche Gewalt während der Schulschließungen tatsächlich zugenommen habe. Er kritisierte vehement Scheeres’ Bestreben, die Schulen offen zu lassen: Laut Berliner Stufenplan sollen die Schulen auch bei starkem Infektionsgeschehen nicht schließen, sondern nur die Lerngruppen halbieren.

In Polen sind die Schulen schon wieder geschlossen.
In Polen sind die Schulen schon wieder geschlossen.

© Darek Delmanowicz/PAP/dpa

Was wissen wir über die Ansteckungsgefahr bei Kindern?

Die Frage nach der Infektiösität von jüngeren Kindern ist so wichtig, weil sie auch darüber entscheidet, ob man in Grundschulen weniger Maßnahmen als in weiterführenden Schulen ab der fünften Klasse verantworten könnte. Dass Teenager infektiöser sind, ist inzwischen bekannt. Auch Kinder unter zehn Jahren können sich mit Sars-CoV-2 infizieren und dann auch an Covid-19 erkranken, entwickeln aber fast immer nur leichte Symptome, es gab auch schon größere Ausbrüche an Grundschulen, etwa an einer Privatschule in Santiago de Chile Mitte März.

Von Kindern, die Symptome zeigten, ist bekannt, dass sie eine vergleichbare Viruslast im Rachen entwickeln wie Ältere und daher sehr wahrscheinlich auch infektiös sind. Ob Kinder, die sich infizieren, aber keine oder kaum erkennbare Symptome zeigen, ebenfalls infektiös sind, ist unklar. In einer Datensichtung von 19 Studien, veröffentlicht im Oktober, kommen Forscher aus Schottland um die Epidemiologin Muge Cevik zu dem Ergebnis, dass „asymptomatische Patienten Sars-CoV-2 an andere übertragen können, aber dass solche Individuen für weniger sekundäre Infektionen verantwortlich sind als Menschen mit Symptomen“.

Auf Kinder wird dort nicht speziell eingegangen, aber in einer anderen Datensichtung im Fachblatt „Journal of Infectious Diseases“ kommen Forscher zu dem Schluss, dass Kinder unter zehn Jahren nach Studienlage weniger empfänglich und auch weniger infektiös sind. Sie warnen aber davor, dass die Datenlage auch ein falsches Bild zeichnen könne, da Kinder aufgrund der geringeren Symptome oft ungetestet bleiben und damit in den Studien übersehen werden könnten. So fand eine Studie des Helmholtzzentrums München mit Hilfe von Antikörpertests in Bayern sechsmal mehr infizierte Kinder, als dort gemeldet waren.

Cevik et al. weisen auch darauf hin, dass Ausbrüche an Grundschulen möglich sind, dokumentiert etwa an einer Privatschule in Santiago de Chile Mitte März, wo 52 Infektionen festgestellt wurden, davon sieben Schülerinnen und Schüler. Antikörperuntersuchungen zeigten, dass 9,9 Prozent der 1009 Beschulten sich infiziert hatten und zwar umso mehr, umso jünger. Von den rund 100 Antikörper-positiven Schülern hatten 40 keine Symptome bemerkt. Ob sie das Virus dennoch weitergaben, ist unklar, die Forscher meinen, das Infektionsgeschehen sei vor allem von Lehrerpersonal und Eltern getragen worden.

[Die aktuellen Zahlen: Für Deutschland trägt der Tagesspiegel die Zahlen live aus allen Landkreisen zusammen. Demnach gab es Stand Mittwochabend (11.11.2020) 247.009 aktive Fälle. Weltweit gibt es der Johns-Hopkins-Universität nach rund 51,6 Millionen Infektionsnachweise und mehr als 1,27 Millionen Menschen starben an oder in Verbindung mit einer Covid-19-Erkrankung.]

Maskenpflicht. Inzwischen raten immer mehr Wissenschaftlicher zum Tragen eines Mund-Nasen-Schutzes auch im Unterricht.
Maskenpflicht. Inzwischen raten immer mehr Wissenschaftlicher zum Tragen eines Mund-Nasen-Schutzes auch im Unterricht.

© mauritius images / Cavan Images

Wie könnten die Schulen auch bei steigenden Infektionszahlen einem Lockdown entkommen?

Der stark betroffene Landkreis Cloppenburg gibt hier Hinweise. Das Infektionsgeschehen an den Schulen habe man dort wieder „gut einfangen“ können, heißt es. Geholfen hätte insbesondere das Einführen einer Maskenpflicht für Kinder ab der 5. Klasse, die teilweise sogar auf dem Schulweg gelte: „Seitdem ist es wesentlich ruhiger.“ Der Landkreis habe 21 zusätzliche Busse im Einsatz, um Gedränge in den Fahrzeugen zu vermeiden. Inzwischen gelte Wechselunterricht – ein Teil der Schüler wird vor Ort unterrichtet, der andere daheim.

Eine Maskenpflicht im Unterricht hält bei der aktuellen Lage auch Jörg Timm, Leiter des Instituts für Virologie der Uni Düsseldorf, für notwendig. Die Verkleinerung und Trennung von Lerngruppen sei ebenfalls sinnvoll. Als Virologe könne er aber nicht wirklich beurteilen, ob die Umsetzung solcher Konzepte in Schulen praktisch möglich sei. Tatsächlich fehlen dafür vielerorts sowohl Räume als auch Lehrkräfte – von den technischen Voraussetzungen für einen digitalen Unterricht für die Hälfte der Klasse, die von zuhause aus lernen müsste, ganz zu schweigen.

Welche Risiken stehen dem möglichen Nutzen einer Maskenpflicht gegenüber?

Um Schulen und Kitas trotz steigender Infektionszahlen in der Corona-Pandemie offenzuhalten, wird erwogen die Maskenpflicht an Schulen auszuweiten. Lehrende und Lernende sollen Mund-Nasen-Bedeckungen tragen, um Übertragungen von Sars-CoV-2 zu begrenzen. „Das Tragen eines Mund-Nasen-Schutzes, regelmäßiges Lüften sowie eine Trennung der Gruppen sind nach aktuellen Erkenntnissen sinnvoll, um Infektionsraten zu verringern“, sagte Folke Brinkmann vom Universitätsklinikum der Ruhr-Universität Bochum.

Bei konsequentem Tragen eines Mund-Nasen-Schutzes sei es möglich, die Zahl der Kontaktpersonen mit hohem Infektionsrisiko, die sich in Quarantäne begeben müssen, auf die in direkter Umgebung Sitzenden einzugrenzen, so die Oberärztin für Pädiatrische Pneumologie und Allergologie, die selbst Mutter eines Schulkindes ist.

Bei Auftreten eines Falles könnte die übrige Klasse also weiter unterrichtet werden. „Eine Maskenpflicht im Unterricht halte ich bei der aktuellen Lage für notwendig und gehe davon aus, dass diese Maßnahme für den Infektionsschutz effektiv ist“, sagt auch Jörg Timm, leitender Virologe am Universitätsklinikum Düsseldorf. Ob dem so ist, muss sich noch erweisen. Bislang lässt die Datenlage keine sicheren Aussagen zu. Welche Risiken stehen dem möglichen Nutzen gegenüber?

„Es gibt Situationen, die durch die Maskenpflicht im Unterricht erschwert werden“, sagt Jörg Ramseger von der FU Berlin. Dazu gehöre etwa der Erstleseunterricht, so der Grundschulpädagoge, weil Kinder auf klare Artikulation sowohl der Lehrerin als auch der Mitschüler angewiesen sind. Außerdem könnten Kinder mit Hörbeeinträchtigungen und anderssprachig aufgewachsene Kinder nicht vom Mund sprechender Personen ablesen.

Für diese Schülergruppe bedeutete die Maskenpflicht im Grundschulunterricht „eine enorme Beeinträchtigung des Lernens“. Für gesundheitliche Schädigungen gibt es bislang keine Belege. „Nach den bisherigen Erfahrungen scheint es unstrittig, dass die Kinder mit den Masken problemlos umgehen können und keinen Schaden nehmen“, sagt Ramseger.

Wenn die Masken zu eng sitzen oder zu undurchlässig sind, kann die Atmung beeinträchtigt werden, was zu Kopfschmerzen oder Müdigkeit führen kann. Kohlendioxidvergiftungen oder gar Ersticken sind nicht zu befürchten. Eine im Fachmagazin „International Journal of Environmental Research and Public Health“ veröffentlichte Studie an Erwachsenen ergab, dass Maskentragen bei Ausdauersport die Sauerstoffversorgung von Blut und Muskeln nur minimal senkt.

Allerdings sollten Kinder Gelegenheit haben, die Maske zweitweise auszuziehen, etwa wenn das Klassenzimmer gelüftet wird. So kann auch Schmerzen durch die Gummibänder vorgebeugt werden. Kranke Kinder mit Husten sollten vorsorglich nicht am Unterricht teilnehmen. Coronaviren durchdringen Stoffmasken und auch medizinische Mund-Nase-Bedeckungen bei Husten, zeigt ein im Fachjournal „Annals of Internal Medicine“ beschriebener Versuch mit vier erkrankten Patienten.

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