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Urvogel: Flieg, Dino, flieg

Wie aus Dinosauriern Vögel wurden, versuchen Forscher an Hand von Fossilien herauszufinden. Das berühmteste Fundstück wird jetzt 150 Jahre alt: Der in Berlin ausgestellte Archaeopteryx, die "Mona Lisa der Paläontologie". Just im Jubiläumsjahr muss er aber Federn lassen.

Am Anfang war eine Feder. Im August 1861 gab Hermann von Meyer den Fund des versteinerten Abdrucks einer einzelnen Vogelfeder bekannt, die ein Jahr zuvor in einem Steinbruch des Solnhofener Plattenkalks in Bayern entdeckt worden war. Er gab ihr den Namen Archaeopteryx lithographica – die aus Lithographenkalk stammende Ur-Feder.

150 Jahre später ist das Tier Archaeopteryx zu einem Star avanciert. Mit Sonderbriefmarken und Gedenkmünzen wird der „Mona Lisa der Paläontologie“ gedacht. Und bis heute wird über das 147 Millionen Jahre alte Fossil gestritten. Mit den beiden ungleichen Fahnen zu beiden Seiten des Mittelschaftes weist die Urfeder Merkmale auf wie die Handschwingen aktiv fliegender, moderner Vögel. Für die einen ein Beweis, dass Archaeopteryx bereits richtig fliegen konnte. Andere verweisen darauf, dass den später gefundenen Skeletten etwa der vogeltypische Brustbeinkamm fehlt; an diesem setzt von beiden Seiten die kräftige Flügelmuskulatur an. Ohne diesen Kamm, so glauben einige, kein Aufsteigen in die Lüfte.

Nachdem noch 1861 ein erstes Skelett von Archaeopteryx entdeckt wurde (das nach seinem späteren Aufbewahrungsort benannte „Londoner Exemplar“), sind bis heute zehn Fossilien des urtümlichen Federviehs gefunden worden, die alle aus derselben Region des Altmühltals in Bayern stammen. Zur Ahnengalerie urzeitlicher Vögel kam 1875 auch das berühmte „Berliner Exemplar“ – das dank seines wunderbaren Erhaltungszustandes schönste Exemplar des Archaeopteryx. Dieses zweite Stück löste das Rätselraten um den Bau der Urvogel-Schädel; der nämlich fehlte dem Londoner Fossil noch.

So spektakulär jeder der Neufunde war, so wenig grundsätzlich Neues erfuhren die Forscher durch diese Fossilien über die Verwandtschaft von Vögeln und Reptilien. Erst mit einer Reihe von Funden aus China ist seit Ende des 20. Jahrhunderts gleichsam Bewegung in die versteinerte Urvogel-Schar gekommen. Mit diesen etwa 20 Millionen Jahre jüngeren Fossilien aber hat der Archaeopteryx bislang nur Gesellschaft bekommen. Jetzt droht wirkliche Konkurrenz.

Ausgerechnet in das Jubiläumsjahr des Archaeopteryx platzte vergangene Woche die Nachricht vom Absturz des vermeintlichen Urvogels: Zu Unrecht und allzu lange sei Archaeopteryx als Ahne aller Vögel angesehen worden. Das beweise ein neuer Fossilfund aus China. Im Wissenschaftsmagazin „Nature“ berichteten chinesische Wissenschaftler von Xiaotingia zhengi, einem gefiederten Ur-Vieh. Die fossilen Überreste des etwa hühnergroßen Sauriers stammen aus der Tiaojishan-Formation in der nordostchinesischen Provinz Liaoning. Das Fossil weist neben reptilienähnlichen Merkmalen wie etwa bezahnten Kiefern auch Federabdrücke auf. Mit geschätzten 155 Millionen Jahren könnte es noch älter sein als Archaeopteryx – und ihm damit den Rang als erdgeschichtlich ältester Vogel ablaufen.

Um die verwandtschaftliche Stellung innerhalb der vogelähnlichen Reptilien und die stammesgeschichtliche Beziehung zu Archaeopteryx zu klären, haben die chinesischen Paläontologen eine morphologisch-kladistische Analyse durchgeführt. Dabei werden mittels Computerprogramm die jeweiligen Merkmalskombinationen einzelner Arten miteinander verglichen und der wahrscheinlichste Stammbaum errechnet. Daraus lässt sich ablesen, wie diese Tiere miteinander verwandt sein könnten. Dieses mittlerweile vielfach bewährte Standardverfahren der Systematik führte zu einem überraschenden Befund: Nicht nur das neue chinesische Fossil Xiaotingia, sondern auch das Geburtstagskind Archaeopteryx steht einer Gruppe von Urechsen, den sogenannten Deinonychosauriern, verwandtschaftlich näher als den späteren Vögeln. Kurz: Der vermeintliche Ur-Vogel war gar kein Vogel, sondern ein Raub-Saurier mit Federn.

Überraschend war das allerdings nur, weil sich in den letzten Jahren der Irrtum hartnäckig gehalten hat, Archaeopteryx werde von Forschern als der Ursprung aller Vögel angesehen. Seit langem schon suchen Systematiker die Ahnen der heute lebenden Vögel innerhalb der durchaus weitläufigen Verwandtschaft der Kriechtiere – und hier vor allem unter den vor 65 Millionen Jahren ausgestorbenen Dinosauriern. Und auf den ersten Blick scheint Archaeopteryx, der ein Mosaik von Merkmalen sowohl altertümlicher Reptilien als auch moderner Vögel aufweist, ein guter Kandidat.

Tatsächlich sind Experten aber schon seit vielen Jahren überzeugt, dass der vermeintliche „Ur-Vogel“ aus dem Solnhofener Plattenkalk kein direkter Vorfahre und Stammlinien-Vertreter sein kann, der einst unmittelbar zu den heutigen Vögeln führte. Vielmehr sehen sie das einstige Vorzeige-Fossil zusammen mit jüngeren Funden kleiner Saurier als Hinweis auf ein breites evolutionäres Übergangsfeld während der Jura-Zeit. Damals haben sich aus den ersten befiederten Sauriern vermutlich auf verschlungenen Pfaden und in verschiedenen Weltregionen in unterschiedlicher Weise fliegende oder gleitende Wesen entwickelt, aus denen dann später während der Erdneuzeit und nach dem Ende der eigentlichen Dinosaurier die modernen, heute noch lebenden Vögel entstanden.

Rätselhaft ist weiterhin, welchen Vorteil bodenlebende Reptilien, die selbst noch nicht fliegen konnten, von den Flügeln hatten. Die Flügel schwingend dürfen wir uns die ersten „Ur-Vögel“ jedenfalls nicht vorstellen. Viele Forscher sind inzwischen überzeugt davon, dass auch Archaeopteryx noch ein eher mäßiger bis schlechter Flieger war, wohl nur zu kurzen Flatterflügen oder gar nur zum Gleitflug fähig. Die Ur-Vögel, wer immer sie genau waren, könnten einst auf Bäume hinaufgeklettert sein und von dort mittels ausgebreiteter Schwingen herabgeglitten sein. Just die besonderen Fundumstände des Archaeopteryx in einer Lagunenlandschaft nahe dem Meer legen allerdings nahe, dass es wenigstens in seinem Lebensraum gar keine Bäume gab. Ob der Vogelflug einst passiv gleitend von den Bäumen hinab oder doch aktiv auffliegend vom Boden hinauf entstand, ist mithin noch immer vehement umstritten.

Vor diesem Hintergrund ist der neue chinesische Fund weniger eine echte Sensation als vielmehr ein willkommenes Geburtstagsgeschenk für den Archaeopteryx. Denn die jetzt dank der neuen Fossilfunde möglich gewordene systematische Verwandtschaftsanalyse bestätigt, was Paläontologen bereits seit einigen Jahren vermuten: Zur Zeit des Jura vor rund 150 Millionen Jahren tummelten sich auf der Erde eine Vielzahl kleiner, befiederter Saurier mit durchaus unterschiedlichem Körperbau und distinkter Lebensweise – einschließlich der Art ihrer Befiederung und Ernährung.

In den letzten Jahren tauchten neben kleinen pflanzenfressenden Saurier-Verwandten auch weitere räuberische Fleischfresser auf. Zu diesen dürfte Archaeopteryx gehört haben, in dessen spitz zulaufender Schnauze ebenso wie bei dem chinesischen Xiaotingia spitze Zähne standen. Vor allem deswegen werden beide in der jüngsten Stammbaum-Analyse zu den sogenannten Deinonychosauriern gestellt – eine illustre Verwandtschaft, zu der einst auch die in Spielbergs „Jurassic Park“ so eindrucksvoll in Szene gesetzten Velociraptoren gehörten.

Dagegen stammen die eigentlichen Vögel – unabhängig davon, ob sie sich heute räuberisch oder vegetarisch ernähren – sehr wahrscheinlich von einer Gruppe früher pflanzenfressender Vogel-Vorfahren ab. Diese sogenannten Avialae zeichnen sich durch einen breiteren, kastenförmigen Schädel mit flacher Schnauze aus. Als den wahrscheinlichsten Kandidaten aus dieser Gruppe, der nahe der Evolutionslinie hin zu den heutigen Vögeln steht, haben die wenigen Experten auf diesem Forschungsgebiet jüngst ein ebenfalls spätjurassisches Fossil namens Epidexipteryx ausgemacht. Auch dieses Tier wurde erst kürzlich in China entdeckt.

Epidexipteryx oder ein nahe verwandtes Fossil dürfte nun wohl auch in populärwissenschaftlichen Darstellungen die Rolle als Stamm-Mutter aller modernen Vögel einnehmen – und Archaeopteryx auf jenen Platz in der Ahnengalerie verweisen, an den er tatsächlich gehört: als am Geschehen nicht unmittelbar Beteiligter, aber als Zeit-Zeuge eines spannenden Kapitels in der Evolution der Vögel.

Immerhin aber weist die Solnhofener „Ur-Feder“ geradezu ikonenhaft jene buchstäblichen „Triebfedern“ der Evolution auf, die Vögel erst zu einer der erfolgreichsten Tiergruppen machten. Wie sich allerdings aus einer flachen, breiten Hautschuppe der Reptilien jenes beeindruckende Arsenal fein verästelter und zu ganz unterschiedlichen Zwecken eingesetzter Vogelfedern entwickeln konnte, ist das andere große Rätsel in der Evolution der Vögel.

Denn die eigentliche „Ur-Feder“ verkörpert auch Archaeopteryx nicht. Wie seine komplett mit Fahne und Mittelrippe ausgestatteten Schwungfedern zeigen, war die zum (Gleit-)Fliegen befähigende Feder bereits vor 150 Millionen Jahren komplett ausgebildet. Der neue Fund aus China macht einmal mehr deutlich, wie dringend Forscher entsprechende Fossilien aus jener noch ins Dunkel der Erdgeschichte getauchten Zeit etwa 10 bis 20 Millionen Jahre vor Archaeopteryx und Xiaotingia finden müssen, um diese Entwicklung nachzuvollziehen.

Bis dahin bleibt den Wissenschaftlern nur, zu spekulieren. So vermuten manche, dass Federn entstanden sind, um die Tiere vor allzu kräftiger Sonneneinstrahlung zu schützen, als eine Art Sonnensegel. Andere spekulieren, ob die zur Feder mutierenden Schuppengebilde nicht so etwas wie eine Sondermülldeponie waren. Darin könnten die Vogelahnen für den Körper giftige Schwefelverbindungen abgelagert haben, die aus ihrer mehr und mehr bevorzugten Nahrung, den Insekten, stammten. Das Fliegen, so viel ist jedenfalls sicher, kam hinterher. Am Anfang war eine Feder.

- Der Autor ist Evolutionsbiologe und Biosystematiker am Berliner Naturkundemuseum. Dort ist zurzeit auch das Original der „Ur-Feder“ Archaeopteryx in der Sonderausstellung „Federflug“ zu sehen.

Matthias Glaubrecht

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