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Vor einem Gebäude der Charité steht eine Gedenksäule mit Biografien von Mitarbeitern, die im Nationalsozialismus verfolgt wurden.

© Promo/Charité

Verfolgte Wissenschaftler: Die Charité gedenkt ihrer NS-Opfer

Ein Denkmal, gestaltet von namhaften Künstlern, ein Lehrpfad, Konferenzen und eine Gastprofessur: Die Berliner Universitätsklinik Charité will ihrer ehemaligen Mitarbeiter, die im Nationalsozialismus verfolgt und ermordet wurden, gedenken.

Frühjahr 1933: Wilhelm S. Feldberg, ein junger Assistenzarzt am Physiologischen Institut der Berliner Charité, erhält von seinem Chef die Kündigung. Noch am selben Tag soll er seine Sachen packen und die Klinik verlassen, fortan gilt Hausverbot für ihn. Jüdische Mitarbeiter sind nicht mehr erwünscht, das haben Klinikleitung und Direktoren einstimmig beschlossen. Sie zeigen damit vorauseilenden Gehorsam: Ein entsprechendes Gesetz ist bei ihrer Sitzung am 31. März 1933 noch nicht verabschiedet.

Feldberg, der seine Vertreibung in seinen Erinnerungen beschrieb, floh nach England und wurde dort ein bekannter Pharmakologe und Physiologe. An ihn und weitere vertriebene Mitarbeiter erinnert die Charité, Europas größtes Universitätsklinikum, mit zwei kürzlich aufgestellten Gedenksäulen. Sie sind Teil eines größeren Projektes mit dem Titel „Gedenkort.Charité“ (hier geht es zu dem Projekt). „Wir wollen ein Denkmal errichten, an einem zentralen Ort und von namhaften Künstlern gestaltet“, sagt Karl Max Einhäupl, Vorstandsvorsitzender der Klinik. Dazu solle ein musealer Teil mit einem Lehrpfad gehören, der Studierende und Ärzte zum Nachdenken über die Frage anrege, wie man als Mediziner dazu komme, sich in solche Verbrechen verwickeln zu lassen. Für die kommenden drei Jahre sind außerdem wissenschaftliche Projekte, die Einrichtung einer Gastprofessur, verschiedene Lehrveranstaltungen und öffentlichkeitswirksame Aktivitäten zum Thema geplant.

Erst jetzt befasst sich das Uniklinikum systematisch mit ihrer Rolle im NS

Seit der Wende haben Historiker Ereignisse an der Charité im Dritten Reich untersucht, doch erst jetzt befasst sich die Klinik systematisch mit ihrer eigenen Rolle im Nationalsozialismus. Auch an anderen Forschungseinrichtungen steht die Aufarbeitung erst am Anfang: Zwar entstanden schon in den 70er Jahren Studien über verschiedene Universitäten im Dritten Reich, doch waren diese dem Engagement einzelner Wissenschaftler zu verdanken. Erst seit Ende der 90er Jahre sind Hochschulen selbst aktiv.

Auch an der Charité wurden Zwangsarbeiter beschäftigt

Warum erst so spät? Der Wissenschaftshistoriker Rüdiger vom Bruch, emeritierter Professor der Humboldt-Universität, sieht mehrere Gründe. „Man hat sich häufig einfach nicht getraut, Fragen zu stellen, weil verehrte Lehrer betroffen waren. Vermeintliche Lichtgestalten aller Fächer waren stärker in die NS-Verbrechen verstrickt, als viele es wahrhaben wollten.“ Dabei zeigten viele Wissenschaftler früh Sympathie mit den Nazis und stellten sich in den Dienst des Regimes. Auch an der Charité wurden Zwangsarbeiter beschäftigt, es gab Rassenforschung, Menschenversuche und Zwangssterilisationen.

Als eine der ersten Wissenschaftseinrichtungen ließ 1997 die Max-Planck-Gesellschaft eine Arbeitsgruppe zur Erforschung ihrer eigenen Vergangenheit einrichten. Die Initiative, vom damaligen Präsidenten Hubert Markl gegen erheblichen Widerstand aus den eigenen Reihen durchgesetzt, veranlasste andere Forschungseinrichtungen, ebenfalls ihre Rolle im Dritten Reich untersuchen zu lassen. „Das geschah nicht unbedingt aus einem persönlichen Schuldgefühl heraus, sondern weil öffentliche Angriffe so stark geworden waren, dass man meinte, es ist besser, wenn wir selber eine neutrale oder unbefangene Untersuchung von Fachhistorikern in Auftrag geben“, sagt vom Bruch. Lange hatten sich Wissenschaftler auf die Verfehlungen einzelner Personen konzentriert, nun gerieten Institutionen als Täter-Instanzen in den Blick.

Über entlassene und verfolgte Pflegekräfte weiß die Charité wenig

Informationen über vertriebene Professoren ließen sich meist schnell zusammentragen, doch bei anderen Mitarbeitern sei die Quellenlage schwierig, sagt der Medizinhistoriker Udo Schagen vom Fachbereich Medizingeschichte der Uni-Klinik, der das Projekt Gedenkort.Charité fachlich betreut: „Hier an der Charité kennen wir mittlerweile die Namen von über 180 vertriebenen Ärzten, aber darunter sind nur wenige Assistenzärzte. Wir wissen auch nicht, wie viele Pflegekräfte entlassen wurden.“

Der Anteil jüdischer Ärzte und Krankenschwestern war in Berlin sehr hoch. Den meisten Ärzten, deren Schicksal bekannt ist, gelang aufgrund ihrer finanziellen Ressourcen und persönlichen Verbindungen die Flucht ins Ausland. Ein beruflicher Neuanfang war dort jedoch meist nicht leicht, sagt Schagen: „Häufig kamen sie in Länder, in denen sie ihren Beruf nicht ausüben durften. Teilweise studierten sie noch einmal, teilweise lebten sie in Abhängigkeit von anderen Menschen.“

Einhäupl hofft, dass heutige Mediziner aus der Geschichte lernen

Von den nicht-jüdischen Ärzten wagte es kaum jemand, sich öffentlich gegen den Nationalsozialismus zu stellen. Selbst berühmte Wissenschaftler der Charité, wie der Chirurg Ferdinand Sauerbruch oder der Psychiater Karl Bonhoeffer, stützten zentrale Aspekte der nationalsozialistischen Medizinpolitik wie Menschenversuche in Konzentrationslagern und Zwangssterilisationen.

Dass sich Studierende heute auch mit dem Verhalten von Ärzten im Dritten Reich auseinandersetzen, ist für Karl Max Einhäupl ein wichtiger Teil der Ausbildung in medizinischer Ethik. „Solche Verstöße beginnen häufig mit einer kleinen Verschiebung ethischer Normen. Man muss sich darüber klar werden, dass das manchmal der erste Schritt hin zu einer Entwicklung ist, die historische Dimensionen annehmen kann“, sagt der Charité-Chef. Das Gedenkort-Projekt soll deshalb nicht nur an die Vertriebenen erinnern, sondern auch einer neuen Generation von Ärzten als Mahnung dienen.

Bianca Schröder

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