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Abwesendes Elternteil. Die Inhaftierung bestraft gleichzeitig die Kinder der Strafgefangenen. Sie belastet die Trennung von Vater oder Mutter sehr.

© picture alliance/ dpa

Verlorene Jahre: "Mein Papa ist im Knast!"

Wenn der Vater im Gefängnis sitzt, lastet das schwer auf den Kindern. Was ihnen dann am meisten hilft: eine Schulter zum Anlehnen. Auch die vom Vater.

Fragt jemand Simon und Evi* nach ihrem Vater, antworten sie, als wäre es ein Leichtes. „Mein Papa ist im Knast“, sagt das sechsjährige Mädchen und macht einen Purzelbaum. „Er ist im Gefängnis, weil er Drogen verkauft hat“, ergänzt ihr Bruder Simon, ohne zu zögern.

In ihrem Alltag spielt das kaum eine Rolle. Ballett, Völkerball, Schule und Kindergarten, das füllt ihre Tage. Und doch vermissen sie ihren Vater. Zum Beispiel als Simon mit seiner Mutter und Schwester am Mittagstisch saß. „Wir haben uns ,Guten Appetit‘ gewünscht und ich hab plötzlich gemerkt: Er fehlt mir“, sagt Simon. Wenn der Junge fernsieht, zappt er sich durch Detektivshows und Gerichtssendungen. Die Schurken darin verbüßen oft nur zwei, drei Jahre Jahre Haftstrafe. „Warum hat mein Papa acht Jahre bekommen?“, das fragt sich Simon jedes Mal.

Er und seine Schwester sind zwei von zehntausenden Kindern in Deutschland, deren Vater oder Mutter im Gefängnis sind. Diese Kinder sind hin- und hergerissen: zwischen Liebe und Wut, zwischen Sehnsucht und Angst, zwischen Hoffnung und Enttäuschung. Ein sehr wichtiger Mensch verschwindet plötzlich aus ihrem Leben, weil er Schlimmes getan hat. Da rasen die Gedanken: Darf ich den noch lieben? Warum hat er sich nicht besser benommen? Hat er nicht an mich gedacht? Habe ich etwas falsch gemacht?

Die Last hinterlässt Spuren. „Jedes dritte Kind mit einem Elternteil in Haft ist psychisch erheblich belastet oder verhaltensauffällig. Unter Kindern mit regulärem Elternhaus nur jedes zehnte“, berichtet der Psychologe Matthias Schützwohl, der am Uniklinikum der Technischen Universität Dresden arbeitet. In einem europaweiten Projekt haben er und seine Mitarbeiter untersucht, wie es Kindern und Jugendlichen von inhaftierten Eltern in Deutschland ergeht, welche Ängste und Sorgen sie haben. 145 Kinder zwischen 7 und 17 Jahren nahmen an der Coping-Studie teil. Die Mädchen seien öfter traurig und ziehen sich zurück, die Jungen seien aufgedreht. „Aber nicht alle Kinder fühlen sich stark belastet. Immerhin zwei Dritteln geht es gut“, betont er.

Ablenkung hilft nicht gegen den Schmerz

Kinderseelen sind widerstandsfähig. Vor allem diejenigen, die ihre Probleme aktiv angehen, bleiben psychisch gesund. Schützwohls Team hat die Kinder gefragt, was sie unternehmen, wenn es ihnen schlecht geht. Den meisten half es, über ihre Gedanken und Gefühle zu sprechen. Durch Ablenkung konnten sie die Traurigkeit nicht verscheuchen.

Die Kinder wollen wissen, was mit ihren Eltern in Haft passiert und wie es ihnen selbst ergehen wird. Die Informationen helfen ihnen, sich zu orientieren. „Am schlimmsten belastet sie die Trennung an sich“, sagt Schützwohl. Ihr allergrößter Wunsch: Den inhaftierten Vater oder die Mutter regelmäßig zu sehen. Aber kann das der Schlüssel zum Wohlbefinden der Kinder sein?

In der Tat, meinen Experten. Die Besuche im Gefängnis können ihnen guttun. „Allerdings nur dann, wenn die Umgebung kindgerecht gestaltet und körperlicher Kontakt möglich ist“, schreiben die Psychologin Annabel Zwönitzer und ihre Kollegen vom Universitätsklinikum Ulm in einem Bericht. Sie begleiten das Projekt „Chance“ in Baden-Württemberg, das Familien mit einem Elternteil hinter Gittern unterstützt, wissenschaftlich. Die Frage sei nicht, ob ein Besuch hilft, sondern unter welchen Umständen.

Die Treffen finden meist nur einmal im Monat oder seltener statt. „Sie sind etwas Besonderes, auf allen Seiten entstehen große Erwartungen – und Unsicherheit“, sagt Schützwohl. Es dauere dann eine gewisse Zeit, bis alle Beteiligten zueinander finden und den Besuch genießen können.

Ein Geburtstagsmorgen voller Anspannung

Als Simon seinen neunten Geburtstag mit seiner ganzen Familie feiern möchte, ist diese Anspannung spürbar. Bereits Monate vorher erzählte der Junge mit hoher Stimme von den Plänen. Dass sein Papa in der JVA Bäcker ist und ihm seinen Lieblingskuchen backt, eine Himbeertorte. Am Geburtstagsmorgen guckt er mürrisch. „Mein Papa hat bestimmt den Kuchen vergessen“, grummelt er. Im Auto auf der Fahrt zur JVA schaut er aus dem Fenster. Neben ihm seine Schwester, die vor Freude in die Hände klatscht und von den Sommerferien berichtet. Im Besucherraum rennt Evi auf ihren Vater zu. Simon nicht. Er schlendert.

Eine rosa Sahnetorte prangt auf dem Tisch, den der Vater gedeckt hat. „Das ist die falsche“, sagt Simon leise. „Ich esse doch keine Sahne. Ich wollte die Torte mit Früchten.“ Der Vater lächelt verkniffen und zündet trotzdem die neun Kerzen an. Simon überlegt lange, was er sich wünschen soll, bevor er sie auspustet. Dann schneidet er den Kuchen an. Jeder kriegt ein Stück. Sein eigenes rührt Simon nicht an.

Seine braunen Augen wissen nicht, wo sie hinschauen sollen

Als der Papa ihn versöhnlich umarmt, dreht er den Kopf weg. Nicht bockig, eher unsicher. Seine braunen Augen wissen nicht, wo sie hinschauen sollen. Sie wirken traurig. „Komm mal her, Simon. Ich möchte dir was sagen“, raunt der Vater ihm zu. Simon setzt sich zögerlich auf seinen Schoß, guckt zu Boden. Sein Vater küsst ihn auf die Wange. „Du musst den Kuchen nicht essen. Aber ich würde mich freuen, wenn du ihn mal kostest.“ Nach einer kurzen Pause fügt er heiter hinzu: „Ansonsten schuldest du mir zehn Küsse.“ Simon lächelt das erste Mal.

Ein Beistand für die Kinder ist noch die Ausnahme

Erst durch das Eltern-Kind-Projekt „Chance“ haben Simon und Evi wieder regelmäßig Kontakt zu ihrem Vater. Im Jahr 2011 startete es und wurde nun um drei Jahre verlängert. Mehr als ein Dutzend Vereine der Straffälligenhilfe sowie die 14 Justizvollzugsanstalten kooperieren darin. In Deutschland ist es bislang einmalig. Anders als nach einer Scheidung der Eltern oder wenn ein Elternteil stirbt, gibt es für Kinder, die ihren Vater oder Mutter durch eine Inhaftierung verlieren, kaum Beistand. Nur einzelne Einrichtungen bieten Beratung für Angehörige von Inhaftierten an, ehrenamtlich. Ein Netz, wie es nun in Süddeutschland gesponnen wurde, war noch nie da.

Etwa ein Jahr lang berät ein Sozialarbeiter die Inhaftierten und ihre Familien. Er mildert den ersten Schock ab oder ermöglicht einen normalen Umgang. Das fängt die Kinder auf und erlaubt ihnen, den Eltern weiterhin nahe zu sein. Dem Inhaftierten hilft der Kontakt zu seiner Familie, um später ins normale Leben zurückzukehren. Knapp 200 Familien haben bisher von dem Projekt profitiert.

Die Sozialarbeiter vermitteln oft zwischen entzweiten Eltern. Auch Simons und Evis Mutter hatte sich vom Vater getrennt, kurz nachdem sie von seinen Drogengeschäften erfuhr. Trotzdem ist sie nach einigen Monaten mit den Kindern in die JVA gefahren. „Bei den Besuchen haben wir uns gestritten. Er hat auf mich eingeredet, dass er unschuldig sei. Oft blieben nur ein paar Minuten für die Kinder“, erinnert sie sich. Alleine dürfen Simon und Evi nicht in die Haftanstalt. Die Mutter wollte nicht mehr. Also übernahm eine Sozialarbeiterin des Eltern-Kind-Projekts die Betreuung der Familie. Die Kinder besuchen ihren Vater nun mit ihr.

Die Besuche waren die Hölle

„Die Atmosphäre in der Haftanstalt entscheidet darüber, ob die Kinder den Besuch gut verkraften“, sagt Schützwohl. Die Gemüter seien sowieso aufgeladen. Die Kinder freuten sich auf den Vater, seien aufgeregt und beim Abschied sehr traurig. Triste Besucherräume und kaputtes Spielzeug lockerten die Situation nicht auf. In manchen Einrichtungen dürften sie den Vater nicht einmal berühren.

Jenna* kennt das. Das kleine Mädchen kann sich nicht daran erinnern, dass ihr Vater jemals außerhalb von grauen Betonwänden und Stacheldraht gelebt hat. Nur wenige Tage nach ihrem ersten Geburtstag wurde er von der Polizei zu Hause abgeführt: Drogenhandel. Damit hat er seine Sucht finanziert. Wegen eines früheren Delikts war er auf Bewährung draußen, daher lautete das Urteil vier Jahre. Für die Familie begann eine Odyssee.

Anfangs war der junge Mann in einer Haftanstalt untergebracht, die mehr als zwei Autostunden von seiner Familie entfernt war. „Die Kleine hat geschrieen, wenn wir dorthin gefahren sind. Wir durften ihn nur zweimal im Monat sehen, für dreißig Minuten. Nicht anfassen, nicht drücken. Nur gegenübersitzen“, erinnert sich Jennas Mutter Zorica*. Die Besuche, sagt sie, waren die Hölle. Die Mutter weinte die ganze Zeit, der Vater immer wieder, die Tochter sowieso.

Eine Umarmung ist nicht selbstverständlich

Im Sommer 2012 wurde er nach Rottenburg verlegt, 40 Minuten entfernt. Heute singt Jenna auf der Autofahrt zur JVA. In unterschiedlichen Tonlagen trällert sie immer wieder „Babi“, ihr Wort für Papa. Vom Parkplatz der Anstalt bis zum Besucherraum trennen die beiden fünf massive Türen, ein Schließschrank, in den sie ihren rosa Lieblingsrucksack legt und zwei Beamte mit Waffen im Halfter, die sie mit Detektoren absuchen. Als die letzte Glastür aufsurrt, schubst sie sie beiseite und rennt ihrem Papa entgegen. Sie klammert sich mit aller Kraft an ihn. In diesem Gefängnis darf sie ihn umarmen.

Gerade kleinen Kindern wie Jenna fällt es schwer, mit der Inhaftierung umzugehen. Jenna ist dreieinhalb und versteht nicht, was ein Gefängnis ist. Sie denkt, ihr Vater wohnt hinter diesen hohen Mauern. Nur, dass sie nicht jederzeit mit ihm in den Park oder ins Freibad gehen kann. Dass er nicht mit nach Hause kommt, ist für sie belastender als für den neunjährigen Simon, der schon weiß, warum der Vater das graue Gebäude nicht verlassen darf. Zum Abschied schreit und weint sie noch immer. Danach starrt sie ins Leere.

Es hat sich herumgesprochen, wie wichtig diese Besuche sind. Die JVA Rottenburg zum Beispiel stellt nicht nur Bagger, Bauklötze und Bilderbücher bereit, sondern hat ein eigenes Vater-Kind-Projekt. An jedem zweiten Samstag im Monat haben Kinder wie Simon und Evi ihren Papa zwei Stunden lang für sich. Ein Vormittag für die Familie.

Die Kinder werden draußen groß

Verlorene Jahre nennen die Väter die Zeit in Haft, während ihre Kinder draußen groß werden. Wenn Simons und Evis Papa aus dem Gefängnis kommt, wachsen seinem Sohn Barthaare und die Tochter hat die Grundschule hinter sich. Die Einschulung hat er bereits verpasst.

Die wenigen Momente während der Besuche können manche Lücken füllen. „Wenn die Kinder merken, der Vater ist an ihnen interessiert, er fragt nach, hört zu, dann gibt ihnen das die benötigte Sicherheit“, sagt Schützwohl.

Simon hat sein Stück Kuchen nicht probiert. Doch nach einer Weile weicht er seinem Vater nicht mehr aus. Er schäkert mit ihm, zwirbelt an seinem Schnurrbart. Er setzt sich auf den Schoß seines Papas, kuschelt sich an. Der streichelt ihm den Rücken: „Das mochtest du als Baby schon.“ Er beginnt ein Gespräch:

– Was gefällt dir in der Schule?

– Sport.

– Und was noch?

– Die Pausen.

– Hast du dort Stress?

– Manchmal ärgert mich ein Junge.

– Da darfst du nicht zurückärgern.

Simon nimmt die großen Hände des Vaters und legt sie an seine Wangen. Sein Kopf verschwindet beinahe dazwischen.

– Du musst immer schön brav sein! Nicht andere Leute ärgern! Hörst du?

Der Vater zieht den Kopf seines Sohnes zu sich heran. Stirn an Stirn, Nase an Nase verharren sie. „Ich liebe dich, mein Sohnemann.“

Erste Familien räumen die Spielsachen zusammen, bringen Geschirr zu einer Sammelstelle. Wischen den Tisch ab. „Mama, müssen wir wirklich schon gehen?“, fragt Simon. Als sie nickt, drückt er mit seiner kleinen Faust auf das Lego-Gefängnis, dass er zuletzt aus bunten Steinen gebaut hat. Es zerbricht. „Papa, du bist frei“, sagt er leise und lässt die eingesperrte Plastikfigur wegrennen.

* Namen von der Redaktion geändert

Jana Hauschild

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