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Adressbuch von Hannah Höch

© Berlinische Galerie, Hannah-Höch-Archiv, Kai-Annett Becker

Von Säure zerfressen: Wie Restauratoren kulturelle Schätze vor dem Verfall retten

Deutschlands kulturelles Erbe zerbröselt, bevor es erforscht werden kann. Darunter sind auch Manuskripte von Theodor Fontane. Der Kern des Problems ist reine Chemie.

Das Weiß ist längst verblichen, die Blätter gelb und braun. Überall durchtrennen Risse die Schrift. Wer Theodor Fontanes Werke anfasst, muss fürchten, bald Brösel in den Händen zu halten. Eingeklebte Zettel lösen sich und fallen heraus. Auf manchen Seiten schimmelt es, weil Pilze sich des Klebstoffs bemächtigen, den Fontane verwendet hat.

Es steht schlecht um die 19 Manuskripte in seinem Schreibtisch, den die Erben 1902 an das Märkische Museum in Berlin übergeben haben. Vor allem „Effi Briest“ und „Vor dem Sturm“ sind in schlimmem Zustand, sagt Peter Schwirkmann, Leiter des Fachbereichs Geschichte im Stadtmuseum. Alle Werke lagerten während des Zweiten Weltkrieges im Turm des Museums und nach dem Krieg unter Schutt. Seit zehn Jahren ist Fontanes Hinterlassenschaft in einem klimatisierten Depot verschwunden, für die Nutzer gesperrt.

Die Zukunft der Bibliotheken sei digital, heißt es immer. Sie sollen nicht mehr nur ein Ort der Bücherregale, der Lesesäle und der Stille sein. „Effi Briest“ muss es künftig zum Download, zum Durchscrollen, als Attachment geben. Doch im maroden Zustand ließen sich Fontanes Originale nicht einmal auf den Scanner legen, ohne dass sie weiter zerfallen.

Neun Millionen Bände sind bedroht

In der Betriebsamkeit um das digitale Zeitalter gerät das Erbe der Bibliotheken und Archive oft in Vergessenheit. Viele verfügen über Werke, die bis heute nicht einmal katalogisiert und in den Beständen erfasst sind. Mangels anderer Räume vermodern sie mitunter in Kellern oder stauben auf zugigen Dachböden ein. So kommt es vor, dass die Bibliotheken manchmal selbst höchst erstaunt vermelden, sie hätten ein besonders kostbares Buch gefunden. Etwa stöberte ein Bauarbeiter in der Commerzbibliothek der Hamburger Handelskammer das erste Rechenbuch von Adam Riese auf. Es klingt, als hätte es verschanzt hinter Mauerwerk gelegen, aber nein, es dümpelte halt im Keller herum. Oder es passiert, dass beim Brand in der Anna Amalia Bibliothek 2000 Notenhandschriften in Flammen aufgehen und keiner weiß, was da eigentlich zu Asche geworden ist. Niemand hatte die Musikalien studiert.

Das Chaos in den Bibliotheken hat System. Geld gab es meist nur für den bloßen Betrieb. Ausleihen, Verlängern, Vormerken, Zurückgeben. Und mit jedem Jahr zerfallen die Papiere. Neun Millionen Bände aus den Jahren 1850 bis 1990 und 1,8 Millionen Regalmeter Archivmaterial sind bedroht, mahnte die Koordinierungsstelle zur Erhaltung des schriftlichen Kulturgutes kürzlich auf der Kultusministerkonferenz. Um sie zu retten, wären 63,2 Millionen Euro nötig. Bund und Länder müssten sich auf ein gemeinsames Förderprogramm verständigen.

Bisher gab es nur eine notdürftige Kulturfeuerwehr

Der Kern des Problems ist reine Chemie. Papier besteht vor allem aus Zellstoff. Dieser wurde einst aus Lumpen gewonnen. Doch Mitte des 19. Jahrhunderts wechselte man auf Holz als Quelle für den Rohstoff – und Holzfasern sind naturgemäß sauer. Zudem kam als Leim zunehmend ein saures Aluminiumsalz zum Einsatz, der Alaun. Es wird heute noch in Deodorants verwendet. Je saurer das Papier, desto rascher werden jedoch die langkettigen Cellulosemoleküle des Zellstoffs angegriffen. Denn die Moleküle sind darin über Acetalbrücken miteinander verbunden, die unter der Einwirkung von Säure aufbrechen. Das Papier reißt dann sehr leicht und wird brüchig.

Kinderbücher aus der Staatbibliothek
Gefährdet. Auch diese fünf Kinderbücher aus der wissenschaftlichen Sondersammlung zur Kinder- und Jugendliteratur, Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz, sind vom Säurefraß bedroht.

© Jörg F. Müller

Heute hergestelltes Papier enthält dagegen eine alkalische Reserve, sodass vorhandene oder sich bildende Säuren neutralisiert werden und nicht gleich Schaden anrichten. Deshalb müssen alte Bücher vor allem entsäuert werden. Bisher bekam die Koordinierungsstelle dafür gerade 500 000 Euro pro Jahr, um die Juwelen unter den Beständen zu sichern – eine Art notdürftige Kulturfeuerwehr.

Was bisher gerettet wurde, macht immerhin die Bedeutung der Restaurierung alter Schriften deutlich. Zurzeit setzt die Deutsche Nationalbibliothek einen ganzen Koffer mit den Kurzgeschichten und Notizen des Exilschriftstellers Walter Meckauer instand. Im vergangenen Jahr bekam das Märkische Museum von der Koordinierungsstelle den Zuschlag, die drei Schriften von Fontane „Unterm Biernbaum“, „Die Poggenpuhls“ und „Der Stechlin“ herzurichten.

Fontane beschrieb jeden Zentimeter Papier

Kann doch jeder Schüler als Reclamheftchen kaufen, mögen Kritiker einwenden. Aber weit gefehlt. „Fontane war ein Papierarbeiter“, sagt Peter Schwirkmann, Leiter des Fachbereichs Geschichte im Stadtmuseum. Kaum ein Zentimeter, den der weltberühmte Autor nicht eng mit Sütterlinhandschrift beschrieb. Er strich durch, kritzelte schwer leserlich in schwarzer, grüner oder blauer Sepiatinte, fügte ein und kleckste etwas an den Rand. Passagen, die ihm bei der Redigatur nicht mehr gefielen, überklebte er und schrieb sie neu. Auch reiste Fontane zeitlebens viel und ließ sich von den Eindrücken inspirieren. So verwendete er als Schauplatz für seinen Roman „Graf Petöfy“ eine Beobachtung des Schlosses Ilsenburg im Harz. Das knappe Papier nutzte der Autor ebenso für andere Zwecke. Er krakelte Einkaufs-, Pack- und Aufgabenlisten dazwischen. „Rotwein“ steht dann da unvermittelt.

Eine Tauchkur würde Fontanes Werke ruinieren

„Seine Arbeitsmanuskripte liefern deshalb Hinweise auf die Interpretation seiner Werke, und sie helfen bei der Rekonstruktion der Biografie“, sagt die Göttinger Fontane-Forscherin Gabriele Radecke. Wegen ihrer Bedeutung wollen sie und ihre Kollegen die restaurierten Manuskripte in einer digitalen sowie in einer gedruckten Edition herausbringen. Sie sollen Literaturwissenschaftlern, Germanisten und Laien zugänglich sein. Die Digitalisierung kann jedoch nie die Erhaltung des Originals ersetzen, stellt die Koordinierungsstelle in ihren Handlungsempfehlungen klar. Denn oft lassen sie sich gar nicht einscannen, ohne weiter zu zerfallen. Deshalb hat die Berliner Restauratorin Anika Knop im Auftrag des Märkischen Museums die drei Fontane-Werke im vergangenen Jahr so weit hergestellt, dass sie überhaupt digitalisiert werden können.

Goretex half, die erste Fassung lesbar zu machen

Wie viele Autoren verwendete Fontane im 19. Jahrhundert stark holzhaltiges, saures Papier, das mittlerweile braun und brüchig ist. Solche Blätter entsäuern Restauratoren gewöhnlich mit einem Bad in Calcium- und Magnesiumcarbonat. Doch Fontane schrieb obendrein mit wasserlöslichen Tinten, sodass eine Tauchkur die Werke ruinieren würde. Knop musste deshalb Seite für Seite mit einem Spray auf Basis von Magnesiumoxid einsprühen. Mit Skalpell und Spatel löste sie die eingeklebten Zettel. Wenn sie sich mechanisch nicht entfernen ließen, quoll sie den Stärkekleber mit einer feuchten Kompresse aus Goretex an. „Durch diesen Kunststoff, den wir eigentlich nur von Outdoorbekleidung kennen, gehen nur feinste Wassertröpfchen ähnlich einem Nebel hindurch. Der Kleber weicht langsam auf, aber das Schriftbild verläuft an der Stelle nicht“, sagt sie.

Zum ersten Mal sind so nun die ursprünglichen Textstellen lesbar, über die der Schriftsteller Korrekturfassungen geklebt hatte. Knop befestigte die Schlussfassung in abklappbarer Form mit Weizenstärkekleister und einem Streifen aus Japanpapier, einem beständigen, hauchdünnen Papier aus Bast. Auch Dutzende feine Risse in den Papierseiten schloss sie mit diesem Klebstoff und verstärkte die Seiten zum Teil, indem sie diese auf Japanpapier aufzog. Davon gibt es fast transparente Versionen, sodass die Schrift hindurchscheint und der Text lesbar bleibt. Im Oktober sollen die Werke digitalisiert werden. Mit Spannung erwartet Schwirkmann die ersten Reaktionen der Germanisten, insbesondere des Teams von Radecke, auf die unbekannten Fassungen.

Ein Koffer als mobiles Büro

Ein anderer Kulturschatz wartet ebenfalls darauf, gehoben zu werden. Sylvia Asmus, Leiterin vom Deutschen Exilarchiv der Deutschen Nationalbibliothek, erinnert sich genau an den Moment, als sie zum ersten Mal jenen abgestoßenen braunen Koffer des Exilschriftstellers Walter Meckauer in der Bonner Wohnung der Tochter öffnete. Meckauer hatte ihn zeitlebens als eine Art mobiles Büro dabei und sämtliche seiner Kurzgeschichten, Berichte und Beobachtungen darin alphabetisch geordnet aufbewahrt. „Ich liebe den kleinen alten Koffer“, schrieb die Tochter in einem kurzen Essay, der im Koffer lag und Asmus als Erstes in die Hände fiel. „Ihn gab es schon, als ich noch ein Kind war. Der alte braune Koffer ist viel in der Welt herumgekommen. Er begleitete uns immer und überallhin.“ Als Jude wurde Meckauer von den Nationalsozialisten verfolgt und floh in die Schweiz, nach Italien und Frankreich, schließlich wieder in die Schweiz und wanderte kurz darauf in die USA aus.

Mobiles Büro. Der Exilschriftsteller Walter Meckauer hatte seine Papiere immer dabei. Der Koffer soll als Ganzes erhalten werden.
Mobiles Büro. Der Exilschriftsteller Walter Meckauer hatte seine Papiere immer dabei. Der Koffer soll als Ganzes erhalten werden.

© Koordinierungsstelle für die Erhaltung des schriftlichen Kulturguts

Es sei ein anrührender Moment gewesen, diesen abgenutzten Koffer zu sehen mit den fein säuberlich sortierten vergilbten Handschriften, die sich dicht an dicht aneinanderreihen, sagt Asmus. Gemeinsam mit der Leiterin des Referats Bestandserhaltung der Deutschen Nationalbibliothek, Stephanie Schröder, entschied sie, den Koffer in seiner Anmutung zu bewahren. Er eigne sich hervorragend als Ausstellungsexponat, um an das Exil in der NS-Zeit zu erinnern und als Symbol für das Schicksal vertriebener Künstler. Doch wie alle Manuskripte aus den Kriegsjahren und durch die vielen Ortswechsel sind die Papiere bedroht.

Zurzeit entsäuern sie Stephanie Schröder und ihr Team deshalb in einem Calcium- und Magnesiumcarbonatbad. Seit den achtziger Jahren gibt es zwar industrielle Massenentsäuerungsverfahren, mit denen Papiere tonnenweise instand gesetzt werden können. Aber wenn die Seiten bereits brüchig sind, wäre die Gefahr bei diesen maschinellen Verfahren zu groß, dass sie ganz zerfallen.

Die industrielle Auffrischkur hilft oft - aber nicht immer

Um die große Zahl gefährdeter Bücher rasch und kostengünstig zu konservieren, könnte das Industrieverfahren aber sehr wohl zum Zug kommen, rät die Koordinierungsstelle. Vor allem das Zentrum für Bucherhaltung in Leipzig hat sich einen Namen gemacht. 80 Tonnen Bücher entsäuern die Arbeiter dort jedes Jahr. Zuerst trocknen sie die Bände. Dann tauchen Maschinen sie in ein Bad aus Magnesium- und Titancarbonaten samt Silikonöl ein. Beim Trocknen entweicht das Öl wieder. Die Auffrischkur dauert zwei bis drei Tage, sagt der Abteilungsleiter Joachim Liers vom Leipziger Zentrum.

Für Meckauers strapazierte Schriften müssen die Restauratoren jedoch Hand anlegen. Sie entfernen rostige Büroklammern und schließen Risse vorsichtig mit Weizenstärke- oder Methylcelluloseklebstoffen. Dabei sollen die Knicke in den Papieren so erhalten bleiben, wie Meckauer mit ihnen reiste. Besonders brüchige Stellen verstärken die Restauratoren mit Japanpapier. Später sollen die Kurzgeschichten digitalisiert werden, sagt Asmus, damit sie dem Deutschen Exilarchiv zur Verfügung stehen. Vielleicht findet sich ja auch eine unbekannte Kurzgeschichte darunter.

Am Ende gibt es immer ein digitales Duplikat zum Download, zum Weiterleiten und um elektronische Notizen anzubringen. Die für einige tausend Euro hergerichteten Originale werden die Bibliotheken künftig bei geringer Luftfeuchte und niedriger Temperatur verwahren, um sie vor dem weiteren Verfall zu schützen. Ausgeliehen, auf Nachttischen herumliegen, von fettigen Fingern berührt werden sie gewiss nicht, sagt Radecke: „Dafür sind sie viel zu wertvoll.“

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