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Wissen: Voodoo BÖSER BEIPACKZETTEL FLUCH DER FURCHT UNBEKANNTES UNHEIL im weißen Kittel

Vorsicht vor der Packungsbeilage!  Untersuchungen zeigen: Wer Risiken und Nebenwirkungen genau studiert, bei dem treten die Beschwerden auch häufiger auf. Über die Macht der Erwartungen im Zeitalter von Gentests und Kernspintomografen

Vance Vanders hatte Streit. Sein Gegner, ein Hexendoktor, wedelte mit einer Flasche vor seinem Gesicht herum, in der sich eine stinkende Flüssigkeit befand. Und er teilte ihm mit, dass er nun sterben müsse. Niemand werde ihn retten können. Tatsächlich verschlechterte sich der Zustand von Vanders dramatisch. Er wurde ins Krankenhaus eingeliefert, aber die Ärzte fanden keine Ursache. Dann erzählte seine Ehefrau dem Arzt von dem Zauber. Und der Arzt handelte: Er erzählte Vanders, er habe den Hexenmeister aufgesucht und ihm mit Gewalt seinen Zauber entlockt. Der Hexer habe Echseneier in Vanders Magen gezaubert, und die Tiere fräßen ihn nun langsam von innen auf. Dann folgte Teil zwei der Zeremonie: Vanders bekam ein Brechmittel. Und während der Patient sich im Schwall übergab, trickste der Arzt eine tote Eidechse in den Eimer mit dem Erbrochenen. „Der Zauber ist aufgehoben“, rief er. Und tatsächlich wurde Vanders wenig später geheilt entlassen.

Der Name von Vanders ist erfunden, seine Geschichte aber nicht. Sie soll vor rund 80 Jahren stattgefunden haben. Der amerikanische Arzt Clifton Meador hat sie recherchiert und veröffentlicht, als klassisches Beispiel für den Nocebo-Effekt, den „bösen“ Zwillingsbruder des altbekannten Placeboeffekts. Der Placeboeffekt beschreibt die Tatsache, dass sich bei Menschen, die lediglich glauben, sie hätten ein Medikament bekommen, mitunter die Symptome verbessern. Er ist allgemein anerkannt. Neue Medikamente etwa müssen beweisen, dass sie einem äußerlich gleichen aber wirkstofffreien Placebo überlegen sind. Nur dann haben sie die Chance auf eine Zulassung. Bekannt ist auch, dass die Wirksamkeit von Wirkstoffen von ihrer Darreichungsform abhängt, dass Spritzen besser wirken als Tabletten, und große, bunte Tabletten besser als kleine, blasse. Placebo ist überall.

Nocebo allerdings auch. Und wo der Placeboeffekt Schmerzen lindert und Krankheiten heilt, verschlimmert der Noceboeffekt Beschwerden und verursacht Nebenwirkungen. Trotzdem wird er von der Forschung weitgehend ignoriert: Pubmed, die internationale Suchmaschine medizinisch wissenschaftlicher Veröffentlichungen, listet im Augenblick genau 148 982 Veröffentlichungen zum Thema Placebo auf, aber nur 149 über Nocebo (nicht 149 Tausend!). Auch unter Ärzten ist Nocebo weitgehend unbekannt.

Zu Unrecht. Denn was für Vanders der Hexendoktor mit skurrilen Ritualen war, ist für moderne westliche Patienten der Arzt im weißen Kittel mit seinen Hightech-Geräten. Das beste Beispiel: Rückenschmerzen. „Ich hab’ Rücken“ ist die wohl häufigste Klage in deutschen Arztpraxen. Mehr als die Hälfte aller Krankschreibungen geht auf Rückenschmerzen zurück. Allerdings sind die Beschwerden meist diffus – „Rücken“ heißt alles, von Schmerzen im verspannten Nacken bis tief im Gesäßbereich. „Rücken“ heißt stechende Schmerzen oder bohrende, drückende oder ziehende. Und weil die Symptome so diffus sind, wird wild diagnostiziert. Kaum ein Patient, der nicht in den Kernspintomografen geschoben wird. Unmengen von Bildern werden produziert, um Ursachen zu finden. Das Problem: Die Bilder erklären nichts, denn schon gesunde und schmerzfreie 30-Jährige haben mit großer Wahrscheinlichkeit Einrisse in den Bandscheiben. Und auch vollkommen unauffällige Wirbelsäulen können höllische Schmerzen auslösen.

Der einzige Effekt: „Mit den vielen Bildern machen wir die Patienten krank und fördern die Chronifizierung der Rückenschmerzen“, sagt Gerd Müller vom Hamburger Rückenzentrum am Michel. „Ein Mensch, der seinen Bandscheibenvorfall auf einem Bild gesehen hat, wird ängstlicher sein als einer, der nur abstrakt von seinem Hexenschuss spricht.“ Der Bochumer Schmerzforscher Christoph Maier hat viele Patienten erlebt, deren Rückenschmerzen vor allem deshalb chronisch wurden, weil sie die Röntgen- und Kernspinbilder nicht mehr aus dem Kopf herausbekamen. „Die Prognose korreliert negativ mit dem Gewicht der Befunde, die der Patient mitbringt“, sagt Maier. Wer Schmerzen erwartet, weil er seine vermeintlich kranke Wirbelsäule gesehen hat, der wird die Schmerzen auch bekommen – der klassische Nocebo-Effekt.

Der zweite große Nocebo-Auslöser: Beipackzettel von Medikamenten. Sie sind juristisch motiviert und listen im Detail auf, was alles passieren kann. Schon der Beipackzettel eines eigentlich gut verträglichen Durchfallmittels mit dem Wirkstoff Loperamid listet als „häufig“ unter anderem: Koliken, Schwindel, Übelkeit, Erbrechen, Kopfschmerzen, Bauchschmerzen auf. Tatsächlich treten die Nebenwirkungen häufiger auf, einfach weil die Patienten sie erwarten. Probanden, denen als Nebenwirkung einer Studienmedikation Magen-Darm-Störungen angekündigt worden waren, bekamen diese sechs Mal häufiger als die anderen Teilnehmer, die von dieser Nebenwirkung nichts wussten. Und genau das entspricht dem klinischen Alltag des Arztes: Ängstliche Patienten, die den Beipackzettel von vorn bis hinten lesen, bekommen genau die Nebenwirkungen, die sie erwarten – wenn sie die Tabletten nicht gleich im Müll entsorgen. Der Beipackzettel gefährdet die Gesundheit.

Nebenwirkungen kommen in klinischen Studien sogar dann vor, wenn Patienten nur wirkstofffreie Placebo-Medikamente erhalten: „Wir beobachten häufig, dass Patienten, die Placebos erhalten, über sehr ähnliche Nebenwirkungen klagen wie diejenigen, die das Verum, also das richtige Medikament erhalten haben. Das kann sich dann eigentlich nur um den Nocebo-Effekt handeln“, sagt Edzard Ernst vom Lehrstuhl für Komplementärmedizin der Peninsula Medical School im englischen Exeter. „Wirklich lebensbedrohliche Auswirkungen sind von Placebo oder Nocebo allerdings nicht zu erwarten“, sagt Ernst.

Einiges deutet daraufhin, dass der Nocebo-Effekt letztlich eine Angstreaktion ist. Forscher der Uniklinik Essen etwa haben panische Angst in einem Experiment zu simulieren versucht: Die Versuchspersonen mussten einen Fallschirmsprung machen. Um das Risiko zu minimieren wurden sie als Tandemspringer an einen Profi gegurtet. Trotzdem: Mehr Angst geht nicht. Anschließend wurden Blutwerte gemessen. Und natürlich schossen die Stresshormone in die Höhe – und das Immunsystem wurde aktiviert. Wenn Stress länger anhält, dann kippt der Effekt allerdings. Das Immunsystem fährt herunter, die Betroffenen sind gegen banale Infektionen weniger geschützt. Das entspricht der Erfahrung, dass gestresste Personen anfällig etwa für Schnupfenviren sind. Genau das kann die Ursache des Nocebo-Effekts sein – wobei ein geschwächtes Immunsystem den Körper nicht nur für Infektionen anfälliger macht, sondern auch etwa gegen Krebs.

Im Tierversuch lässt sich das Immunsystem sogar mit einer Art pawlowschem Reflex steuern: Wenn man ein Medikament, das das Immunsystem herunterregelt, im Tierversuch über längere Zeit mit einem auffällig schmeckenden Getränk verbindet, dann wirkt schließlich das Getränk selbst: Allein durch die eigentlich unwirksame Flüssigkeit wird das Immunsystem soweit gedrosselt, als hätte das Tier das hochwirksame Medikament eingenommen. Und Ratten, die über längere Zeit unter massivem Stress stehen, können an banalen Alltagsinfektionen sterben, die ihre ungestressten Artgenossen symptomfrei weggesteckt hätten. Nocebo kann töten, zumindest im Tierversuch.

Der Effekt ist vor allem dann gefährlich, wenn der Angst – berechtigt oder unberechtigt – keine klärenden Gespräche mit dem Arzt folgen. Etwa wenn ängstliche Patienten zu Cyberchondern werden, und für ihre vermeintlichen Symptome im Internet hunderte schreckliche Ursachen finden. Oder wenn Leser durch entfesselte Medien vor tödlicher Handystrahlung gewarnt werden – oder wie aktuell vor genverändertem Honig. Ein typischer Risikofaktor nocebobedingter Erkrankungen ist auch die Fürsorge großer Unternehmen ihren leitenden Angestellten gegenüber: Wenn diese regelmäßig zu Checkups geschickt werden, werden dort zahlreiche Befunde, sogenannte Normabweichungen produziert – ohne therapeutische Konsequenz, aber irgendwie auffällig. Der typische Satz „Das ist nicht bedrohlich, aber das sollten wir beobachten“ macht aus gesunden Mitarbeitern verängstigte Patienten. Lebenslang. Mit allen Risiken und Nebenwirkungen.

Forscher nennen das den Nocebo-Effekt. Er spielt in der Medizin eine wichtige Rolle. So leiden Menschen, die den Beipackzettel allzu genau studieren, eher an einer der beschriebenen Nebenwirkungen.

Angst kann krank machen. Das zeigen Experimente an Tieren und beim Menschen. Das könnte erklären, warum Verwünschungen und Voodoo-Zauber in seltenen Fällen zu wirken scheinen.

Der Effekt könnte durch Gentests, die Krankheitsrisiken vorhersagen, in Zukunft noch wichtiger werden. Dennoch wird er kaum erforscht.

Magnus Heier ist niedergelassener Neurologe und Medizinjournalist. Sein Buch „Nocebo – Wer’s glaubt, wird krank“ ist gerade im Hirzel-Verlag Stuttgart erschienen (133 Seiten, 17,90 Euro).

 Magnus Heier

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