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Wellenschlag. Ob die Welt aus dem Nichts entstanden ist und ob sie dereinst in ihm verschwinden wird, ist nicht nur unter Physikern umstritten.

© Bruno Ehrs/Corbis

Vor dem Urknall: Wie kann das Universum aus dem Nichts entstehen?

Wider die Natur, ein Hort des Bösen – das Nichts hatte lange einen schlechten Ruf. Einige Physiker argumentieren nun, dass es keine echte Leere gibt. Mithilfe winzigster energiegeladener Teilchen erklären sie, wie Universen aus dem Nirgendwo entstehen.

Von nichts kommt nichts, sagt man. Aber vielleicht stimmt das gar nicht. Nach Ansicht der modernen Physik ist anscheinend möglich, was früher undenkbar war: Dinge entstehen aus dem Nirgendwo, ohne das Zutun eines Schöpfers. Sogar das Universum könnte auf diese spukhafte Weise hervorgebracht worden sein, glauben einige Wissenschaftler. Die Ursache dafür sind Quanten, winzigste energiegeladene Teilchen. Sie standen demnach am Beginn einer Erschaffung aus dem Nichts.

Zu den Physikern, die das für plausibel halten, gehört Lawrence Krauss. In seinem Buch „Ein Universum aus Nichts“ argumentiert der Forscher von der Staatlichen Universität von Arizona mit der Quantengravitation. Das ist ein unvollendetes Gedankengebäude, in dem die Quantenmechanik – die Physik der kleinsten Teilchen– , und die Relativitätstheorie, die den Aufbau des Universums im Großen beschreibt, vereint sind. Dort, wo Quantengravitation herrscht, können, ja müssen geradezu Universen aus dem Nichts entstehen, behauptet Krauss. Auch wenn diese unserem „Heimatkosmos“ vielleicht nur entfernt ähneln.

Selbst das beste Vakuum ist nicht leer

Das Nichts des Lawrence Krauss hat es in sich. Denn aus Sicht der Quantenmechanik gibt es eigentlich gar keinen leeren Raum. Selbst ein perfektes Vakuum enthält laut Krauss ein „kochendes Gebräu aus virtuellen Partikeln, die erscheinen und wieder verschwinden, aber so rasch, dass wir sie gar nicht direkt sehen können“. Quanten-Fluktuationen nennen Physiker solche zufälligen Energieschwankungen im Vakuum. Sie verstehen darunter das spontane Entstehen eines Teilchens und seines Pendants, eines Antiteilchens. Normalerweise löschen sie sich kurz darauf wieder gegenseitig aus, so dass das Energieerhaltungsgesetz gewahrt bleibt. Denn es entsteht keine Energie aus dem Nichts.

Doch es ist denkbar, dass es am Anfang des (oder eines) Universums zu einer winzigen Ungleichverteilung kam, einem leichten Überschuss von Materie über Antimaterie. In diesem Fall würden sie sich nicht sofort gegenseitig auslöschen, sondern ein kleines Mehr an Materie würde bestehen bleiben. „Das würde zu all jener Substanz führen, aus der jene Sterne und Galaxien bestehen, wie wir sie heute im Universum sehen“, schreibt Krauss in „Ein Universum aus Nichts“.

Krauss' Theorie provoziert Widerspruch

Was als an sich kleine Errungenschaft gelten könnte, eine kleine Asymmetrie in der Frühzeit des Alls, könnte als Moment der Schöpfung angesehen werden. Selbst wenn sie nur eines von einer Milliarde Teilchen betreffen würde, würde das ausreichen, um so viel Materie zu erzeugen, wie wir sie heute im Universum sehen.

So weit die Hypothese von der Entstehung des Alls, wie sie Krauss und andere vertreten. Zu viel Lärm um Nichts, befand dagegen der Philosoph David Albert von der New Yorker Columbia-Universität. In der „New York Times“ zerriss er Krauss’ Buch. Alberts zentrales Argument: Das von dem Physiker behauptete Nichts ist in Wirklichkeit schon etwas Vorhandenes, bestehend aus „relativistischen Quantenfeldern“. Diese Felder sind der Ursprung der Materie, und gelegentlich auch eines Vakuumzustands, in dem sie keine Materie enthalten.

Das Nichts der Bibel ist keines, sagt der Physiker

Vakuumzustände sind spezielle Verbindungen elementarer physikalischer Arrangements, sagt Albert. Genauso wie Giraffen, Kühlschränke und ganze Sonnensysteme. Erst die Abwesenheit von Quantenfeldern wäre das wahre Nichts. Die Tatsache, dass von Zeit zu Zeit Partikel auftauchen und wieder verschwinden, weil sich die Felder neu sortieren, sei nicht verwunderlich. Keine Spur einer Schöpfung aus dem Nichts!

Natürlich sind viele Fragen noch offen, konterte der erzürnte Krauss. „Wir wissen nicht, wie Etwas aus dem Nichts kommen kann, aber wir kennen einige plausible Wege, wie es geschehen könnte“, sagte der Physiker in einem Interview mit dem Magazin „The Atlantic“. „Leerer Raum, wie ich ihn beschreibe, ist nicht notwendigerweise nichts, aber er war mehr als gut genug für Augustinus und die Autoren der Bibel. Für sie war ein ewiger leerer Raum die Definition von Nichts. Ich kann belegen, dass diese Art von Nichts kein Nichts mehr ist.“

Raum und Zeit verlieren ihre Konturen

Krauss geht noch einen Schritt weiter. Das heutige Wissen über Quantengravitation erlaube es sogar, das Entstehen von Raum an einem Ort zu verstehen, an dem vorher keiner war. Physiker wie Stephen Hawking von der Universität Cambridge haben Quantenmechanik und Relativitätstheorie vorsichtig einander angenähert. Dabei stellten sie fest, dass für den Raum das Gleiche wie für Energie und Materie gilt, wenn man den kleinsten denkbaren Maßstab anlegt. Unter den Bedingungen der Quantentheorie verliert auch er seine Beständigkeit. Raum und Zeit bleiben nicht glatt und kontinuierlich, sondern verwandeln sich in einen Schaum aus Raum-Zeit-Blasen.

Raum-Zeit-Bläschen können sich spontan bilden. „Wenn man Raum und Zeit ,quantisiert’, dann fluktuieren sie“, sagt Krauss. „Man kann virtuelle Raumzeit genauso erzeugen wie virtuelle Partikel.“ Dann stehen wir vor einer Situation, in der es keine Materie im Raum gibt – und noch nicht einmal Raum, argumentiert der Physiker. „Das ist deutlich näher am Nichts.“

Kein Raum, keine Zeit, keine Materie. Mehr, besser: weniger, geht kaum. Eine Raum-Blase im Quantenformat könnte der Keim des Universums gewesen sein und sich während des Urknalls rasch ausgedehnt haben, nehmen Theoretiker wie Alan Guth vom Massachusetts Institute of Technology an.

Schmaler Grat zwischen herausfordernden Theorien und purer Fantasie

Solche hypothetischen Überlegungen übersteigen unser alltägliches Verständnis von Raum, Zeit und materiellen Dingen bei Weitem. Und sie rufen auch in Fachkreisen Skepsis und Widerspruch hervor. „Wenn Raum und Zeit selbst aus einer Quantenfluktuation entstehen, dann kann man das, woraus sie entstehen, schon mit dem Namen ,Nichts’ versehen“, sagt Hermann Nicolai, theoretischer Physiker am Max-Planck-Institut für Gravitationsphysik in Potsdam. „Solche Vorstellungen sind reizvoll, aber man sollte sich davor hüten, zu viel zu spekulieren.“ Krauss und Hawking arbeiteten mit „Gedankenmathematik“, sagt Nicolai. Die von ihnen verwendeten mathematischen Ausdrücke seien möglicherweise sinnlos und mit Vorsicht zu genießen.

Nicht nur Nicolai ist zurückhaltend. Unter Physikern wird darüber debattiert, wie sinnvoll Gedankenspiele sind, in denen Universen wie Gasblasen im brodelnden Kochtopf entstehen, an einem sich ins Gestern verzweigenden Zeitbaum sprießen oder sich den Vibrationen winzigster Saiten eines 26-dimensionalen kosmischen Orchesters verdanken. Da fällt schon einmal das garstige Wort „Fantasy“. Aber es ist eine Märchenwelt voller Mathematik.

„Das Nichts ist unbeständig“, sagt Krauss, und diese Behauptung jedenfalls ist experimentell gesichert. Quantenfluktuationen sind messbar, ihre Bedeutung beim Entstehen des Alls erscheint plausibel. Als Materialist glaubt Krauss, mit diesem Schachzug eine schöpferische Instanz außerhalb des physikalischen Geschehens überflüssig gemacht zu haben. Dieses kosmische Theater kommt ohne Regisseur aus. Mehr noch: Das Nichts hat in dieser Lesart eine produktive, eine positive Bedeutung. Es ist der Grund allen Seins, ein fruchtbarer Acker.

In der Geistesgeschichte hat das Nichts einen üblen Ruf

Damit wird ein böser Bube der Geistesgeschichte rehabilitiert. Denn das Nichts hat im Abendland eher einen schlechten Ruf. Es „nichtet“, wie der Philosoph Martin Heidegger feststellte, der es mit dem Gefühl der Angst verknüpfte. Schon griechische Philosophen der Antike, allen voran Aristoteles, waren der Ansicht, dass die Natur vor dem Nichts „zurückschrecke“. Ein echtes Vakuum existiere daher nicht. Aristoteles argumentierte mit Gedankenexperimenten gegen den leeren Raum. Die vier Elemente Feuer, Luft, Wasser und Erde verlören in der Leere ihre naturgegebene Richtung. Orientierung und Messung wären in ihr nicht möglich, Körper würden unendlich schnell fallen. Kurzum: Der Kosmos geriete aus den Fugen, ließe man einen Hohlraum zu.

Um der drohenden Leere etwas entgegenzusetzen, führte Aristoteles ein fünftes Element ein, den Äther. Diese himmlische Substanz, im Mittelalter quinta essentia (Quintessenz) genannt, füllte als reine und durchsichtige Wesenheit die himmlischen Sphären. Der Horror vacui des Philosophen prägte das Abendland bis weit in die Neuzeit hinein.

Nach der christlichen Lehre erschuf Gott die Welt aus dem Nichts. Für den Kirchenvater Augustinus war diese Doktrin im vierten Jahrhundert Ausgangspunkt beunruhigender Überlegungen. Augustinus gestand, anders als die Griechen, dem Nichts eine gewisse Existenzberechtigung zu. Immerhin war aus ihm das All hervorgebracht worden. Allerdings sah Augustinus die Leere zugleich als negativen Gegenpol zur Welt. Das Nichts war für ihn Ausdruck des Bösen, bedeutete Tod und Verderben.

Mit spiritueller Energie gegen den Blackout

Weil die Menschen wie das ganze All der Leere entstammen, ist dies Teil ihres Erbes. Es äußert sich in einem naturgegebenen Hang zum Dunklen, glaubte Augustinus. Wenn Gott nicht seine Geschöpfe vor dem Abgrund der Leere bewahren würde, würden diese unverzüglich wieder in den Schlund hinabstürzen, aus dem sie einst entstiegen.

Man gewinnt den Eindruck, als müsse Gott permanent gegen das Nichts ankämpfen und ständig spirituelle Energie gegen den Blackout erzeugen. „Das Universum würde augenblicklich verschwinden, würde Gott Seine schützende Hand hinwegheben“, sagt Augustinus.

Es war ein deutscher Politiker, der der Leere ihren Schrecken nahm. Otto von Guericke, Bürgermeister von Magdeburg, erzeugte 1657 in zwei aneinander gepressten Halbkugeln mit Hilfe einer Luftpumpe ein Vakuum. Selbst je acht Pferde, die in entgegengesetzten Richtungen an ihnen zogen, konnten die Kugeln nicht auseinanderzwingen. Es gab ihn also, den leeren Raum. Und welche Kraft in ihm steckte!

Guericke maß dem Vakuum eine mächtige Rolle zu im Spiel der Welten

Bürgermeister Guericke schwärmte von einem unendlichen Universum, in dem das Vakuum eine „aktive und mächtige Rolle“ spielte, wie der Wissenschaftshistoriker Helge Kragh von der Universität Aarhus schreibt. Die Leere war für Guericke voller himmlischer Herrlichkeit, höher als die Sterne, heller als der Blitz und die Vollkommenheit an sich. Göttlich, ja Gott selbst.

Die Natur verabscheut die Leere? Aristoteles schien durch Guericke widerlegt. Aber die wissenschaftliche Debatte um den Äther und das Nichts war damit nicht zu Ende. Naturforscher von Isaac Newton bis zu James Clerk Maxwell waren Anhänger der unsichtbaren und alles durchdringenden Substanz. Wie sonst sollten Licht oder Magnetismus sich ausbreiten? Im 19. Jahrhundert hatte der Äther mehr denn je Konjunktur, Theorien um die magische Essenz schossen ins Kraut. Raum ohne Äther sei wie ein Wald ohne Bäume, argumentierte der deutsche Physiker August Föppl.

Mit Einstein wurde der "Äther" überflüssig - nun kehrt er zurück

Erst mit Einsteins Relativitätstheorie wurde Anfang des 20. Jahrhunderts die Annahme eines ätherischen Mediums zwischen den Welten hinfällig. Die Physik kam ohne den Äther aus, er war schlicht überflüssig geworden. Die aktuelle Diskussion zeigt jedoch, dass der Äther von einst unter anderen Vorzeichen wieder auferstanden ist.

Das mit virtuellen Partikeln angefüllte Vakuum des Weltraums als neuer Äther ist zum Ausgangspunkt grundlegender Reflexionen über den Kosmos geworden. Möglicherweise ist dieses „Quantenvakuum“ die Quelle der „dunklen Energie“. Es ist offenbar so mächtig, dass es dazu imstande ist, das Weltall immer schneller auseinanderzutreiben.

„Das Schicksal des Universums, so hat es den Anschein, wird durch die Eigenschaften des Vakuums entschieden“, sagt der Physiker Paul Davies von der Staatlichen Universität von Arizona. Ob das Geschehen in einem Kosmos der dunklen Leere ende, in dem Materie und Energie unendlich verdünnt sind, oder furios in einem „großen Knatsch“ (Big Crunch), in dem das All in sich zusammenstürzt, sei abhängig vom Quantenvakuum. Das große Ringen zwischen Fülle und Leere ist noch nicht entschieden. Aber womöglich sind beide auch aufeinander angewiesen. So, wie Werden und Vergehen zusammengehören.

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