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Demonstrant in Moskau

© KirillLebedev / Gazeta.ru

Wahlbetrug erkennen: "Wir glauben Gauß"

Angenommen, Angela Merkel wollte das Wahlergebnis fälschen lassen: Könnte man das nachweisen? Russische Forscher sagen ja – und zeigen, welche Fehler Fälscher machen.

Sergej Shpilkin wurde stutzig, als er die Wahlergebnisse im Radio hörte. Am 2. Dezember 2007 war in Russland ein neues Parlament gewählt worden. Wenig später wurden im Radio Zahlen für die Wahlbeteiligung und die Wahlergebnisse in Sankt Petersburg, Moskau und ganz Russland verkündet. Shpilkin, der Physik studiert hat, fiel auf, dass sich die Resultate in der Koordinatenebene auf einer Geraden befanden – verdächtig genau. Das heißt, dass sich das Wahlergebnis von Putins Partei „Einiges Russland“ viel zu genau berechnen lässt, wenn man nur die Wahlbeteiligung kennt – so genau, wie das nur rauskommt, wenn man Ergebnisse „ausrechnet“ anstatt Wähler zu fragen.

Shpilkin hat eine Zeit lang als Forscher gearbeitet und verdient heute seinen Lebensunterhalt mit technischen Übersetzungen – kein unüblicher Karriereweg in Russland. Nebenbei betreibt er einen Blog. Dort schrieb er vier Tage nach der Parlamentswahl über die auffälligen Wahlergebnisse – und erregte damit die Aufmerksamkeit anderer Wissenschaftler, wie etwa des Physikers Maxim S. Pshenichnikov. Gemeinsam mit anderen Forschern begannen sie zu diskutieren, wie sich Wahlbetrug nachweisen lassen könnte.

Die Frage ist im Grunde einfach: Nehmen wir einmal an, Angela Merkel habe vor, das Ergebnis der morgigen Bundestagswahl fälschen zu lassen. Nachdem Horst Seehofer in Bayern die absolute Mehrheit gewonnen hat, möchte sie eben gerne gleichziehen. Ließe sich so ein Wahlbetrug dann am Ergebnis nachweisen? Shpilkin und Pshenichnikov sagen ja. Und sie haben neue Methoden entwickelt, die dabei helfen könnten, Wahlbetrug aufzudecken, ob in München oder in Moskau.

Die Glockenkurve fehlt

Bei den Parlamentswahlen 2011 konnten die Forscher ihre Ideen überprüfen. Die Grafik zeigt das Ergebnis. Was ist daran so auffällig? Nehmen wir an, dass wirklich, wie gemeldet, fast die Hälfte der Russen „Einiges Russland“ wählten. (Laut amtlichem Endergebnis waren es 49,3 Prozent.) Dann würde man annehmen, dass in vielen Wahllokalen gerundet ein Wert von 49 oder 50 Prozent für die Putin-Partei rauskommt, vielleicht in etwas weniger Wahllokalen 48 oder 51 Prozent, in sehr viel weniger Lokalen aber 40 oder 60 Prozent. Wir erwarten ein Ergebnis, das eine Glockenkurve zeigt, eine statistische Verteilung mit Mittelwert und Standardabweichung. So eine glockenförmige Verteilungskurve ist nicht nur plausibel, sondern unter wahrscheinlichkeitstheoretischen Überlegungen auch das Ergebnis, das rauskommen muss, wenn sich die Bürger unabhängig voneinander mit bestimmten Häufigkeiten oder Wahrscheinlichkeiten für bestimmte Parteien entscheiden.

Grafik zur Parlamentswahl in Russland
Grafik zur Parlamentswahl in Russland

© Klöpfel

Diese Glockenkurve ist charakteristisch für die sogenannte Gauß’sche Normalverteilung, und der Zentrale Grenzwertsatz der Statistik besagt, dass immer eine Normalverteilung herauskommt, wenn viele Entscheidungen unabhängig voneinander getroffen und danach gezählt werden. Sie taucht erstmals 1809 in Gauß’ Buch zur Himmelsmechanik auf und wurde deshalb auch nach ihm benannt. Daher prangte die Glockenkurve auch in voller Schönheit auf dem 10-DM-Schein.

In vielen Wahllokalen hatten angeblich fast alle für Putin gestimmt

Die russischen Wahlergebnisse zeigen aber keine Gauß-Kurven. Da können (müssen) einem mehrere Merkwürdigkeiten ins Auge springen. Erstens: Das Wahlergebnis der Putin-Partei zeigt einen sehr breiten Schenkel nach rechts, also viele Wahllokale, aus denen eine sehr hohe Prozentzahl für die Putin-Partei gemeldet wurde, die also sehr viel höher liegt als der nationale Durchschnitt.

Zweitens: Es gibt eine Spitze bei 99 Prozent, also viele Wahllokale, in denen angeblich fast alle Wählerinnen und Wähler für Putin gestimmt hatten. Entsprechend gibt es die Spitze bei sehr kleinen Prozentzahlen bei allen anderen ansonsten großen Parteien. Drittens: die auffälligen Spitzen bei 65 bzw. 70 Prozent und so weiter. Gerade bei den hohen Prozentzahlen gibt es auffällig viele Wahllokale, aus denen ein halbwegs „runder“ Wert gemeldet wurde.

Und dann – das kann man nicht aus dieser Grafik sehen, aber es folgt aus der statistischen Analyse, die Pshenichnikov und Shpilkin vorgelegt haben – treten gerade die hohen Wahlergebnisse für die Putin-Partei in den Wahlbezirken mit hoher Wahlbeteiligung auf. Sehr merkwürdig!

Die Linke als Kamel mit zwei Höckern

Ist damit bewiesen, dass die Wahlen massiv gefälscht wurden? Eigentlich ja. Aber ganz so einfach und eindeutig, wie man auf den ersten Blick meinen mag, ist das dann doch nicht, sagt Shpilkin. Die Verteilungskurven können durch ganz verschiedene Faktoren verzerrt werden, etwa das Verhalten der Wähler unter unterschiedlichen „sozio-ökonomischen“ Gegebenheiten. Daher kann man üblicherweise Glockenkurven erwarten, aber keine exakten Gauß-Kurven. Das kann man sehr gut am Vergleich mit den Kurven für die Bundestagswahlen in Deutschland 2009 sehen (siehe Grafik), die Pshenichnikov für uns erzeugt hat. (Fußnote: Deutschland ist eine reife Demokratie, in der die Detaildaten der Wahlergebnisse problemlos zu bekommen sind. Wir leben aber auch im Kapitalismus, wo der Wahlleiter der Bundestagswahl knapp 100 Euro verlangt für die Zusendung der Wahlergebnisse auf einer CD, anstatt sie einfach in eine E-Mail zu packen.)

Was fällt uns auf? Das sind schöne Glockenkurven, außer für die Linke, bei der das Kamel zwei Höcker hat. Erklärung? Ganz unterschiedliches Wählerverhalten im Osten und im Westen, daher die Summe von zwei Gaußkurven? Genau so eine Erklärung hat auch der russische Wahlleiter Tschurow für die Ergebnisse der Putin-Partei gegeben …

Und wie sieht es aus mit der auffälligen Spitze bei 50 Prozent in den Wahlergebnissen der Putin-Partei „Einiges Russland“? Interessanterweise ist die ein Artefakt, das gar nichts beweist. Den Effekt hatte Pshenichnikov schon früher identifiziert, aber zunächst einmal vergessen und dann übersehen, als er auf die Schnelle die Grafik für die Parlamentswahl 2011 erstellt hat. Als er es bemerkte und korrigieren wollte, war der Fehler schon im Netz, in der Welt und auf den Protestplakaten.

Da ist was faul im Staate Russland

Was ist das Problem? An dieser Stelle zählt die Kurve, in wie vielen Wahllokalen für die Partei ein Ergebnis zwischen 50 und 50,49 Prozent rauskam. Nun gibt es in Russland auch viele kleine Wahllokale, mit sehr wenigen Wählern, bei denen es durchaus wahrscheinlich ist, dass genau die Hälfte der Wähler für die Putin-Partei stimmt. Wenn es beispielsweise weniger als 199 Wähler in dem Lokal sind, dann ist es sogar unmöglich, dass auf halbe Prozente abgerundet 49,5 Prozent herauskommt. (Nachrechnen: Wenn zum Beispiel 198 Wähler abstimmen, dann ergeben 98 Wähler gerundet ein Ergebnis von 49 Prozent, während 99 Wähler ein Ergebnis von 50 Prozent liefern - ein Wert von 49,5 Prozent kann dann gar nicht auftreten.) Also gibt es sogar ohne Wahlbetrug eine Spitze bei 50 Prozent.

Wendet man einen kleinen Trick an, tritt das Artefakt bei 50 Prozent nicht mehr auf, die auffälligen Spitzen bei 65, 70, 80, 90, 95 und 99 Prozent bleiben aber. Da ist was faul im Staate Russland …

Sind die Russen also zu dumm, um Wahlen zu fälschen? Würde die Physikerin Merkel es besser machen? Das ist gar nicht so einfach, probieren Sie’s selbst! Wer Zahlen hinschreibt, neigt zu „runden Werten“, und wer versucht, schlauer zu sein, bekommt immer noch kein überzeugendes Ergebnis. Probieren Sie nur mal, die Werte von „60 Mal würfeln“ zu simulieren und zählen Sie dann nach, wie oft Sie jeden der sechs verschiedenen Werte bekommen.

Erster Hinweis: Dass jeder Wert genau 10 Mal auftritt, ist sehr unwahrscheinlich.

Zweiter Hinweis: Jeder Wert sollte ungefähr 10 Mal auftreten.

Und dann versuchen Sie mal, ein realistisches Wahlergebnis in hundert Wahllokalen für die nächste Bundestagswahl hinzuschreiben. Auch da gilt wieder: Das ist nicht einfach. In der Auswertung will ich dann Glockenkurven sehen!

Computer generieren Zufallszahlen nur unzuverlässig

Wenn Sie das realistisch hinbekommen wollen, dann müssen Sie den Zufall einsetzen (wirklich würfeln), oder aber Zufall simulieren – etwa auf dem Computer. Jeder Computer hat Programme zur Verfügung, die Zufallszahlen erzeugen. Aber sind die Zufallszahlen denn gut und überzeugend und sehen die Ergebnisse „wirklich zufällig“ aus?

Zufall im Computer zu simulieren, ist gar nicht so einfach! Donald E. Knuth, ein Informatik-Papst von der Universität Stanford, berichtet in Band 2 seiner Bibel „The Art of Computer Programming“ von seinem ersten Versuch, einen „narrensicheren und fantastisch guten“ Zufallszahlengenerator zu schreiben – mit dem er kläglich scheiterte. Nach ein paar Schritten landete er bei der Zahl 6065038420 und blieb dort stecken, und immer wieder dieselbe Zahl sieht sicher nicht nach einer Zufallsfolge aus. Im nächsten Versuch, mit neuem Startwert, lief er sehr bald in eine Schleife – nach 7401 Werten trat die erste Wiederholung auf, der „Zufallszahlengenerator“ war in einer Schleife der Länge 3178 hängen geblieben und kam aus der auch nicht mehr heraus.

Trotzdem brauchen wir Zufallszahlen. Und zwar nicht nur um Wahlen zu fälschen oder Lottozahlen zu simulieren. Zufallszahlen werden vielfach verwendet, etwa bei der Stichprobenentnahme für statistische Verfahren oder beim Auslosen als Hilfsmittel zur Entscheidungsfindung.

Übertriebene Genauigkeit ist nicht immer ein Vorteil

Durch „Verrauschen“ mithilfe von Zufallszahlen kann man außerdem übertriebene Genauigkeit ausgleichen. Das ist auch für technische Anwendungen wichtig. In der Tat kann zu viel Präzision schaden, zu „runde“ Zahlen können schlechte Ergebnisse liefern, und in Extremfällen sogar tödlich sein. Das zeigt dramatisch ein Zusammenstoß zweier Flugzeuge mitten in der Nacht über dem Südatlantik. 120 Kilometer vor der Küste Afrikas (sicher kein dicht beflogener Luftraum) kollidierten am 13. September 1997 eine Transportmaschine der deutschen Luftwaffe und ein Transportflugzeug der US Air Force in exakt 35 000 Fuß Höhe über dem Meeresspiegel: 33 Tote, keine Überlebenden. Für eine solche Katastrophe gibt es immer mehrere Gründe, aber hier war ein entscheidender die viel zu genau eingehaltene, maschinengesteuerte Flughöhe von exakt 35 000 Fuß. Bei einer zufälligen Flughöhe zwischen, zum Beispiel, 34 000 und 36 000 Fuß wäre das wohl nicht passiert.

Auch wenn die Wahlleiter in den russischen Provinzen das nächste Mal überzeugendere Wahlergebnisse abliefern wollen, sollten sie mehr Zufall einbauen. Oder noch besser: das ganz den Wählerinnen und Wählern überlassen. Tatsächlich scheint das bei den Bürgermeisterwahlen in Moskau Anfang des Monats der Fall gewesen zu sein. Sie hätten keine Anzeichen für massive Wahlfälschungen finden können, sagen Shpilkin und Pshenichnikov.

Shpilkin und seine Kollegen haben ihre Ergebnisse im Mai 2012 unter dem Titel „Statistische Analysen in den Russischen Wahlen 2011–2012 aufgedeckt durch 2D-Korrelationsanalyse“ veröffentlicht. Das mag nicht spannend klingen, aber die Grafiken der Forscher waren aufregend genug, dass sie sich direkt nach den Wahlen im Dezember 2011 über Blogs und soziale Netzwerke verbreiteten und es sogar auf die Plakate von Demonstranten schafften (siehe Foto). Einen wissenschaftlichen Preis haben die russischen Forscher mit der Arbeit nicht gewonnen. Aber einen Preis für „politische Erziehung“ – natürlich von einer Nichtregierungsorganisation.

Buchcover "Mathematik - Das ist doch keine Kunst!"
Mathematik. Das ist doch keine Kunst!

© promo

Der Autor Günter M. Ziegler ist Professor für Diskrete Geometrie an der FU Berlin. Der Artikel basiert auf seinem neuen Buch „Mathematik – Das ist doch keine Kunst!“ (Albrecht Knaus Verlag, 312 Seiten, 24 Euro 99).

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