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Auf diesem Reklamezettel für "San Pellegrino" notierte Benjamin seine Gedanken zum Thema „Was ist Aura?“.

© Akademie der Künste

Walter Benjamin: Das Kunstwerk auf dem Rechnungsblock

Walter Benjamin schrieb große Aufsätze sogar auf Reklamezetteln. Heerscharen von Forschern haben sich darangemacht, jede Zeile des schwierigen Autors auszudeuten. Eine große Ausstellung in Paris würdigt jetzt den Philosophen.

Walter Benjamin schrieb winzig klein. Die Buchstaben, so haben es seine Archivare gemessen, erreichen ein bis sechs Millimeter. Es genügt kaum eine Brille, wie Benjamin sie trug, um diese Minuskeln zu lesen. Selten hat er in größeren Zügen geschrieben. So etwa auf einem Blatt aus dem Rechnungsblock eines Kellners, wo er unter dem kaum hervorgehobenen Titel „Was ist Aura?“ nicht weniger notierte als die Grundgedanken des berühmten Aufsatzes „Das Kunstwerk im Zeitalter der technischen Reproduzierbarkeit“.

Auf einem Zettel mit Reklame für das Mineralwasser San Pellegrino! Es ist nicht zuletzt die Inkongruenz des jedenfalls in der Not des Exils oft beiläufigen, im Verbrauch reduzierten Schreibmaterials sowie der Sorgsamkeit, die der Autor den Notizen und nicht zuletzt deren archivierender Erfassung angedeihen ließ, die bei der Betrachtung von Benjamins schriftlichen Hinterlassenschaften kopfschütteln macht.

Er selbst sprach 1935 von seiner „unendlich verzettelten Produktion“, welche eine Sammlung „weniger absehbar, ja unwahrscheinlicher als jemals erscheinen“ ließe. Die in diesen Worten angedeutete Katastrophe seines eigenen, gewaltsamen Endes erinnert nicht zufällig an eine grundlegende Denkfigur Franz Kafkas. Allerdings tat Benjamin (1892–1940) alles, um seine „Produktion“ über das Stadium der Verzettelung hinaus in das eines geordneten Systems zu bringen, „denn alles Wesentliche findet sich im Zettelkasten des Forschers“, wie er noch zu Berliner Tagen erkannt hatte.

Eine Ausstellung des in der Berliner Akademie der Künste beheimateten Benjamin-Archivs ist jetzt im Pariser Musée d’art et d’histoire du Judaisme zu besichtigen, ergänzt um einen zum Verständnis wichtigen Abschnitt zum Leben Benjamins im Pariser Exil. Damit kehrt der Philosoph und Literaturkritiker zurück in die Stadt, die seit jeher Bezugspunkt seines Denkens war. Dort sah er „die Hauptstadt des XIX. Jahrhunderts“. Unter diesem Titel wollte er ursprünglich das als „Passagen-Werk“ bekannte Fragment, diesen Zettelkasten voller Zitate, veröffentlichen.

Eine Welt im Kleinen. Besucher in der Ausstellung „Walter Benjamins Archive“ in Paris.
Eine Welt im Kleinen. Besucher in der Ausstellung „Walter Benjamins Archive“ in Paris.

© Paul Allan, Musée d’art et d’histoire du Judaisme

Heerscharen von Benjamin-Exegeten haben sich darangemacht, jede Zeile des schwierigen Autors auszudeuten. Wie diese Zeilen aber aussehen, wie ihre physische Existenz beschaffen ist, das zeigt die Ausstellung, die ihre wertvollen Objekte sinnigerweise in schönen Transportkisten unter Glas birgt. Was der „Aura“-Zettel vermerkt, ist an allen Blättern zu spüren: „Aura ist Erscheinung einer Ferne so nah sie sein mag.“ Und Benjamin fährt fort: „Worte selbst haben ihre Aura; (Karl) Kraus hat sie besonders genau beschrieben: ,Je näher man ein Wort ansieht, desto ferner blickt es zurück’.“

Wie von Ferne blicken diese winzigen Wörter tatsächlich zurück, als Geheimschrift nicht nur einer anderen Zeit, sondern auch eines anderen Raumes. Es genügt ein einziger Raum im Museum, die Holzkisten aufzunehmen, in die sich erstaunlich viele Besucher geradezu versenken. Zu den beiläufig aufgegriffenen Zetteln wie zu den von ihrem Benutzer sorgsam ausgewählten Notizbüchlein darf natürlich das berühmte Foto von Benjamin im Lesesaal der Bibliothèque nationale nicht fehlen, wo er, sorgsam in einen dreiteiligen Anzug gekleidet, aus einem Bestandskatalog exzerpierend sitzt.

Das Foto stammt von Gisèle Freund, der jungen Fotografin, die wie Benjamin aus Berlin stammte und gleichfalls aus Deutschland flüchten musste. Sie wurde in Paris zur Fotografin der literarischen Welt. Auch ihr ist eine Ausstellung gewidmet, in der Fondation Pierre Bergé – Yves Saint Laurent, leider nicht in unmittelbarer Nähe zum Jüdischen Museum. Oder vielleicht glücklicherweise nicht? Denn so ist der Besucher gezwungen, sich dem Ort auszusetzen, der Stadt Paris, die in ihrem Kern noch immer noch so aussieht, wie sie Benjamin als Stadt des Barons Haussmann erlebt hat, der er ein Kapitel des Passagenwerks zuordnen wollte.

Benjamin und Gisèle Freund wurden enge Freunde; sie hatten sich, berichtet die Fotografin, erstmals 1932 auf Ibiza getroffen, wo sie den Mann nicht anzusprechen wagte. Freund hatte noch in Frankfurt am Main ihre Doktorarbeit zur französischen Fotografie des 19. Jahrhunderts begonnen, die sie an der Sorbonne abschließen konnte. Als Buch erschien die Arbeit 1936 im Verlag La Maison des Amis du Livre – angegliedert der gleichnamigen Buchhandlung in der Rue de l’Odéon, wo Freund die von der Buchhändlerin Adrienne Monnier versammelte Crème der Pariser Intellektuellen von André Gide über Louis Aragon bis Jean-Paul Sartre fotografierte. Dazu natürlich James Joyce, der auf der anderen Straßenseite in der Buchhandlung Shakespeare & Co. verkehrte, deren Eigentümerin Sylvia Beach die Erstausgabe des „Ulysse“ herausgebracht hatte.

Es bildet sich eine imaginäre und zugleich reale Topografie im Kopf des Besuchers. So hat Benjamin die Stadt gesehen und beschrieben, wie unter dem Datum vom 29. Dezember 1929 für die „Literarische Welt“: „Kaum hat man die Stadt betreten, so ist man beschenkt. Vergeblich der Versuch, nichts über sie zu schreiben.“ Jahre später rezensiert Benjamin das Fotografie-Buch seiner Freundin für die „Zeitschrift für Sozialforschung“, dem Organ des ebenfalls emigrierten Frankfurter Instituts um Max Horkheimer. Die Zeitschrift wurde damals in Paris verlegt, von der Librairie Félix Alcan.

Die verwickelte Geschichte selbst eines kleinen Texts wie der Freund-Rezension ist jetzt nachzuverfolgen im Doppelband der „Kritiken und Rezensionen“ innerhalb der „Kritischen Gesamtausgabe“ Walter Benjamins bei Suhrkamp. Herausgeber Heinrich Kaulen hat den seit der vorigen Ausgabe von 1972 vorliegenden Texten knapp 300 Seiten „Entwürfe und Fassungen zu den Drucken und Typoskripten“ aus dem Nachlass hinzugefügt – und 1084 Seiten Erläuterungen.

Walter Benjamin.
Walter Benjamin.

© picture-alliance / obs

Die Benjamin-Philologie erreicht mit der Gesamtausgabe ihren Höhepunkt. Doch ein Problem ist ihr eigen: Sie ist pures Wort. „Die Aneignung der Ideen und Schriften Walter Benjamins in den 60er, 70er und 80er Jahren des 20. Jahrhunderts vollzog sich weitgehend ,bildlos’“, bemängelt der Architekturhistoriker Winfried Nerdinger. Dabei geht es nicht allein um Bauten, wie sie in Gestalt der bereits zu Benjamins Zeiten längst überlebten Passagen noch heute vor Augen stehen. Es geht ebenso um Methoden wie die Montage, die Benjamin am Pariser „Sürrealismus“ begeisterte. Den Begriff verdankte er dem Dichter Guillaume Apollinaire, dessen nachgelassenes Buch unter dem Titel „Der Flaneur der beiden Ufer“ er 1929 deutschen Lesern vorgestellt hatte. Benjamin meint sich, wenn er über Apollinaire sagt, dieser habe „sich mit so angespanntem Fühlen an den Augenblick verloren und doch, zugleich, so eigenwillig im Vergangenen sich behagt“. Um das zu erfassen, muss der Heutige durch die still gewordenen Passagen schlendern und an den Seine-Ufern entlangstreifen, auch wenn die von Benjamin gerühmten Bouquinisten, die Antiquare unter freiem Himmel an der Seine, nur mehr in Restexemplaren dem Verkehr trotzen.

„Linke Melancholie“ überschrieb Benjamin im Herbst 1930 seine Rezension von Kästners Gedichten; übrigens ein scharfer Verriss. Dieser Ausdruck, von seiner Herkunft abgelöst, trifft genau den Geisteszustand, unter dem Benjamin seit den späten sechziger Jahren zur idealen Projektionsfigur eigener Vergeblichkeit werden konnte. Das Fragment, von Benjamin beschworen, wurde Ideal wie Entschuldigung. „Benjamins Oeuvre fügt sich nicht zu einem Ganzen. Es bleibt ein unabgeschlossenes Projekt“, betont Herausgeber Heinrich Kaulen eingangs der „Kritiken und Rezensionen“.

Das Ganze lässt sich auch in Paris nicht finden. Aber es lässt sich dort besser als anderenorts erahnen. In Paris erschien 1936 als Sonderheft der „Zeitschrift für Sozialforschung“ Benjamins „Kunstwerk“-Aufsatz, die Ausformulierung der Überlegungen zur Aura, die der Autor auf San-Pellegrino-Papier notiert hatte.

- Musée d’art et d’histoire du Judaisme, „Walter Benjamin. Archives“, 71 Rue du Temple, bis 5.2. - Fondation Pierre Bergé -Yves Saint Laurent, „Gisèle Freund“, 5 Av. Marceau, bis 29.1. – Walter Benjamin: Kritiken und Rezensionen. Kritische Gesamtausgabe Bd. 13, Suhrkamp Verlag, Berlin 2011, 2 Bde., 918/1086 S., zus. 98,80 €.

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