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Ein Studium ist keine Berufsausbildung. Der Staat hat viel weiter reichende Interessen. Er braucht Absolventen, die sich aktiv an der Lösung großer gesellschaftlicher Herausforderungen beteiligen können. Die Didaktik im Studium muss sich ändern.

©  TU Berlin/Sabine Böck

Was die moderne Uni ausmacht: Ein gutes Studium prägt ein Weltbild

Die Universität im 21. Jahrhundert muss zum „engagierten Bürger“ ausbilden. Daher gilt es, die Lehre neu zu denken: Die Lebenswirklichkeit darf nicht länger aus den Bachelor-Studiengängen mit dem Argument verbannt werden, dass sie zu komplex sei.

Die Universität im 21. Jahrhundert: überfüllte Hörsäle, überforderte Professoren, unflexible Verwaltungsvorschriften – all dies macht den Studierenden in Deutschland das Leben schwer. Gleichzeitig wird von der Lehre immer mehr erwartet. Sie soll den Studierenden nicht bloß Wissen, sondern Kompetenzen vermitteln, die im Berufsleben nutzen – ein Leben lang. Angesichts von Schuldenbremse und demografischem Wandel wird schnell klar, dass die Probleme der Hochschulen nicht durch den Ruf nach Geld und Personal zu lösen sind. Daher gilt es, die Lehre grundlegend neu zu denken. Denn die oft beklagte Krise der Universitäten ist nicht bloß eine Krise der Strukturen. Es ist auch eine intellektuelle Krise: Die Universität zweifelt an ihrem Zweck.

In der öffentlichen Diskussion geht es bisher fast ausschließlich um Struktur-, Budget- und Evaluationsfragen. Bevor man sich jedoch mit der Frage befasst, wie die Lehre zu organisieren ist, sollte man zuerst fragen, worin heutzutage das Ziel universitärer Lehre überhaupt besteht. Die gesellschaftliche Aufgabe der Hochschullehre wurde im Rahmen der Bologna-Reform auf das Stichwort „Berufsbefähigung“ reduziert. Dieses Verständnis vom Zweck eines Hochschulstudiums übersieht jedoch, dass die meisten Studiengänge nicht auf die Tätigkeit in einem bestimmten Berufsfeld vorbereiten und dass ein Großteil der Absolventen in Berufen tätig sein wird, die mit den Inhalten ihres Studiums wenig zu tun haben. Auch die neue Leitidee, Kompetenzen zu vermitteln, greift zu kurz. Ein gutes Studium vermittelt mehr als Fähigkeiten. Ein gutes Studium prägt ein Weltbild.

Ein Studium ist keine Berufsausbildung. Andererseits sollte es aber auch kein Glasperlenspiel sein. Im Gegensatz zu den Theorien, die die Bachelor-Studierenden in ihren Einführungsveranstaltungen kennenlernen, ist unsere Alltagswelt ungeordnet und komplex. Es ist eben diese Alltagswelt, mit der die Absolventen später zurechtkommen müssen. Sie werden ständig auf interdisziplinäre, nicht klar umrissene Probleme treffen – und zwar unabhängig davon, ob sie für ein Unternehmen oder eine Organisation der Zivilgesellschaft arbeiten, in die Forschung oder in die Politik gehen. Daher dürfen wir die Lebenswirklichkeit nicht länger aus den Curricula der Bachelor-Studiengänge mit dem Argument verbannen, dass sie für die Lehre zu komplex sei. Vielmehr sollte sie genutzt werden, um die Studierenden von Beginn ihres Studiums an auf interdisziplinäres Denken vorzubereiten.

Dabei geht es keinesfalls darum, klar definierte Disziplinen abzuschaffen. Sondern vielmehr darum, diese zu ergänzen. Studierende sollten schon zu Beginn ihres Studiums mit konzeptuellen Widersprüchen, theoretisch nur schwer fassbaren Phänomenen und komplexen Gemengelagen konfrontiert werden. Denn in der Praxis stellen diese nicht die Ausnahme dar, sondern die Regel. Diese Erkenntnis der Wissenschaftsphilosophie sollte die neuen Bachelor-Curricula ebenso prägen wie der Versuch, ein Verständnis für die drängendsten Probleme der Weltgesellschaft zu schaffen.

Das Bachelor-Studium wird in Deutschland praktisch ausschließlich durch den Staat finanziert. Daher scheint es angebracht, dass staatliche Universitäten sich Ziele setzen, die über die berufliche Qualifizierung hinausgehen. Ein solches Ziel sollte es sein, die Studierenden zu „engagierten Bürgern“ auszubilden, indem sie lernen, über Probleme aus der Lebenswirklichkeit nachzudenken und diese zu bewerten. Auf diese Weise bereiten sie sich im Studium auf ein Leben als aktive Mitglieder einer globalen, demokratischen und liberalen Zivilgesellschaft vor.

Wie Unis von Partnervermittlungswebseiten lernen können

Wie kann dies erreicht werden? Im Gegensatz zu Multiple-Choice-Aufgaben können Probleme aus der Lebenswirklichkeit meist nicht von einer Disziplin allein gelöst werden. Daher sollten Studierende aller Fachrichtungen ab dem ersten Studienjahr, neben den Einführungskursen in ihrer Disziplin, gemeinsam verpflichtende Seminare besuchen, in denen sie komplexe, gesellschaftliche Herausforderungen miteinander diskutieren: Armut, Hunger, Klimawandel, Infektionskrankheiten, Zugang zu Bildung. Die Studierenden können dabei einen breiten intellektuellen Horizont und interdisziplinäre Kommunikationsfähigkeit entwickeln.

Nicht nur in diesen Seminaren, auch innerhalb der Disziplinen, sollen die Curricula von Anfang an darauf abzielen, ein Verständnis für nicht lineare Zusammenhänge zu schulen. Denn nur wer sich der Tatsache bewusst ist, dass eine Erderwärmung um vier Grad nicht einfach bedeutet, dass man im September abends etwas länger auf dem Balkon sitzen bleiben kann, der versteht, welche Bedrohung vom globalen Klimawandel ausgeht.

Neue Curricula brauchen zudem eine neue Didaktik. Bei einem Seminar, in dem sich über 100 Teilnehmer gegenseitig mit Referaten langweilen, handelt es sich eher um ein Ritual als um ein effektives Lehrformat. Die Aufgabe der Lehrenden sollte zukünftig darin bestehen, den Studierenden beizubringen, wie man Wissen bildet und mit Wissen umgeht. Dies muss durch die Interaktion mit Kommilitonen in Kleingruppen geschehen. Doch eine bessere Betreuung und dialogorientierte Lehre würden im Rahmen bestehender Strukturen erhebliche Mehrkosten verursachen. Also müssen andere Wege gegangen werden.

Die Digitalisierung bietet die Chance, die Hochschullehre wirklich neu zu denken. Von erfolgreichen digitalen Lehrformaten wie etwa den jüngst viel beachteten offenen Online-Lehrveranstaltungen mit Zehntausenden von Teilnehmern (MOOCs) bis hin zu dem in der regulären Lehre schon vielerorts erprobten „Flipping the Classroom“-Konzept – also der Idee, dass man sich die Lehrinhalte mittels Lehrvideos zu Hause aneignet, während das, was früher die Hausaufgaben waren, nun gemeinsam im „Unterricht“ erledigt wird – gibt es bereits eine Reihe von Ansätzen.

Damit, dass einzelne besonders engagierte Lehrende heute schon innovative Lehre betreiben, ist es nicht getan. Die Institutionen selbst müssen sich verändern. Universitätsleitungen, Stiftungen und die Wirtschaft können helfen, Veränderungsprozesse anzustoßen und zu unterstützen. Aber auch die Politik ist gefragt, entsprechende Rahmenbedingungen zu schaffen und etwa das bürokratische Verständnis davon, was als universitäre Lehre zählt, zu modernisieren.

Intellektueller Austausch ist heutzutage zudem nicht mehr zeit- und ortsgebunden. Viele Studierende nutzen das Internet schon selbstverständlich, um sich Lehrinhalte selbstständig und im Austausch mit anderen zu erschließen. Was automatisiert werden kann, sollte digitalisiert werden. Die Lehrenden sollten ihre wertvolle Zeit und fachliche Expertise in Zukunft darauf verwenden, Feedback zu geben, zu beraten und die Studierenden beim selbstständigen Lernen zu unterstützen. Die Hochschulen sollten den Wert dieser Form des Lernens anerkennen und sie als ein wichtiges Element neuer institutioneller Lehrkonzepte begreifen.

Konkrete Wissensbestände zu vermitteln wird unwichtiger. Die Aufgabe von Bildungsinstitutionen besteht zunehmend darin, einen Rahmen für den Austausch zwischen Menschen mit ähnlichen Interessen zu bieten, so dass diese voneinander lernen können. Soziale Netzwerke und andere Formen der Wissensorganisation im Web werden mittlerweile von breiten Bevölkerungsschichten genutzt. Nun gilt es sie auch an Hochschulen gezielt einzusetzen. So könnte man zum Beispiel von Partnervermittlungswebseiten lernen: Die gezielte Vernetzung auf Grundlage übereinstimmender akademischer Interessen und die Betreuung durch ältere Semester könnte gerade Studierenden aus nicht akademischen Elternhäusern helfen, sich besser an den Hochschulen zurechtzufinden. Anstatt in großen Vorlesungen nebeneinanderher zu studieren, werden die Studierenden zukünftig viel stärker von- und miteinander lernen – sowohl offline als auch online.

So eingesetzt kann Technologie dabei helfen, den kritischen Dialog unter den Studierenden zu fördern, Lehrenden neue Freiräume zu erschließen und die Anonymität der Massenuniversität zu überwinden.

- Der Autor hat mit dem unlängst verstorbenen Wissenschaftstheoretiker Yehuda Elkana das Buch „Die Universität im 21. Jahrhundert. Für eine neue Einheit von Lehre, Forschung und Gesellschaft“, verfasst. Edition Körber-Stiftung (2011). 512 Seiten, 18 Euro.

Hannes Klöpper

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