zum Hauptinhalt
Kindern mit Lese-Rechtschreib-Schwierigkeiten wird in der Schule oft nicht geholfen. Sei es, weil Lehrkräfte ihre Probleme nicht erkennen, oder weil Förderkurse fehlen.

© picture alliance / JOKER

Was Leseschwachen wirklich hilft: Legasthenie ist keine Krankheit

Leseschwache benötigen weder Medikamente noch Prismenbrillen, sondern eine pädagogische Förderung. Legasthenie als Krankheit anzusehen, hilft den Betroffenen nicht weiter.

Seit Jahrzehnten streiten sich Mediziner und Pädagogen darum, ob es sinnvoll ist, Legasthenie als Krankheit anzusehen. In den Augen der Mediziner galt bislang, dass sechs bis acht Prozent aller Kinder und Jugendlichen von einer Störung im Lesen und oder Rechtschreiben betroffen sind. Nun haben die Mediziner nachgelegt: In der neuen ärztlichen Leitlinie „Diagnostik und Behandlung von Kindern und Jugendlichen mit Lese- und/oder Rechtschreibstörung“ beziehungsweise Legasthenie wird der Kreis der Patienten erheblich erweitert.

Berufsverbände sichern sich Arbeitsfeld

Bislang galten nur jene Kinder als Legastheniker, bei denen eine Diskrepanz zwischen schwachen Lese-Rechtschreib-Leistungen und guter Intelligenz besteht. Nun wird auch allen Kindern eine „Störung“ bescheinigt, die mit ihren Leistungen erheblich unter der Altersnorm liegen, unabhängig von der Intelligenz. Neben der Abweichung von der Altersnorm wird aber weiterhin auch an der IQ-Diskrepanz festgehalten. Dass sich diese Kriterien widersprechen, wird in der Leitlinie nicht thematisiert. Jedenfalls kann nun gut einem Viertel aller Personen eine Legasthenie bescheinigt werden, sofern sie denn zum Arzt gehen. Legasthenie galt schon in der Vergangenheit als Arbeitsbeschaffungsmaßnahme.

Für Nichtmediziner drängt sich der Eindruck auf, dass sich mit der Leitlinie interessierte Berufsverbände durch die großzügigen Definitionen ein noch breiteres Arbeitsfeld als bisher sichern.

An der Erstellung der Leitlinie waren an die dreißig Fachgesellschaften unterschiedlicher Disziplinen beteiligt. Allerdings haben schließlich Organisationen, die sich mit pädagogischen und sprachwissenschaftlichen Aspekten von Lesen- und Schreibenlernen befassen, ihre Zustimmung verweigert, unter anderem die Deutsche Gesellschaft für Erziehungswissenschaft, die Deutsche Gesellschaft für Sprachwissenschaft und der Philologenverband.

Viele Therapieansätze sind wirkungslos

Allerdings: Die Leitlinie ist eher ein Beleg dafür, dass Legasthenie kein medizinisches Problem ist. Sie fordert: „Die Diagnose und Behandlung von Personen mit Lese- und/oder Rechtschreibstörung wird als interdisziplinäre Aufgabe gefasst und muss von Fachleuten durchgeführt werden, die solide Kenntnisse in Bezug auf Erwerb und Störungen von schriftsprachlichen Leistungen haben.“

Leitlinie empfiehlt pädagogische Förderung

Ferner wird festgestellt, dass die „Behandlung“ nur dann erfolgreich ist, wenn sie an den „Symptomen“, also gezielt an den konkreten Schwierigkeiten im Lesen und/oder Rechtschreiben ansetzt. Maßnahmen, wie sie bislang in der Legasthenietherapie üblich waren, werden als wirkungslos anerkannt: medikamentöse Behandlungen, Prismenbrillen, Training der Blicksteuerung, auditive, visuelle und motorische Funktionsübungen, Aufmerksamkeitstrainings und vieles mehr. Letztlich werden also pädagogische Fördermaßnahmen empfohlen – eine Erkenntnis, wie sie schon seit mindestens 30 Jahren von pädagogischer Seite vertreten wird.

Fachleute aus Psychologie und Pädagogik sind sich einig, dass bei Legasthenie alle schriftsprachunspezifischen Trainingsverfahren wirkungslos sind und die Förderung an den Problemen im Lesen und der Rechtschreibung anzusetzen hat. Im pädagogischen Verständnis handelt es sich bei Legasthenie um einen Rückstand in der Lernentwicklung, der vielfältig bedingt sein kann, etwa durch mangelnde Einsichten in den Aufbau der Schriftsprache, fehlende Lernstrategien, mangelnde Motivation, ungünstige sprachliche oder kognitive Lernvoraussetzungen, anregungsloses häusliches Milieu oder auch fehlerhafte Unterrichtsmethoden und mangelnde schulische Förderung.

Lernstand ermitteln - nur wünschenswert oder Pflicht?

Pädagogen und Psychologen gehen darum in ihren Empfehlungen noch einen Schritt weiter als die Leitlinie: Die Förderung muss passgenau an den Schwierigkeiten im Lernprozess ansetzen. Eine solche Förderung setzt zwingend eine Lernstandsfeststellung voraus. In der Leitlinie heißt es dazu aber nur: „Wünschenswert sind außerdem Verfahren der Lernstandsdiagnose, welche die spezifischen Stärken und Schwächen in der Lernentwicklung im Lesen und/oder Rechtschreiben identifizieren“. Würde hier eine Soll-Empfehlung gemacht, könnten viele Ärzte mangels entsprechender Ausbildung keine Diagnosen mehr vornehmen.

Krankheitskonstrukt ist weder gerechtfertigt noch hilfreich

In Bezug auf die Fördermaßnahmen nähert sich die Leitlinie dem pädagogisch-psychologischen Verständnis an. Allerdings gibt es weiterhin einen entscheidenden und weitreichenden Unterschied, nämlich in der Ursachenzuschreibung. Die Leitlinie spricht hier von einer Störung, und Betroffene werden als Patienten angesehen. Ob die Annahme einer Störung überhaupt sinnvoll oder brauchbar ist, wird gar nicht diskutiert – sonst wäre ja auch die Leitlinie überflüssig. Im pädagogisch-psychologischen Verständnis gilt ein derartiges Krankheitskonstrukt weder als sachlich gerechtfertigt noch als hilfreich, denn die Zuschreibung einer Krankheit kann mit vielen Risiken und Nebenwirkungen einhergehen: Lehrkräfte fühlen sich weder verantwortlich noch zuständig für den Lernerfolg der betroffenen Schüler und Schülerinnen. Viele Legastheniker leiden unter ungünstigen Selbstbildern und Ursachenzuschreibungen.

Förderung nur mit Diagnose

In Deutschland wird nur in zwei Bundesländern, in Bayern und Mecklenburg-Vorpommern, eine Unterscheidung vorgenommen zwischen einer Lese-Rechtschreib-Störung (Legasthenie) und einer Lese-Rechtschreib-Schwäche. Da Legasthenie als eine nur schwer therapierbare Krankheit betrachtet wird, muss eine derartige Diagnose von Ärzten erstellt werden. Während in den schulischen Richtlinien der übrigen Bundesländer für alle Kinder mit LRS ein Nachteilsausgleich vorgesehen ist, wird in Bayern differenziert: Bei Lese-Rechtschreib-Störung gilt eine „Muss-Bestimmung“ für die gesamte Schulzeit, bei Lese-Rechtschreib-Schwäche nur eine „Kann-Bestimmung“ einschließlich Jahrgangsstufe 10.

Es ist verständlich, dass sich vor allem Eltern der Mittel- und Oberschicht darum bemühen, für ihre Kinder bei Ärzten eine Legasthenie-Diagnose zu erhalten, damit diese in den Genuss schulischer Privilegien (spezielle Förderung, Notenschutz und Empfehlung für das Gymnasium trotz schlechter Rechtschreibung) gelangen.

Förderung wird seit Jahrzehnten eingefordert - erfolglos

Allerdings ist kritisch anzumerken, dass bislang viele Kinder mit Lese-Rechtschreib-Schwierigkeiten in der Schule nicht gefördert werden, sei es, weil ihre Probleme von den Lehrkräften nicht erkannt werden, sei es, weil es keine entsprechenden Förderkurse gibt.

Derartigen Missständen ist unbedingt entgegenzuwirken durch eine Verbesserung der Rahmenbedingungen, wie sie seit Jahrzehnten von der Kultusministerkonferenz eingefordert, aber bis heute nicht eingelöst wurden: ein sorgfältig durchgeführter Erstlese- und Schreibunterricht, die Verbesserung der förderdiagnostischen Fähigkeiten der Lehrkräfte, die Einrichtung von Förderkursen sowie die Verbesserung der Lehreraus- und -fortbildung.

Zwar wird in den LRS-Richtlinien aller Bundesländer auf die Notwendigkeit der Förderung von Kindern mit Lese- und Rechtschreibproblemen verwiesen, aber es gibt kein verbrieftes Recht des Kindes auf schulische Förderung. Solange ein derartiger Rechtsanspruch nicht besteht, ist es verständlich, dass sich die Eltern betroffener Kinder hilfesuchend an Ärzte wenden.

Renate Valtin, Professorin für Grundschulpädagogik i. R., ist Vorsitzende der Europäischen Lesegesellschaften (IDEC) und hat im Auftrag der Deutschen Gesellschaft für Erziehungswissenschaft eine Stellungnahme zur Leitlinie verfasst, nachzulesen unter www.dgls.de

Renate Valtin

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false