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Was Träume bedeuten: Von Zucchini und Tunneln

Frauen träumen anders als Männer. Das hat mit Sex zu tun, glaubte Freud. Heute haben Forscher neue Erklärungen. Wir träumen von dem, was uns im Alltag beschäftigt.

Raschelnde Laken, keuchendes Atmen, das erotische Glück in Männerträumen kannte schon der Dichter Heinrich Heine. Eines Morgens vor fast 200 Jahren notierte er seine wilden Fantasien. „Im Traum“, schrieb er, wollte er sich „an der schmutzigen Magd laben“, obwohl er „die allerschönste Prinzessin“ hätte nehmen können. Studien belegen, Männer schwelgen auch tagsüber häufiger in sexuellen Fantasien als Frauen. Die Gedanken wandern bis ins Traumreich und mit ihnen eine Schar feiner Unterschiede zwischen den Geschlechtern.

Denn Männer und Frauen träumen anders, sagt Michael Schredl, Leiter des Schlaflabors im Mannheimer Zentralinstitut für seelische Gesundheit und einer der weltweit führenden Traumforscher. Hat die Emanzipation unser Unbewusstes also noch immer nicht erreicht?

Folgt man Schredl und den Vertretern der Kontinuitätshypothese, schläft das Bewusstsein nie. Träume sind die Verlängerung unseres Tagmenschen-Daseins, nicht etwa geheime Instanz oder fremde Parallelwelt. In ihnen kommt vor, was uns auch im Alltag beschäftigt.

Nicht alle Experten sehen das so. Einige Neurowissenschaftler halten Träume für ein bedeutungsloses Nervengewitter im Kopf; Hirnforscher sagen, der Traum festige Erlerntes; Psychologen wiederum meinen, Träume dienen Problemlösungen. Sigmund Freud, Begründer der Psychoanalyse, entdeckte schon vor gut 100 Jahren die Traumwelt für die Wissenschaft, doch brachte er sie sogleich in Verruf: als Senkgrube libidinöser Fantasien, Wegbahner verborgener Wünsche, als Flüstern des Unbewussten.

Im Sommer 1895 therapierte Freud eine junge Frau namens Irma. Im Schlaf begegnet er ihr wieder und notiert nach dem Erwachen den „Traum von Irmas Injektion“, er wird Grundlage seiner Theorie der Traumdeutung werden: Ein Arzt hatte Irma, „als sie sich unwohl fühlte, eine Injektion gegeben mit einem Propylpräparat ... (dessen Formel ich fett gedruckt vor mir sehe) ... Man macht solche Injektionen nicht so leichtfertig ... Wahrscheinlich war auch die Spritze nicht rein“. Der Wiener Arzt und Psychologe bemerkte, dass sich daraufhin Ungeahntes in ihm regte. Wach habe er sich die Gefühle für Irma nie eingestanden. Spritze ist gleich langes, hartes Ding. Und die Injektion. Ganz eindeutig symbolische Verschlüsselung des Geschlechtsaktes.

Auf der nächsten Seite: Bei Zucchini-Träumen geht es um Essen, bei Tunneln um Reisen

Für Michael Schredl ist etwas anderes eindeutig: Freud träumte von seinem Beruf. Der Forscher fand heraus, dass Männer weitaus häufiger als Frauen vom Beruf träumen, weil sie auch öfter berufstätig sind. Für das Institut für Demoskopie Allensbach durchforstete er Traumberichte aus den Jahren 1956, 1970, 1981 und 2000. Er bemerkte: einen mehr als 40 Jahre fortdauernden Geschlechterunterschied. Immerhin sind im Jahr 2000, anders als noch 1956, schon 71 Prozent der Frauen berufstätig. Das zeige sich auch in den Trauminhalten. Insgesamt berichten aber noch immer mehr Männer vom beruflichen Traum. Das war schon vor Freuds Zeiten so. Wie bei dem prominenten Chemiker Friedrich August Kekulé. Den lenkten nicht etwa triebhafte Fantasien, als ihm im Jahr 1865 im Schlaf eine Schlange erschien, die sich selbst in den Schwanz biss und so einen Ring formte. Der Traum zeigte ihm, worüber er schon so viele Tage und Nächte gegrübelt hatte – die Struktur des Benzolmoleküls.

Für Freud war klar: „Das männliche Glied findet symbolischen Ersatz durch Dinge, die ihm in der Form ähnlich sind.“ Natürlich könne eine sexuelle Thematik durch eine Metapher ausgedrückt werden, erklärt Schredl. Während der prüden Zeit des wunschdenkenden Österreichers noch wahrscheinlicher als heute, wo gar kein Symbolisieren notwendig sei. In Sexträumen komme alles vor, was unsere Fantasie auch tagsüber umtreibt. Selbst Freud, der leidenschaftliche Raucher, geriet über die eigene Theorie ins Wanken: Manchmal sei eine Zigarre eben einfach nur eine Zigarre. Aber was heißt es nun, wenn einer Frau nachts Zucchini erscheinen oder einem Mann Züge, die durch Tunnel rasen? Es geht schlicht ums Essen oder Kochen beziehungsweise ums Reisen, sagt Schredl. Mehr nicht.

Männer träumen wie der amerikanische Autor Jack Kerouac in seinem Buch „Unterwegs“ (Englisch: „On the Road“) von Abenteuern und Aktivitäten im Freien. Frauen begegnen in ihren Träumen oft verstorbenen Angehörigen. Sie träumen häufiger, wie Schredl es nennt, von interpersonellen Kontakten, von der Familie, Gesprächen und Konflikten. Frauen pflegen öfter als Männer ihre Verwandten, schreiben Geburtstagskarten, organisieren Weihnachtsfeste, kümmern sich um das soziale Networking. Heim und Familie bleiben die klassische Sphäre der Frau, während der Mann den öffentlichen Raum erobert? „Frauen sind heute zwar mehr draußen, aber wenn man sich die Politik oder Berufe mit einer starken Außenwirkung anschaut, sind die noch immer männerdominiert. Andererseits spielen sich die interpersonellen Kontakte eher innerhalb von Räumen ab.“

Dass Frauen von Kosmetik oder Kleidung träumen, ist für Schredl so wenig überraschend. Beschäftigten sie sich tagsüber doch mehr damit als Männer. Eine Frau erzählte ihm ihren Traum: „Dann war ich plötzlich auf der Straße und habe festgestellt, dass ich nicht richtig angezogen bin. Ich hatte nur meine Unterwäsche an und die Schuhe vergessen. Es sind Leute zu mir gekommen, haben mit mir gesprochen. Mich jedoch nicht auf meine mangelnden Kleidungsstücke angesprochen. Ich hatte immer das Gefühl, dass ich dringend in die Wohnung wollte, um mich komplett anzuziehen.“ Der Frauentraum dreht sich um Schuhe, Sorge und die eigenen vier Wände.

Männerträume sind anders. Sie beinhalten Aggression, Gewalt und Waffen. „Wir haben es mit einem Stereotyp des Männlichen zu tun“, sagt Schredl. Mit dem Bild in Kinofilmen: „Männer boxen, hauen oder erschießen sich.“ Zudem verweist er auf die Kriminalstatistiken. Die meisten Straftaten weltweit werden von Männern verübt. In Angstträumen von Kindern und Jugendlichen sind die als bedrohlich empfundenen Personen zu 80 Prozent männlich. Aggressive Männerträume sind universell, wie Studien amerikanischer Forscher zeigen. Ein männlicher Proband erzählte Schredl seinen Traum: „Es war eine dunkle unbekannte Umgebung, über die ich hinwegflog. Man hörte den Sturm in den Wipfeln dunkler Bäume toben. Ich landete und zog eine Waffe wegen der Feinde, die sich mir in dunkler Nacht näherten. Angst hatte ich keine. Als ich sie zurückgetrieben hatte, blickte ich mich um und entdeckte ein dunkles Gebäude. Aus der Tür rief mir ein Unbekannter zu, dass ich eine Aufgabe erfüllen müsse.“

Auf der nächsten Seite: Die Architektur des Schlafes ist bei beiden Geschlechtern gleich

Dabei ist die Architektur des Schlafes bei beiden Geschlechtern völlig gleich: Einschlafen, Tiefschlaf und REM-Schlaf (Rapid-Eye- Movement), die Zeit der bizarren Träume, wenn sich der Kopf vom Körper lossagt und unsere Motorik gelähmt ist. Damit wir nicht erwachen, sondern in aller Ruhe Erlebnisse, erworbenes Wissen durchspielen und optimieren können. Während dieser Phase schwellen auch die Geschlechtsorgane an – bei Mann und Frau.

Zu 70 Prozent sei die Biologie schuld an der geschlechtlichen Teilung der Traumwelt, meint Serge Brand, Psychotherapeut und Professor an der Universität Basel. „Es ist genetisch festgelegt, dass wir letztlich zwei Dinge erledigen wollen. Der erste Auftrag lautet Überleben und der zweite Fortpflanzen.“ Die beiden Geschlechter hätten unterschiedliche Strategien entwickelt, um zum Ziel zu kommen, und im Traum wiederholten und trainierten sie diese.

Bei Kindern ließen sich noch keine spezifischen Geschlechtsunterschiede in den Träumen feststellen. Erst mit der Pubertät, der Geschlechtsreife treten diese hervor. Mit einer Studie aus dem Sommer 2011 konnte Brand einen klaren Geschlechtsunterschied bei Träumen von 5600 befragten Jugendlichen feststellen. Mädchen widmen ihren Träumen übrigens mehr Aufmerksamkeit als Jungen. Sie tauschen sich häufiger darüber aus, reden mit den Eltern, Geschwistern oder Freunden darüber. Grundsätzlich erinnern sich Frauen detailreicher und öfter an ihre Träume als Männer, weiß Brand. Sie befassen sich mehr mit ihrem Innenleben, hören stärker auf ihre Gefühlswelt. Aber Frauen werden auch öfter als Männer von Albträumen geplagt. Einen Grund dafür sieht Brand darin, dass Frauen stärker an Insomnie leiden, also häufiger erwachen; damit steigt die Chance, sich zu erinnern.

Ob Männer und Frauen irgendwann gleich träumen werden? „Hinter uns liegen 21 Millionen Jahre Evolution. Wenn man sich die in 24 Stunden vorstellt, erscheint die Zeit der Frauenbewegung wie ein Sekundensprung“, sagt Brand. Und wenn man Flugzeug-Pilotinnen oder Formel-Eins-Fahrerinnen zu ihren Träumen befragen würde? Dann träumten sie sicher auch mehr von Geschwindigkeit, Gleiten, Motoren oder Durchsetzen und Verkehr, glaubt Brand. Die großen Unterschiede zwischen Männern und Frauen und ihre kleinen Folgen.

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