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© dpa/picture alliance

Wissen: Weltweites Netz um 1700

Einblicke in die Korrespondenz Gottfried Wilhelm Leibniz’, die jetzt zum Welterbe der Unesco gehört.

An einem Sonntagnachmittag, den 29. Mai im Jahr 1701, schreibt ein Herr von Walendorp an einen ungenannten Monsieur, er sei derzeit in Krems an der Donau und auf dem Weg nach Wien. Er bittet Monsieur um Diskretion über die erwähnte Reise, hofft auf ein baldiges Treffen – und verspricht vor allem Neuigkeiten in Bezug auf einen gewissen Herrn von Hülsenberg.

Dieser kurze, in Französisch abgefasste Brief gehört zum Nachlass des Universalgelehrten Gottfried Wilhelm Leibniz, der rund 80 000 Handschriften mit einem Umfang von etwa 200 000 Blatt umfasst, darunter mehr als 15 000 Briefe, und in der Handschriftenabteilung der Niedersächsischen Landesbibliothek zu Hannover aufbewahrt wird. Der Brief des Herrn Walendorp trägt die Handschrift von Leibniz – das ist auf den ersten Blick nicht ungewöhnlich, denn der Gelehrte hortete alle Nachrichten, die er von rund 1100 über die ganze Welt verteilten Korrespondenzpartnern bekam oder an sie verschickte, und zum Zweck des Informationserhalts schrieb er auch gelegentlich Briefe ab.

Schon als junger Mann hob Leibniz nicht nur empfangene Briefe, sondern auch die eigenen Briefentwürfe, Schriften, Manuskripte und Konzepte auf und machte sich zahlreiche Notizen. Sein ungewöhnlicher Schreibeifer führte dazu, dass sich in den Schubladen seines Arbeitszimmers in Hannover, wo er seit 1676 im Dienst des Herzogs von Braunschweig-Lüneburg als Hofbibliothekar und Geheimer Justizrat vorwiegend arbeite, eine überwältigende Menge schriftlicher Zeugnisse ansammelte. Da der hannoversche Hof darunter auch vertrauliche Dokumente vermutete, ließ er nach Leibniz’ Tod die gesamte Hinterlassenschaft versiegeln und inventarisieren.

Leibniz wollte einen Kosmos allgemeinen menschlichen Wissens zur Problemlösung schaffen, eine Scientia generalis, die der ganzen Menschheit nutzen sollte. Dies macht Leibniz’ Korrespondenz zu einem außergewöhnlichen Dokument von weltweitem Interesse. Kürzlich wurde die in der nach dem Philosophen benannten Landesbibliothek archivierte Sammlung in das Unesco-Register des Weltdokumentenerbes aufgenommen.

Leibniz das Universalgenie

Der stets schreibende Gelehrte war einer der berühmtesten Denker, Erfinder und Entdecker seiner Zeit, dessen Gedankengänge bis heute die moderne Welt prägen und beschäftigen. Als Mathematiker entwickelte Leibniz die Infinitesimalrechnung und ein binäres Zahlensystem, als Philosoph diskutierte er unter anderem die Frage nach dem Bösen in der Welt, als Historiker arbeitete er möglichst quellenkritisch. Er bemühte sich um eine Reunion der gespaltenen Kirche, plädierte für Toleranz und sein Streben nach einer Verbesserung der allgemeinen Lebensverhältnisse war nicht zuletzt der Grund für sein Interesse an technischen Neuerungen. In den Augen der Welt zeichnen ihn heute außerdem seine bemerkenswerten Aktivitäten als kultureller Vermittler und Organisator von Wissen aus. 1701 wurde Leibniz Gründungspräsident der Berlin-Brandenburgischen Akademie.

Der Wissenschaftler schrieb an so gut wie alle berühmten zeitgenössischen Gelehrten zwischen Europa und China, um mit ihnen wissenschaftliche Diskurse zu führen, um gemeinsames Vorgehen abzustimmen und um an Informationen aller Art heranzukommen. Nach dem 30-jährigen Krieg war es um die kulturelle und zivilisatorische Entwicklung seiner Heimat, dem Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation, nicht gut bestellt. Fortschrittlich war man dagegen in England, Holland oder Frankreich, und so bat Leibniz seine Ansprechpartner dort, für ihn Informationen zu sammeln.

Leibniz schrieb auch, um Wissen im Dienst der Menschheit gezielt weiterzuleiten. Er verstand sich als Bürger einer „republique des esprits“, einer Gelehrtenrepublik, und korrespondierte mit Fürstenhöfen und Akademien, weil er hier die Finanzmittel und strukturellen Möglichkeiten sah, moderne Einsichten und Errungenschaften zu verbreiten oder technisch zu verwirklichen. Auf dem Höhepunkt seiner schreibenden Vermittlertätigkeit um 1700 hatte Leibniz jährlich 200 verschiedene Briefpartner weltweit und verfasste bis zu sechs Briefe am Tag, die dank seiner Stellung am Fürstenhof in Hannover oft mit der für ihn kostenlosen und schnellen Hofpost transportiert werden konnten – ein reger Informationsaustausch, der heutzutage per Telefon und via Email erledigt wird.

Leibniz' Briefe zu enziffern ist echte Detektivarbeit

Klein und krakelig, voller Durchstreichungen, Anmerkungen, Einfügungen und Verbesserungen, das ganze Blatt ausnutzend in alle Richtungen schreibend, hat Leibniz seine Briefe entworfen. Noch viel mehr Arbeit als die Entzifferung aber mache die Einordnung seiner undatierten Briefkonzepte und aller Angaben und Bezüge, sagt Nora Gädeke, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Leibniz-Archiv in Hannover. Erst mithilfe der Korrespondentenbriefe lasse sich schließlich eindrucksvoll rekonstruieren, wie das Informationsnetz funktioniert hat.

Walendorp und Hülsenberg gehören dabei auf den zweiten Blick nicht zum realen Korrespondentennetz des Universalgelehrten. Beide sind in Wahrheit Leibniz selbst. Während ihn sein Adlatus aufgrund eines Briefes vom 17. Mai in Hamburg vermutete, schrieb Leibniz von Krems aus unter einem Pseudonym einem Kontaktmann in eigener Sache. Die Angelegenheit Hülsenberg umschrieb Leibniz’ Begehr nach einer Stellung am Kaiserlichen Hof in Wien, und weil seine – letztlich fehlgeschlagenen – Absichten wohl kaum seinem Arbeitgeber in Hannover gefallen hätten, reiste Leibniz heimlich dorthin und legte falsche Fährten. 

Bettina Mittelstraß

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