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Verschiebung der Grenzen des Sagbaren. Rechtspopulistische Hetzbegriffe sickern zunehmend in den Mainstream.

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Wenn Worte wie Gift wirken: So werden die Grenzen des Sagbaren verschoben

Der Sprachwissenschaftler Thomas Niehr spricht im Interview über Grenzen des Sagbaren, rechtspopulistische Kampfbegriffe und die Wirkmacht der Sprache.

Thomas Niehr ist Universitätsprofessor für germanistische Sprachwissenschaft an der Universität Aachen. Seine Forschungsschwerpunkte sind politische Sprache, Sprachkritik und öffentlicher Sprachgebrauch.

Herr Niehr, die Konzepte und Vorstellungen des Gegners mittels Verschlagwortung sprachlich zu diskreditieren, ist eine Standardtechnik der politischen Kommunikation und gehört zum guten Ton demokratischer Debatten. Wo verläuft die Grenze zwischen legitimen und unlauteren Begriffen?
Eine feste Grenze ist in aller Regel schwer ausmachen, da sich der gesellschaftliche Konsens darüber, was sagbar ist und was nicht, ständig verändert. Außerdem ist die Bedeutung von Sprache kontextabhängig. Sich Einzelbegriffe anzuschauen, ohne deren Kontext zu betrachten, führt in der Regel in die Irre.

So muss man zum Beispiel zwischen dem aktiven Gebrauch und der bloßen Erwähnung bestimmter Wörter unterscheiden. In Deutschland ist natürlich die Verwendung dezidierter NS-Begriffe aus historischen Gründen tabuisiert. Doch selbst hier erleben wir Versuche, das aufzuweichen.

Als Frauke Petry vor einigen Jahren scheinbar naiv fragte, warum man den Ausdruck „völkisch“ nicht ganz normal verwenden dürfe, war das einer von vielen rechtspopulistischen Versuchen, belastete Begriffe zu rehabilitieren.

[Mehr zum Thema: Lesen Sie hier unseren Bericht über Alltagsrassismus an deutschen Hochschulen]

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Mit welcher Intention?
Es geht um bewusste Tabubrüche. Und darum, eben genau die Begriffe selbstbewusst zu verwenden, die vom politischen Gegner abgelehnt werden. Wenn AfD-Mitglieder NS-Vokabular benutzen, geht es indes auch immer darum, eine bestimmte Klientel anzusprechen. Die weiß dann natürlich auch, dass sie gemeint ist.

Der stellvertretende Vorsitzende der CDU/CSU-Bundestagsfraktion Thorsten Frei hat die Verwendung des generischen Femininums in einem Referentenentwurf von Justizministerin Christine Lambrecht als „Genderwahnsinn“ bezeichnet und adaptiert damit einen Kampfbegriff der Neuen Rechten. Ist das ein gutes Beispiel dafür, wie problematische Termini in den allgemeinen Sprachgebrauch sickern?
Ja, und ein interessantes Beispiel noch dazu. Der Ausdruck ist geschickt gewählt. Denn es gibt ja einen großen Unwillen weiter Teile der Bevölkerung was die Verwendung gendergerechter Sprache betrifft.

Ein Begriff wie „Genderwahnsinn“ eignet sich hervorragend dazu, die Bemühungen um sprachliche Reformen zu diskreditieren. Mit einem solchen Wort kann man auch Leute mitnehmen, die für rechtspopulistische Phrasen ansonsten vielleicht gar nicht anfällig wären.

Muss sich ein demokratischer Abgeordneter über den semantischen Gehalt eines Wortes wie „Genderwahnsinn“ im Klaren sein? Sind derartige sprachliche Entgleisungen also in der Regel kalkuliert?
Ja, darüber muss er sich im Klaren sein. Bundestagsabgeordnete sind politische Profis. In der überwiegenden Zahl der Fälle überlegen sich solche Leute ganz genau, was sie wie formulieren und welche Wirkung sie erzielen, wenn sie bestimmte Ausdrücke gebrauchen.

Thomas Niehr ist Universitätsprofessor für germanistische Sprachwissenschaft an der Universität Aachen. Seine Forschungsschwerpunkte sind politische Sprache, Sprachkritik und öffentlicher Sprachgebrauch.
Thomas Niehr ist Universitätsprofessor für germanistische Sprachwissenschaft an der Universität Aachen. Seine Forschungsschwerpunkte sind politische Sprache, Sprachkritik und öffentlicher Sprachgebrauch.

© promo

Kann man denn bereits an der Verwendung bestimmter Begriffe erkennen, ob eine Äußerung insgesamt rechtspopulistisch ist? 
Ich bin wie gesagt ein großer Fan davon, Kontexte unter die Lupe zu nehmen und nicht bei Einzelwörtern stehen zu bleiben. Zum Beispiel wurde der Begriff „Asylant“ in den 80er- und 90er-Jahren sowohl flüchtlingsfeindlich als auch neutral verwendet. Die Formel „Wenn Ausdruck x gebraucht wird, ist die Gesinnung des Sprechers y“ greift häufig zu kurz. 

Eine Ausnahme bildet die NS-Sprache. Wenn jemand von „Blut und Boden“ oder „Volk ohne Raum redet“ und diese Wörter nicht zitierend – also sozusagen in Anführungszeichen – verwendet, gibt es keinerlei Spielraum für eine Ehrenrettung.

Inwiefern gilt der vom jüdischen Philologen Victor Klemperer in seinem Werk „Lingua Tertii Imperii“, kurz LTI, aufgestellte Befund, wonach die schleichende Zufuhr toxischer Wendungen die Vorstellungswelt der Menschen langfristig vergiftet, noch heute?
Klemperer spricht ja davon, dass „Worte wie winzige Arsendosen“ sein können, die, unbemerkt verschluckt, ihre Giftwirkung erst nach einiger Zeit entfalten. Die Metapher würden wir wahrscheinlich heute nicht mehr verwenden – wieder ein Beleg für den Wandel der Sprache – aber die Grundidee, dass wir unsere Welt über Sprache konstituieren und dass etwa der Begriff des „Untermenschen“ auch die Vorstellung eines solchen evoziert, gilt natürlich immer noch genauso.

Wie genau funktioniert die viel zitierte Verschiebung der Grenzen des Sagbaren? Und wo hat eine solche in den letzten Jahren stattgefunden?
Das funktioniert, indem eigentlich inkriminierte Ausdrücke versuchsweise in den Diskurs eingebracht werden. Nehmen sie den rechten Begriff des „Kopftuchmädchens“ oder die von Alice Weidel beschworenen „alimentierten Messermänner“. 

Solche Ausdrücke werden testweise geäußert, mit der Absicht, sie in die gesellschaftliche Mitte zu transportieren. Wenn man sie oft genug wiederholt, bleiben sie womöglich haften.

Wie bilden Gesellschaften überhaupt einen Konsens des Sagbaren aus?
Das wird in der Regel diskursiv ausgebildet, also nicht durch Vereinbarungen oder kodifizierte Regelwerke. Natürlich gibt es auch festgeschriebene Regeln, zum Beispiel darüber, dass bestimmte Symbole nicht verwendet werden dürfen. 

Ansonsten bestimmt sich das Sagbare in längerfristigen Aushandlungsprozessen. Dabei kann man oft nur indirekt an den gesellschaftlichen Reaktionen sehen, wann eine Grenze überschritten wurde. Die Grenzen sind – außer bei strafrechtlich relevanten Aussagen – meist nicht klar definiert. Die Rezipienten aber haben ein Gefühl dafür, wann eine Grenze überschritten ist.

Bundesjustizministerin Christine Lambrecht wurde nach Verwendung des generischen Femininums in einem Referentenentwurf "Genderwahnsinn" vorgeworfen.
Bundesjustizministerin Christine Lambrecht wurde nach Verwendung des generischen Femininums in einem Referentenentwurf "Genderwahnsinn" vorgeworfen.

© Hannibal Hanschke/Reuters Pool/dpa

Mit Blick auf historisch eindeutig belastete Begriffe, etwa die Nazivokabeln „Lügenpresse“ oder „Umvolkung“, scheint die Sache klar zu sein. Wie aber umgehen mit Wörtern, die von der Neuen Rechten gekapert und plötzlich in einem pejorativen Sinn verwendet werden? Ist es sinnvoll den „Flüchtling“ durch den „Geflüchteten“ zu ersetzen? Und was tut man, wenn ein Jörg Meuthen dann ebenfalls von „Geflüchteten“ spricht?
Hier kann es meines Erachtens keine klaren, eindeutigen Regeln geben. Vielmehr muss jeder für sich entscheiden, welche Ausdrücke er oder sie in welchen Situationen verwendet und welche Bedeutungen und Konnotationen damit transportiert werden. Dazu gehört eine hohe sprachliche Kompetenz, die ich für ein zentrales Bildungsziel halte.

Die vom Kognitionswissenschaftler und Linguisten Steven Pinker formulierte Hypothese der „Euphemismus-Tretmühle“ geht davon aus, dass jedes Ersatzwort irgendwann die negative Konnotation seines Vorgängers annimmt. Gibt es eine Möglichkeit diesen Mechanismus zu stoppen? Oder passt sich Sprache notwendig den Verhältnissen an, so dass ihr Wandel zuletzt nichts bewirken kann, wenn sich nicht zugleich auch die Umstände ändern?
Das ist ein interessantes Problem. Sicherlich hilft es nicht unmittelbar, ein Wort durch ein anderes zu ersetzen, wenn sich nicht gleichzeitig das Denken ändert. Insofern gibt es zahlreiche Beispiele für diese sogenannte Euphemismus-Tretmühle, und es lässt sich nicht prognostizieren, wie die sprachliche Entwicklung im Detail verlaufen wird.

Gibt es in den aktuellen politischen Diskursen auch Beispiele für die „Dysphemismus-Tretmühle“, also für den umgekehrten Vorgang, dass ein negativ konnotierter Begriff eine Bedeutungsverbesserung erfährt, wodurch dann womöglich neue abwertende Begriffe erscheinen?
Das Wort „schwul“ ist so ein Beispiel. Das wurde ursprünglich abwertend verwendet und ist dann zur positiven Selbstbezeichnung avanciert – eine eigentlich pejorative Vokabel wurde hier zu Zwecken der Selbstermächtigung angeeignet. Mit dem neurechten Kampfbegriff „links-grün-versifft“ passiert meiner Wahrnehmung nach etwas ähnliches.

In homophoben Milieus hat der Begriff „schwul“ indes immer noch einen diskriminierenden Charakter. Hier kann man sehen, wie sehr die Sprache in Bewegung ist. Sprachwissenschaftler nennen das semantische Kämpfe.

Hass in der Sprache, Hass in den Gedanken. Unser Blick auf die Welt ist immer sprachlich vermittelt. Die Art, wie wir sprechen formt unsere Vorstellungen.
Hass in der Sprache, Hass in den Gedanken. Unser Blick auf die Welt ist immer sprachlich vermittelt. Die Art, wie wir sprechen formt unsere Vorstellungen.

© Lukas Schulze / DPA

Die Beziehung von Signifikant und Signifikat, also von Tonzeichen und bezeichnetem Gegenstand ist, wie der Sprachwissenschaftler Ferdinand de Saussure gezeigt hat, keineswegs stabil oder notwendig. Das Wort „Idiot“ zum Beispiel war im frühen 20. Jahrhundert noch mit geistiger Behinderung assoziiert. Heute ist es eine unspezifische Beleidigung. Ist es unproblematisch, Begriffe zu verwenden, die sich ihres historischen Erbes im Sprachalltag entleert haben?
Ich glaube, das hängt sehr davon ab, wie bewusst jemand Sprache verwendet. Die Sprecherabsicht lässt sich nicht ohne weiteres ermitteln. Bedeutungen können gezielt oder unbewusst transportiert werden. Bei Jugendsprache – etwa bei Worten wie „behindert“ – kommt hinzu, dass diese häufig gerade dazu dient, sich über Tabubrüche und Provokationen von der Erwachsenensprache abzugrenzen.

Auch hier verändern Wörter ihre Bedeutung und wandern in den sprachlichen Mainstream ein. „Geil“ war früher ein absichtsvoll provozierendes Jugendwort. Inzwischen wurde es vom Mainstream übernommen und hat eine andere Bedeutung entwickelt. Was das historische Erbe bestimmter Begriffe angeht, bin ich immer dafür, die Sprecherinnen und Sprecher über Bildung zu sensibilisieren.

Gleichzeitig aber sollten wir keine Sprachpolizei installieren. Wir können die Entwicklung der Sprache etwa über Sensibilisierung bis zu einem gewissen Grad beeinflussen. Steuern können und sollten wir sie nicht. 

Wie genau formt die Sprache unsere Wirklichkeit? Wir hängen Umstände und Sprache zusammen?
Spannend wird es immer dann, wenn wir etwas Kompliziertes auszudrücken haben. Darüber, was die Wörter „Tisch“ oder „Stuhl“ bedeuten, gibt es wohl selten einen Streit.

Wenn wir aber abstrakte Begriffe wie „Demokratie“ oder „Frieden“ verwenden, fängt es an, heikel zu werden. Da stellt sich dann die Frage, was wir darunter verstehen wollen. Ist die Abwesenheit von Krieg schon Frieden? Oder gibt es strukturelle Gewalt, aufgrund derer man eigentlich nicht von Frieden sprechen kann?

Gendersternchen. Geschlechtergerechte Sprache ist in weiten Teilen der Gesellschaft noch immer umstritten.
Gendersternchen. Geschlechtergerechte Sprache ist in weiten Teilen der Gesellschaft noch immer umstritten.

© Sebastian Gollnow/dpa

Bei Begriffen wie „Frieden“, „Demokratie“ oder „Gerechtigkeit“ merken wir schnell, dass uns Wörterbuchdefinitionen nicht weiterhelfen. Mit der Definition „Demokratie ist die Herrschaft des Volkes“ ist noch nicht viel gewonnen, weil man in einem nächsten Schritt fragen müsste, wer denn eigentlich zum sogenannten Volk gehört, was dessen Herrschaft ausmacht usw. Hieran sieht man, dass Bedeutungen diskursiv ausgehandelt werden müssen.

Auf eine bestimmte Weise konnotierte Begriffe formen unsere Welt dahingehend, dass wir als Menschen in einem sprachlichen System aufwachsen, einer Struktur aus Bedeutungen. Noch einmal das Beispiel NS: Wenn Jüdinnen und Juden mit Parasiten oder Ungeziefer assoziiert werden, kann diese symbolische Verbindung bedingen, dass es einigen Menschen folgerichtig scheint, sie nicht wie Menschen zu behandeln, sondern „auszumerzen“. Unser Blick auf die Welt ist immer sprachlich vermittelt. 

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