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WERT sachen: Christstern

Seit vielen Jahren ist es in meiner Familie Brauch, am Heiligen Abend einen Christstern zu kaufen und meiner Mutter zu schenken. Und so betrat ich auch dieses Jahr kurz vor Toresschluss ein Blumengeschäft und fragte nach einem Christstern.

Seit vielen Jahren ist es in meiner Familie Brauch, am Heiligen Abend einen Christstern zu kaufen und meiner Mutter zu schenken. Und so betrat ich auch dieses Jahr kurz vor Toresschluss ein Blumengeschäft und fragte nach einem Christstern. Zu meiner nicht geringen Verblüffung wussten die Verkäuferinnen mit dem Begriff nichts anzufangen. Erst als ich um einen Weihnachtsstern bat, wurde mir jene rotblättrige Pflanze aus der Familie der Wolfsgewächse gereicht, die die Biologen „Euphorbia pulcherrima“ (zu Deutsch etwa: allerschönste Stachelpflanze) nennen. Zu Hause angekommen überlegte ich mir, ob es sich um ein weiteres Zeichen allgemeiner Entchristlichung handle, des Prozesses, den kundige Religionswissenschaftler „Dechristianisierung“ nennen und der angeblich in Berlin besonders weit fortgeschritten sein soll: Unvergesslich jener staatlich gelenkte Versuch, aus den weihnachtlichen Engeln „Jahresendflügelfiguren“ zu machen, um dem staatlich verordneten Atheismus wenigstens ein paar semantische Erfolge zu sichern.

Ein unvergesslicher, aber eben ein gescheiterter Versuch. Und natürlich sagt einem schon ein schlichtes Gespräch, dass der Christstern von jeher bei den meisten Zeitgenossen Weihnachtsstern heißt. Ruft man beim Internetlexikon Wikipedia das Lemma „Christstern“ auf, wird man nach „Weihnachtsstern“ weitergeleitet. Außerdem lehrt der Blick ins Lexikon, dass die gleichnamige Pflanze ursprünglich mit Weihnachten herzlich wenig zu tun hat, dafür aber umso mehr mit Berlin. Alexander von Humboldt brachte sie von seinen Reisen aus Südamerika hierher mit; die Azteken nannten sie, wie Humboldt überliefert, „Cuitlaxochil“ und der wunderschöne lateinische Name geht auf den ersten Biologen der Humboldt-Universität, auf Carl-Ludwig Willdenow, zurück. Übrigens glaube ich inzwischen auch nicht mehr, dass die Christsterne gegenwärtig einer Dechristianisierung zum Opfer fallen: In einer ganz beliebigen Zehlendorfer Straße stehen seit vielen Jahrzehnten fünf schmucke, stilistisch ein wenig am Potsdamer Holländischen Viertel orientierte Reihenhäuser. In diesem Jahr hängen zum ersten Mal aus vier Dachluken auf der Spitze der Giebel Herrnhuter Christsterne und vor dem fünften Haus leuchtet der Stern am Eingangstor. Und wer weiß, wie viele Christsternlein an der Bertelsmann-Repräsentanz Unter den Linden 1 stehen?

Der Herrnhuter Christstern hat nun definitiv etwas mit Weihnachten zu tun: 1821 hing er erstmals zum Heiligdreikönigstag in der Oberlausitzer Brüdersiedlung. Da nicht nur in der erwähnten Zehlendorfer Straße, sondern in der ganzen Stadt immer mehr solche Sterne leuchten, wird man mit der Schätzung wahrscheinlich nicht völlig fehlgehen, dass noch nie so viele Christsterne verkauft wurden wie in diesem Jahr.

Der Autor ist Kirchenhistoriker und schreibt an dieser Stelle jeden dritten Montag über Werte, Wörter und was uns wichtig sein sollte.

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