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WERT sachen: Hören

Von Christoph Markschies, Präsident der Humboldt-Universität

Früher ging es in der Universität praktisch um nichts anderes: Man hörte als Student aufmerksam eine Vorlesung und ein Professor fragte zu Beginn des Semesters ebenso neugierig wie besorgt den anderen: „Na, Herr Kollege, wie viele Hörer haben Sie denn?“ Als es an den europäischen Universitäten noch regelmäßige Disputationen gab, war das sorgfältige Hören auf die Kombattanten ebenfalls von hoher Bedeutung, wollte man die Schwachstelle in der Argumentation der anderen entdecken und die Palme des Sieges davontragen.

Irgendwie scheint allerdings im letzten Jahrhundert diese institutionalisierte Kultur des Hörens an den Universitäten, vorsichtig formuliert, etwas in Abgang gekommen zu sein. An unseren Hochschulen, die sich inzwischen wieder so gern als Hort der Freiheit präsentieren, war es zeitweilig üblich, andere niederzubrüllen anstatt ihnen zuzuhören. Man wird den wenigen jüdischen Remigranten, die nach 1949 wieder an deutschen Universitäten lehrten, kaum verübeln, dass sie sich da an die Zeit vor Beginn ihres Exils erinnert fühlten.

Niedergebrüllt wird heute glücklicherweise kaum mehr, aber ein regelrechtes Hörparadies sind die Universitäten trotzdem noch nicht geworden. Ich denke jetzt nicht an die MP3-Besitzer, die in ihrer ganz eigenen Hörwelt leben und nur gelegentlich ihre Zeitgenossen am Bassrhythmus teilhaben lassen (die gibt es natürlich nicht nur in der U-Bahn), sondern an den universitären Alltag.

Ein Beispiel: Biologen, Mediziner, Philosophen und Theologen streiten, wenn sie zusammenkommen, gern über die Handlungsfreiheit des Menschen, darüber, ob determiniert ist, was ich tue und zu tun gedenke. Meinen sie eigentlich dasselbe, wenn sie von „Handlung“ sprechen? Da müsste man aufeinander hören und erst einmal lernen, was state of the art einer fremden Disziplin ist. Das wird gern versäumt und ohne viel Federlesens eine Podiumsdiskussion über den freien Willen anberaumt. Die ist dann mehr oder weniger lustig, in jedem Falle aber wenig ergiebig.

Bei Rochefoucauld kann man die pessimistische Sentenz lesen, dass es in Konversationen kaum jemanden gäbe, der nicht lieber an das dächte, was er sagen will, als genau auf das zu hören, was man zu ihm sagt. Mithin fehlte es schon im siebzehnten Jahrhundert am Hören. Das hat sich seither kaum geändert, ist aber in der gegenwärtigen, globalisierten Gesellschaft, die existentiell auf die Erfahrung und das Wissen vieler Menschen angewiesen ist, besonders misslich. Es sollte also mehr aufs Hören geachtet werden, nicht nur an Universitäten.

Der Autor ist Kirchenhistoriker und schreibt an dieser Stelle jeden zweiten Montag über Werte, Wörter und was uns wichtig sein sollte.

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