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Wertsachen: Beschleunigung

Was ist von der berühmten "Einsamkeit und Freiheit" der Wissenschaft in der Humboldtschen Universitätsreform noch übrig geblieben?

Vor Wochenfrist saß ich in Jerusalem in einem Taxi und stand – was für diese Stadt nun wirklich nicht untypisch ist – in einem schweren Verkehrsstau, der dadurch entstanden war, dass von allen vier Seiten einer Kreuzung Autos aufeinander zugefahren waren und keiner dem anderen Vorfahrt geben wollte. Um den Taxifahrer zu beruhigen, der über die Situation etwas erregt war, begann ich mit ihm ein Gespräch darüber, dass die nahöstliche Stadt in den vergangenen Jahrzehnten (ich kenne sie seit 1983) doch sehr viel hektischer geworden sei. Und ich trug Hypothesen darüber vor, warum das so sei, nannte beispielsweise den stark angestiegenen Individualverkehr. Da drehte sich der Fahrer zu mir um, setzte ein sehr ernstes Gesicht auf und sagte (in ziemlich gebrochenem Englisch): „Nein, der wahre Grund ist ein ganz anderer: Die Erde dreht sich immer schneller.“

Auf den ersten Blick hört sich diese Erklärung ziemlich absurd an. Und eigentlich ist sie es auch. Bei Wikipedia kann man nachlesen, dass Beobachtungen aus den letzten 2700 Jahren zeigen, wie die durch die Erdrotation bedingte Tageslänge während dieses Zeitraums im Mittel um etwa 17 Mikrosekunden pro Jahr zugenommen hat. Es geht also in Wahrheit geringfügig langsamer zu als früher. Freilich kenne ich ziemlich viele, übrigens auch ziemlich viele kluge Wissenschaftler, die Ähnliches wie der Taxifahrer sagen. Der Bielefelder Reinhart Koselleck hat gar eine ganze Theorie historischer Zeiten entwickelt, in deren Mittelpunkt die Beschleunigung als ein zentrales Charakteristikum der Moderne steht, Beschleunigung im individuellen Erleben (beispielsweise durch die moderne Technik), aber auch in den überindividuellen historischen Entwicklungen.

Ein in Bremen wirkender Physiker und Wissenschaftsmanager hat vor einiger Zeit einmal die „Verdopplungszahlen“ der Naturwissenschaftler zusammengestellt und das Ergebnis seiner Rechnungen ist, dass neun von zehn Naturwissenschaftlern, die je auf der Erde geforscht haben, dies heute tun. Tonnen von Büchern, Artikeln und Internetpapieren werden Tag für Tag von ihnen und ihren geisteswissenschaftlichen Kollegen wie Kolleginnen ausgestoßen und die Frage, was von der berühmten „Einsamkeit und Freiheit“ der Wissenschaft in der Humboldtschen Universitätsreform da noch übrig geblieben ist, liegt ziemlich nahe.

Heute beginnen die Jubiläumsfeierlichkeiten der Humboldt-Universität. Und während der vielen Veranstaltungen eines ganzen Festjahres wird genügend Zeit sein, die problematischen, aber auch die segensreichen Folgen dieser ungeheueren Beschleunigung zu bilanzieren und über bewusste Entschleunigungen nachzudenken.

Der Autor ist Kirchenhistoriker und schreibt an dieser Stelle jeden dritten Montag über Werte, Wörter und was uns wichtig sein sollte.

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