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Wertsachen: Pilgern

Der Papst, Schnäppchenjäger, Baumblütenfest-Besucher: alle pilgern. Früher war Pilgern eher etwas für ganz fromme Leute.

Der Papst am Wochenende nach Jordanien und Israel. Schnäppchenjäger zum größten Media-Markt der Welt nach München. Scharen in der S-Bahn zur Baumblüte nach Werder: Alle pilgern. Pilgern ist angesagt. Eine Bekannte hört, wenn sie Fahrrad fährt, Hape Kerkeling auf ihrem Walkman: „Ich bin dann mal weg. Meine Reise auf dem Jakobsweg.“ Besonders katholisch ist sie nicht.

Früher war Pilgern eher etwas für ganz fromme Leute. Man machte sein Testament, bevor man im Mittelalter ins Heilige Land aufbrach, ohne jede Garantie auf Wiederkehr sein Leben aufs Spiel setzte um des eigenen Seelenheils willen und des Seelenheiles naher Anverwandter. Man sang besondere Lieder, sprach besondere Gebete und nahm ein Zeichen vom heiligen Ort mit; Berlin besitzt besonders schöne Sammlungen mittelalterlicher Pilgerzeichen. Natürlich gab es auch schon im Mittelalter regelrechte Pilgerhysterien. Ein damaliger Text beschreibt sehr schön, wie die Erfurter Kinder von der Schule nach Hause kommen, in der Küche zwar kochende Töpfe, aber keine Eltern mehr finden – die haben alles stehen und liegen lassen und sind zum Wunderblut nach Wilsnack aufgebrochen.

Seit 1552 Joachim Ellefeld, der erste protestantische Prediger Wilsnacks, die Reste der drei blutenden Hostien in einen Ofen warf, ist die Zahl der Wilsnack-Pilger drastisch gesunken. Aber auch die Ersatzorte sind verlassen: Der lutherische Wunderbrunnen von Sittel (bei Leipzig) sprudelt zwar noch auf dem Hof eines verfallenen Gasthofs, zieht aber längst nicht mehr Zehntausende aus Mitteldeutschland zu Wunderheilungen an wie im 17. Jahrhundert. Die Mineralwasserproduktion wurde 1985 wegen mangelnder Wirtschaftlichkeit eingestellt.

Heutige Pilgerhysterien haben oft keinerlei religiöse Hintergründe mehr. Selbst bei den vielen Menschen, die ich vor Ostern auf den Straßen nach Santiago de Compostela sah, fragt man sich, ob „Pilgern“ nicht eher eine Metapher für eine sportliche Herausforderung sei. Mindestens bei denen, die den Pilgerweg mit dem Mountainbike bewältigen und es nicht einmal zu Ostern in die großen Gottesdienste in der Kathedrale schaffen.

Nicht jeder, der irgendwohin pilgert, geht wirklich auf Pilgerfahrt, verlässt gewohnte Pfade und macht sich auf die Suche nach Gott an Orten, von denen geglaubt wird, dass er sich dort finden lässt. Dabei hat man den Eindruck, dass derartige Selbstfindungsprozesse manchem gestressten Zeitgenossen ganz guttun würden. Jedenfalls besser als beliebiges Herumgepilgere.

Der Autor ist Kirchenhistoriker und schreibt an dieser Stelle jeden dritten Montag über Werte, Wörter und was uns wichtig sein sollte.

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