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Neue Lektüre. Die Hermeneutik Hans-Georg Gadamers, die vor 50 Jahren erschien, erlebt in der gegenwärtigen Philosophie ein Comeback. Die Freie Universität widmete Gadamers Werk jetzt eine Tagung. Foto: Image Source/vario images

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Wissen: Wie wir die Welt lesen

Gadamers Hermeneutik: Sein Jahrhundertwerk „Wahrheit und Methode“ wird wiederentdeckt

„Es kommen härtere Tage. / Die auf Widerruf gestundete Zeit / wird sichtbar am Horizont.“ Als Ingeborg Bachmann 1952 mit diesen Zeilen – die ersten aus ihrem berühmten Gedicht „Die gestundete Zeit“ – die literarische Bühne im Nachkriegsdeutschland betritt, trifft sie mit ihrem neuen, lyrischen Ton einen Nerv, der in den folgenden Jahren unter ihrer poetischen Berührung immer wieder erzittert. Die Begeisterung, mit der die Lyrikerin von Kritikern und Schriftstellern empfangen wurde, verdankt sich auch einem spezifischen geschichtlichen Moment: Hohler schöngeistiger und karger Kahlschlag-Poesie nach dem Trauma des Dritten Reichs setzt sie eine Sprache entgegen, die sich an den unmittelbar vergangenen geschichtlichen Ereignissen abarbeitet und gleichzeitig zu Wachsamkeit mahnt, die jenen Augenblick zu versprachlichen sucht, in dem das Zeitpendel nach 1945 umschlägt in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts.

Sucht man ein philosophisches Äquivalent zu Bachmann – eine Schrift, die in sachlichem Gestus der gestundeten Zeit nachspürt –, so fällt einem nicht zufällig jenes Werk in die Hände, das sich im Kern mit der Frage beschäftigt, wie wir der Welt Sinn verleihen und entnehmen: Hans-Georg Gadamers „Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik“ von 1960. Dass ausgerechnet dieses Werk (neben Heideggers „Sein und Zeit“) zu dem philosophischen Klassiker des vergangenen Jahrhunderts avancieren würde, überrascht heute, zum 50. Jahrestag seines Ersterscheinens, kaum. Gadamers Auseinandersetzung mit der Hermeneutik berührt ebenjenen Nerv, den auch Bachmann traf. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zuckt er bis zum heutigen Tage hindurch immer dann, wenn wir uns der Geschichtlichkeit unseres sprachlich verfassten Seins bewusst werden, des historisch und kulturell bedingten Pulsierens des Sinns.

Die Hermeneutik selbst hat eine lange Tradition und bedeutet ihrem altgriechischen Wortsinn nach „aussagen, auslegen, erklären“. Ihr wichtigster Gegenstand ist der Text, und so sind denn auch die ursprünglich klassischen Anwendungsgebiete der Hermeneutik die Theologie und Jurisprudenz, in denen es galt, das Alte und Neue Testament beziehungsweise die Gesetze auf ihre Bedeutung zu befragen und auszulegen.

Als methodische Kategorie der Geisteswissenschaften etabliert sich die Hermeneutik erst im 18. und 19. Jahrhundert, zeitgleich mit der Entfaltung eines historischen Bewusstseins überhaupt. Das verbindende Moment juristischen, theologischen und philologischen Auslegens ist die Suche nach Verständnis. Bis heute durchdringt es unseren Alltag: Ob das Bundesverfassungsgericht über die Rechtmäßigkeit der Hartz-IV-Gesetze befindet, die Pfarrerin auf der Kanzel die Bergpredigt auf ihren aktuellen Sinn befragt oder sich eine literaturwissenschaftliche Analyse an Bachmanns Gedichten versucht, stets handelt es sich um einen Prozess abwechselnden Verstehens und Deutens.

Doch Gadamer geht noch darüber hinaus. „Verstehen und Auslegen von Texten ist nicht nur ein Anliegen der Wissenschaft, sondern gehört offenbar zur menschlichen Welterfahrung insgesamt.“ Das Phänomen des Verstehens durchziehe „alle menschlichen Weltbezüge“, schreibt Gadamer. Im Duktus seinem Lehrer Martin Heidegger folgend, beschreibt Gadamer die Hermeneutik als eine anthropologische Grundkonstante. Wir können nicht anders, als die Welt zu „lesen“, uns ihr sprachlich zu nähern und sie auf ihren Sinngehalt zu reflektieren. Nicht konstant ist indes die Art und Weise, in der wir solcherart lesen, denn wir sind nicht nur hermeneutische, sondern auch historische Wesen – mit einem Bein lesend und deutend im Text stehend, mit dem anderen in der Realität eines uns prägenden, geschichtlichen Augenblicks steckend.

Als Goethe den jungen Kleist und sein Drama „Penthesilea“ kühl mit den Worten abfertigt „Mit der Penthesilea kann ich mich noch nicht befreunden“, ist sein Lesehorizont deutlich vom klassischen Zeitgeist geprägt. Heute läuft „Penthesilea“ auf deutschen Bühnen mit großem Erfolg und wird als geradezu avantgardistisches Stück der Moderne beklatscht. Zeiten ändern sich – und so auch unser Verstehen von Literatur, Kunst und Welt.

Nicht zuletzt „Wahrheit und Methode“ selbst unterliegt unserem hermeneutischen Blick, und so kamen jetzt am Institut für Philosophie der Freien Universität Berlin Wissenschaftler zu einer internationalen Konferenz zusammen, um anlässlich des Jubiläums des philosophischen Bestsellers über „Die Zukunft der Hermeneutik“ zu diskutieren. Unbestritten der Rang von Gadamers Werk, doch wie steht es um seine Aktualität? „Die deutsche Philosophie hat die klassisch-hermeneutische Tradition schon lange verabschiedet und ist seit etwa 30 Jahren immer analytischer geworden“, erläutert Georg W. Bertram, Professor für Ästhetik und theoretische Philosophie an der Freien Universität und Organisator der Tagung. Statt die Dinge auf ihre Bedeutung zu befragen, gehe es um die logische und begriffliche Analyse dieser Dinge. Interessant sei jedoch, dass ausgerechnet Robert Brandom und John McDowell, zwei der bedeutendsten Gegenwartsphilosophen dieser Strömung aus den USA, in ihren jüngeren Werken plötzlich auf den 2002 im Alter von 102 Jahren verstorbenen Gadamer zurückgriffen.

„Gadamer liegt in der Gegenwartsphilosophie in der Luft. Es gibt eine neue Relevanz der Hermeneutik“, sagt Bertram. Einen Grund dafür sieht er darin, dass die heutige Philosophie kulturelle Kontexte wieder stärker akzeptiere. „Es ist ein urhermeneutischer Gedanke, dass der Mensch in seine Kultur hineinwächst.“ Hinter bestimmte kulturelle Selbstverständlichkeiten wie Tischmanieren, Körperhygiene oder Essenspraktiken können wir nicht mehr zurück. Sie prägen unser ganzes Dasein.

„Diese Denkweise kennen wir seit dem 18. Jahrhundert von Herder, Hegel und Humboldt, und sie gewinnt immer dann an Relevanz, wenn der Versuch scheitert, menschliche Wesen als voraussetzungslos zu erklären“, sagt Bertram. Hermeneutik sei heute nicht mehr nur eine Interpretationstheorie, sondern frage viel umfassender, was uns als Menschen ausmache. Auseinandersetzen müsse man sich allerdings auch mit hermeneutischen Klischees, die mit heutiger postanalytischer Philosophie nicht leicht vereinbar seien. Der „Versöhnungscharakter“ sei ein solches Klischee, sagt Bertram, denn Gadamers Hermeneutik ziele darauf ab, Missverstehen als ein Übel zu überwinden. „Wir gehen aber heute nicht mehr vom Ideal des Verstehens aus, sondern fragen gerade danach, wo dieses Verstehen brüchig und an den Rand gedrängt wird.“

An Friedrich Schleiermacher, dem einflussreichen Gewährsmann für theologische Hermeneutik des 18. und 19. Jahrhunderts, kritisiert Gadamer dessen Vorstellung, hermeneutisches Verstehen ginge ganz im Versuch der Wiederherstellung eines ursprünglich intendierten Sinns auf. „Wiederherstellung ursprünglicher Bedingungen ist, wie alle Restauration, angesichts der Geschichtlichkeit unseres Seins ein ohnmächtiges Beginnen“, schreibt er.

Diese Ohnmacht abzustreifen und den Menschen in das Jetzt zu rücken, in dem er liest, ist die wohl stärkste Geste in „Wahrheit und Methode“. Sie versucht sich an einer Verschränkung von vergangenem und aktualisiertem Sinn, sei dieser nun in Gesetzestexten, Bibel, philosophischer Schrift, kulturellem Geschehen oder Dichtung zu finden: „Einen Text verstehen, heißt immer schon, ihn auf uns selbst anwenden“, erklärt Gadamer. Das Zeitpendel, an dem wir hängen und mit dem wir mitschwingen, es erlebt mit Gadamer eine Renaissance.

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