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Eine Frau hantiert in einer Container-Unterkunft an einem Herd.

© Sergei Supinsky/AFP

Wiederaufbau der Ukraine: Zukunftspläne für ein geschundenes Land

Rekonstruktion schon im Krieg, ein Programm nach dem Vorbild des Marshall-Plans - und Hilfen, die in die EU führen. Darüber wurde jetzt in Berlin diskutiert.

„Wie können wir die ökonomischen Aktivitäten in der Ukraine wieder aufnehmen?“ Yuriy Gorodnichenko, ukrainisch-amerikanischer Wirtschaftswissenschaftler an der University of California, Berkeley, hat einen Plan, als er diese rhetorische Frage am Montagabend in der Humboldt-Universität stellt. Er ist Hauptautor von „A Blueprint for the Reconstruction of Ukraine“.

Beschrieben wird darin ein „Ausmaß der Zerstörungen und der Flüchtlingskrise“ durch den russischen Angriff und die Belagerungen, das „vergleichbar mit den Auswirkungen des Zweiten Weltkrieges“ sei. Dieser historischen Katastrophe entsprechend wird das Szenario einer an die Bedürfnisse der Ukraine angepassten Neuauflage des Marshall-Plans für das kriegszerstörte Europa in den Jahren 1948 bis 1952 entworfen.

Den „Entwurf für den Wiederaufbau der Ukraine“ veröffentlichte Gorodnichenko im April gemeinsam mit fünf internationalen Kolleg:innen als Empfehlung des Londoner Center for Economic Policy Research (CEPR) – die erste Ausgabe der neuen „Rapid Response Economics“ des renommierten britischen Forschungsinstituts und weltweiten Netzwerks.

Weg von veralteten "sowjetischen" Strukturen

Schnelle wirtschaftliche Antworten seien zumindest in ersten Schritten auch während des Krieges möglich, erklärte der per Video zugeschaltete Professor dem Panel und dem Publikum in der Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät der HU: „In Phase 0 wird das Produktionspotenzial gesichert, in Phase 1 geht es um humanitäre Hilfe, in Phase 2 um die Rekonstruktion der kritischen Infrastrukturen und in Phase 3 darum, die Wirtschaft wiederaufzubauen – besser als zuvor.“

Ein Porträtfoto.
Yuriy Gorodnichenko, Professor für Wirtschaftswissenschaften an der University of California, Berkeley.

© UCLA/Berkeley

Weg von den veralteten Strukturen der in Teilen noch „sowjetischen“ Großindustrie, hin zu dezentraler Produktion von Landwirtschaft bis IT. Vertrieb und Import/Export auf alternativen Routen statt über die großen und derzeit blockierten Häfen. Zum einen würde dies die Verletzlichkeit – durch den russischen Aggressor – vermindern, zum anderen eröffne es die Chance, etwa grüne Energie zu nutzen.

Gorodnichenko spricht aus der Perspektive des Ökonomen. Er vergisst aber auch nicht die Bildungsinstitutionen mit den Schülerinnen und Schülern, Lehrkräften und Studierenden als Teil der unbedingt schützenswerten „productive capacity“.

"Der andauernde Krieg treibt die Kosten höher und höher"

Auf die Frage nach den Kosten des Wiederaufbaus der Ukraine antwortet Gorodnichenko emotional: „Der andauernde Krieg treibt die Kosten höher und höher. Angesichts der unzähligen Toten, Kriegsverletzten und psychisch Traumatisierten ist es noch schwerer, sie zu beziffern.“

Als Schlussbemerkung des CEPR-Blueprints hieß es Anfang April, nach sechs Wochen des russischen Angriffskrieges, dass 200 bis 500 Milliarden Euro zu veranschlagen seien. Jetzt müsse diese vorläufige Schätzung bereits auf eine Billiarde Euro korrigiert werden, sagte Gorodnichenko.

[Lesen Sie zum Thema auch einen Bericht von Nadiia Kulish: Von den Russen befreit, aber zu 80 Prozent zerstört]

Außer Zweifel stehen die historischen Dimensionen des Wiederaufbaus. Yuriy Gorodnichenko hebt nicht nur den Marshall-Plan, für den die USA zwei Prozent ihres damaligen Bruttoinlandsprodukts gaben (heute wären das 450 Milliarden US-Dollar), als „Erfolgsgeschichte“ hervor. Das gelte trotz strategischer Fehler auch für die deutsche Wiedervereinigung mit Kosten von insgesamt zwei Billionen Euro.

Und auch für die EU-Integration Polens mit europäischen Investitionen von 160 Milliarden Euro in den ersten 15 Jahren der Mitgliedschaft – „eine Art Marshall-Plan für Polen“, wie es im CEPR-Papier heißt.

Vorbild Marshallplan, Negativbeispiel Afghanistan

Als Negativbeispiele nennt Gorodnichenko die internationalen Programme zum Wiederaufbau von Afghanistan und dem Irak, die von „unrealistischen Zeitplänen, mangelnder Übersicht, Korruption, fehlender Sicherheit“ beziehungsweise von „Rivalitäten zwischen den Agenturen, mangelnder Beteiligung lokaler Kräfte und fehlender Aufnahmekraft für die Hilfe“ gekennzeichnet gewesen seien.

Rund ein Dutzend Häuser sind nach einem Luftangriff dem Erdboden gleichgemacht.
Zerstörungen wie im Zweiten Weltkrieg: Ein Luftbild des Dorfes Pryvillya im Donbas vom 14. Juni 2022.

© Aris Messinis/AFP

Für Afghanistan gilt zudem, dass die internationalen Bemühungen dort mit dem Truppenabzug und der Rückkehr des Talibanregimes als ultimativ gescheitert gelten müssen.

Ganz anders stelle sich die Situation in der Ukraine dar, heißt es im CEPR-Report und das betonten auch Yuriy Gorodnichenko und die Diskutanten auf dem Podium in der Humboldt-Uni. Das Land hat sich zu einer gefestigten Demokratie entwickelt, ihr Staatswesen funktioniert auch im Krieg.

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„Dabei wird es auch nach dem Krieg bleiben“ versichert Alexander Rodnyansky, Wirtschaftsprofessor in Cambridge und Berater des ukrainischen Präsidenten. Mehrfach nach der Korruptionsproblematik gefragt, verweist er auf „große Fortschritte“ etwa durch die Schaffung spezieller Strafverfolgungsbehörden und einer Nationalen Agentur für Korruptions-Prävention. „Wir sind bei dem Thema heute auf europäischem Niveau.“

Auch Gorodnichenko wirbt um Vertrauen. Im Unterschied zum Marshall-Plan sei für die Ukraine eine EU-Initiative gefordert: Um das Geld aufzubringen und zu verteilen – zum allergrößten Teil als Spenden und nicht als Kredite, um eine Schuldenkrise zu verhindern –, müsse eine „eigenständige, von der EU autorisierte Wiederaufbau-Agentur“ etabliert werden.

Dabei sei es unerlässlich, dass die Ukraine ihr Rekonstruktionsprogramm „besitze“. Gleichzeitig sollten verbindliche Meilensteine und ein enges Monitoring des Programms mit der EU vereinbart werden, so Gorodnichenko.

So würde der Wiederaufbau auch zu einem Programm für die Annäherung an die EU werden. Monika Schnitzer, Professorin für Komparative Wirtschaftsforschung an der LMU München, Wirtschaftsweise und zur Zeit Gast an der HU, warb hier für ein besseres Erwartungsmanagement gegenüber der Ukraine: Der Beitritt komme „nicht in zwei und auch nicht in fünf Jahren“, aber auf dem Weg dahin, so Schnitzer, „wird es viele Chancen und Programme für die Ukraine geben“.

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