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Wissenschaftstheorie: Die Wahrheit der Biologisten

Menschliches Wissen ist gemacht. Diese Einsicht fehlt vielen Naturwissenschaftlern – und Philosophen.

Biologische Erklärungen von Sozialem haben Konjunktur. Seien es Lebensglück, Geschlechterkampf oder Gewalttaten – die Wissenschaften vom Leben scheinen einen unmittelbaren Zugang zu diesen Phänomenen zu haben, der es ihnen erlaubt, ihre Wahrheit zu enthüllen. Auch die Philosophie, so heißt es, habe diesen privilegierten Zugang anzuerkennen und ihre Ignoranz gegenüber den Naturwissenschaften zu überwinden. Die endlose Debatte um Hirnforschung und Willensfreiheit etwa, in der Philosophen und Philosophinnen sich an der Behauptung abarbeiten, das „Ich“ und der „freie Wille“ seien neurowissenschaftlich erklärbar und somit nicht wirklich existent, ist ein Beispiel dafür, wie Philosophie sich in den letzten Jahren an Problemvorgaben aus den Naturwissenschaften anlehnt.

Ein anderes Beispiel ist das Vordringen von Versatzstücken der Evolutionstheorie zusammen mit ihrer Schwester, der Soziobiologie, im philosophischen Diskurs. So ist etwa die Rede von den „natürlichen Anlagen des Moralwesens Mensch“, die zur Konkurrenz um „knappe Ressourcen wie Nahrung, Territorium und vermutlich Frauen“ führen (so der Philosoph Christian Illies). Auch gar davon, dass die Soziobiologie „unsere Kenntnis des Menschen“ vertiefe, „wenn sie uns lehrt, dass wir genetisch dazu disponiert sind Verwandte und Angehörige der eigenen Rasse zu bevorzugen und besonders Mütter dazu ihre Kinder zu lieben“ (so der Philosoph Bernd Goebel). Selbst bei einem renommierten Denkern wie Ernst Tugendhat, dessen zentrale philosophische Leistung in einer sprachanalytischen Begründung von Moral ausgehend von der Fähigkeit zu Ja-/Nein-Stellungnahmen liegt, liest man nun, diese Fähigkeit sei ein „Überlebensvorteil“.

Was aber fehlt in diesen Anleihen an biologisches Wissen? Sie bleiben meist vage, verallgemeinern und fragen nicht nach ihren eigenen Voraussetzungen. Grundsätzlich fehlt ihnen eine wissenschafts- und erkenntnistheoretische Rahmung. Denn statt schlicht die Wahrheit über das Sein zu enthüllen, sind auch die Erkenntnisse der Naturwissenschaften – wie alles wissenschaftliche Wissen – Resultate von Erkenntnisprozeduren. Sie sind entstanden im Kontext spezifischer Forschungsfelder, die wiederum durch konkurrierende Forschungsansätze, -projekte und -methoden strukturiert sind. Theorien, und also auch die Evolutionstheorie, sind Entwürfe, die einzelne Erkenntnisse und Annahmen in einen mehr oder weniger kohärenten Zusammenhang bringen. Sie können plausibel sein, sie können empirische Forschung leiten, sie können weitere Theoriebildung anregen und zuweilen auch theoretische Revolutionen auslösen. Sie können jedoch nicht ein „erstes Wissen“ liefern, in dem sich Realität unmittelbar offenbart.

Menschliches Wissen ist konstruiert. Die Einsicht in die Gemachtheit wissenschaftlichen Wissens aber fehlt all jenen Ansätzen, die sich unter dem Namen „Naturalismus“ versammeln. Mit diesem Begriff ist nicht eine Orientierung an Natur schlechthin gemeint, sondern die Verabsolutierung der Naturwissenschaften, ein „Szientismus“. Die Quintessenz der verschiedenen Spielarten des naturalistischen Programms haben Herbert Schnädelbach und Geert Keil – zwei prominente Kritiker des Naturalismus – prägnant auf die Formel gebracht: „Wherever science will lead I will follow“.

Doch statt Gefolgschaft wäre eine Wissenschaftstheorie gefragt, die darauf zielt, die spezifischen Formen wissenschaftlichen Wissens und die Weisen, auf die es hervorgebracht wird, theoretisch zu fassen. Eine solche Wissenschaftstheorie beginnt damit, dass man „wissenschaftliche Objekte“ von den Dingen des Alltagslebens, mit denen wir es gemeinhin zu tun haben, unterscheidet. „Wissenschaftliche Objekte“, so formulierte es der französische Wissenschaftstheoretiker Gaston Bachelard schon in den 30er Jahren des 20. Jahrhunderts, „existieren nicht in der Natur, sie müssen hergestellt werden“. Zu dieser Herstellung tragen die Prozeduren in Laboren, die spezifischen Denk- und Frageweisen innerhalb von scientific communities aber auch politische, ökonomische und kulturelle Bedingungen von Wissenschaften bei. Die gegenwärtige Philosophie, in der Bekenntnisse zum Naturalismus vorherrschend sind, aber ignoriert dies weitgehend.

Gerade in Hinblick auf die Biologie und ihren seit dem 19. Jahrhundert prekären Status zwischen Naturwissenschaften und sozialem Ordnungswissen wäre jedoch eine solche umfassende wissenschaftsphilosophische Perspektive notwendig. Dass schon Darwins Formulierung der Evolutionstheorie von gesellschaftlichen Vorstellungen über Konkurrenz und Durchsetzungsvermögen, über männliche Sexualität und weibliche Sittsamkeit geprägt war, ist weithin bekannt. Darüber hinaus ist die Struktur der Evolutionsbiologie vor-relativistisch. Das heißt, es fehlt die Reflexion auf das Wechselverhältnis von Beobachter und Beobachtetem, durch das die Physik sich am Beginn des 20. Jahrhunderts von einem naiven Objektivismus befreit hat. Über „vergangenes, vor der Entstehung des Menschen als Spezies abgelaufenes Geschehen“, so der Wissenschaftsphilosoph Peter Janich, „handelt die Biologie als wäre man persönlich dabei gewesen“. Dies alles ist freilich längst keine „Widerlegung“ der Evolutionstheorie, wohl aber ein Hinweis auf ihren Entwurfscharakter und ihre kulturelle Verankerung, die sie mit jeglicher Theoriebildung teilt. Von einem privilegierten Zugang der Biologie zum menschlichen und nichtmenschlichen Sein kann daher keine Rede sein.

Gerade die Philosophie sollte hier hellhörig werden. Sie selbst hatte ja lange Zeit beansprucht, mit der Metaphysik ein „erstes Wissen“ zu liefern. Seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert hat sie sich aber aus guten Gründen von diesem Absolutheitsanspruch verabschiedet. Soll jetzt biologisches Wissen oder zumindest eine biologisch fundierte Anthropologie als Metaphysikersatz dienen? Produktiver als die vermeintlich „vakante“ Stelle der Metaphysik zu füllen wäre da allemal eine kritische Auseinandersetzung mit den Erkenntnisansprüchen der Naturwissenschaften. Eine interdisziplinäre Debatte etwa über das Zusammenspiel von Macht- und Wissensansprüchen über Wissensordnungen und gesellschaftliche Ordnungen, könnte neues Licht auf Natur- und Technikwissenschaften, Philosophie, Sozial- und Kulturwissenschaften gleichermaßen werfen. Wo allerdings vom Streben nach „Fortpflanzungserfolg“, von genetisch bedingter Mutterliebe oder Fremdenfeindlichkeit die Rede ist, ist man davon weit entfernt.

Hingegen gibt es in den Sozial- und Kulturwissenschaften durchaus gelungene Versuche, mit der überkommenen Trennung der „zwei Kulturen“, das heißt von Natur- und Geisteswissenschaften als grundsätzlich separate Unternehmungen, zu brechen. Wissenschaftsgeschichte, kulturalistische Wissenschaftstheorie, die langsam auch in Deutschland ankommenden Social Studies of Science and Technology und nicht zuletzt die Geschlechterforschung in Natur- und Technikwissenschaften haben wichtige und interessante Einsichten hervorgebracht. Die Vorstellung, es gebe „reine“ Wissenschaften, die jenseits von Kultur und Gesellschaft wahres Wissen produzieren, ist dabei gründlich erschüttert worden. Philosophie könnte somit von sozial- und kulturwissenschaftlichen Nachbardisziplinen lernen, wie sich disziplinäre Grenzen auf die Natur- und Technikwissenschaften hin öffnen lassen ohne die je spezifischen Kompetenzen zu verwischen.

Denn dass die akademische Disziplin der Philosophie ihr Verhältnis zur Natur und zu den Naturwissenschaften überdenken sollte, steht außer Frage. Das strukturelle Problem, das die Humanwissenschaften in der Moderne insgesamt prägt, besteht darin, dass sie keine eigene Sprache der Natur ausgebildet haben. Sie schwanken vielmehr zwischen der Naturalisierung von Sozialem und der Kritik an Naturalisierungen. Darauf hinzuweisen, dass es nicht „Biologie“ ist, die uns auf bestimmte Gesellschafts- und Geschlechterformen festlegt, ist aber nicht genug. Denn diese Kritik ist weithin ein Spiegel der Naturalisierungen und verbleibt in einer Abwehrhaltung gegen „Natur“. In den Gender Studies ist daher in jüngster Zeit ein gewisses Unbehagen vernehmbar: „Material Feminisms“ klagen ein, sich mit der theoretischen „Flucht vor der Natur“ kritisch auseinanderzusetzen. Darüber hinaus gewinnen angesichts von Klimawandel und Biotechnologien naturpolitische und naturtheoretische Debatten an Wichtigkeit. Kaum zu leugnen, dass neue Formen des Umgangs mit Natur gefunden müssen – und dafür auch neuen Formen des gesellschaftstheoretischen und philosophischen Umgangs mit Naturzusammenhängen.

Die Autorin lehrt Philosophie an der Universität Paderborn und ist FWF Research Fellow am Institut für die Wissenschaften vom Menschen in Wien mit einem Forschungsprojekt zum Thema: „Die symbolische Macht der Biologie: Artikulationen biologischen Wissens in der Naturphilosophie um 1800“.

Susanne Lettow

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