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Wolframs von Eschenbach "Parzival": Fragment vom Bestseller des Mittelalters entdeckt

Wissenschaftler haben eins der ältesten Textzeugnisse des Versromans „Parzival“ gefunden. Es gibt Auskunft über den Literaturbetrieb der Zeit.

Ein lateinisches Buch aus der Naumburger Dombibliothek wird restauriert, der Einband renoviert. Der Buchbinder aus dem Jahr 1411 hat zu seiner Verstärkung schmale Pergamentstreifen eingeklebt. Sie sind Reste einer mittelalterlichen Handschrift – soweit nichts Ungewöhnliches. Doch Halt! Sie sind mit einem deutschen Text beschrieben, das ist sehr selten, in über neunzig von hundert Fällen sind es lateinische. Und noch mehr: Die Schriftform verweist auf eine dafür sehr frühe Zeit: um 1230/40. Noch besser: Es geht nicht um Geistliches – man kann Namen aus der höfischen Literatur lesen, Key und – Parzival. Der Fund ist etwas sehr Besonderes: eines der ältesten Fragmente von Wolframs von Eschenbach Roman von etwa 1210 liegt vor den Forschern.

Farbige Darstellung von Wolfram von Eschenbach als Ritter in der Manessischen Liederhandschrift aus dem 13. Jahrhundert
Bildungsluxus. Für das Pergament, das man für eine „Parzival“-Handschrift brauchte, musste man eine ganze Schafherde schlachten. Wolfram von Eschenbach, hier dargestellt in der Manessischen Liederhandschrift (etwa 1300), verfasste seinen Roman etwa ab dem Jahr 1200.

© Abb: picture-alliance / maxppp

Schnell finden sie heraus, dass es sich um Textstellen aus dem 4. und 5. Buch handelt, eine bedeutsame Passage der Erzählung: Der Held bricht auf, um seine Mutter zu suchen, wird stattdessen auf die Gralburg gelangen. Es gibt zwar über siebzig Fragmente und sechzehn vollständige Handschriften von diesem Erfolgstext, doch aus dem zweiten Viertel des 13. Jahrhunderts kommen nur ganz wenige, drei oder vier, auch die älteste Gesamt-Handschrift wurde dreißig Jahre später geschrieben. Sollte unser Fund ein neues ganz frühes Manuskript bezeugen? Könnte er zu einem der bekannten Fragmente passen?

Vergleiche machen klar, dass er zu der Handschrift gehört, aus der man schon vor der Mitte des 19. Jahrhunderts zwei Blätter in einem Görlitzer Einband gefunden hatte, die, viel größer als das Naumburger Bruchstück, etwa 300 Verse enthalten. Doch auch das macht den Fund wichtig, denn wir sehen klarer, was in der Rezeption vor sich ging. Zerschnitten wurde die ursprüngliche Handschrift zu Beginn des 15. Jahrhunderts, als man die alte Schrift und die alte Sprache nicht mehr gut lesen konnte. Entstanden ist sie im deutschen Süden, in Bayern. Wann kam sie nach Nordosten, in die Lausitz? Das ist nur zu vermuten: Als Görlitz im 14. Jahrhundert ein bedeutendes wirtschaftliches und politisches Zentrum wurde, wollten Adlige wie Patrizier sich als Literaturliebhaber präsentieren und damit sozial aufwerten; einer aus diesem Personenkreis könnte die Handschrift aus eben jenem Grund erworben haben.

Dan Browns "Sakrileg"

Geschichten vom Gral verkaufen sich immer gut – nicht erst seit Dan Browns globalem Erfolg mit „Sakrileg“ („The Da Vinci Code“). Schon achthundert Jahre früher fand Wolfram von Eschenbach mit seinem Gralroman ein vergleichbares Echo, wenn man den Literaturbetrieb seiner Zeit berücksichtigt. Mit nunmehr neunzig Textzeugen ist er der am besten überlieferte deutsche Erzähltext des Mittelalters; er schaffte es 1477 selbst in das neue Medium des Buchdrucks.

Der „Parzival“ erzählt die Geschichte eines jungen Königssohns, der von seiner Mutter unritterlich erzogen wurde, weil sein Vater im Kampf gefallen war und sie ihrem geliebten Kind dieses Schicksal ersparen wollte. Doch die adlige Anlage lässt sich nicht unterdrücken: Er verlässt die Waldeinsamkeit, in der ihn die Mutter gehalten hatte, weil er Ritter werden will. Das gelingt ihm unter höchstem Einsatz – er tötet, ohne das zu wissen, einen Verwandten im Kampf, um dessen Rüstung zu erlangen. Nur langsam überwindet er das Handicap seiner Erziehung, gewinnt jedoch schließlich Frau und Herrschaft. Er fühlt sich seiner Mutter gegenüber schuldig, weil er sie verlassen hat, und will sie suchen. Er gelangt zur Gralburg, wo sein Onkel mütterlicherseits (!) regiert. Er sollte ihn mit einer Frage nach einem geheimnisvollen Gegenstand von seiner schweren Krankheit erlösen, doch er stellt sie nicht, weil er an höfischen Verhaltensregeln klebt. So wird er in Schande verjagt.

Der Roman wirft Fragen über Fragen auf

Er zieht abenteuernd durch die Welt, um wieder auf die Gralburg zurückzukommen und seinen Fehler gut zu machen. Gott beruft ihn schließlich zum Gral, Parzival stellt die Mitleidsfrage, heilt den Schmerzenskönig und wird selbst Gralherr. Nicht allein diese Haupthandlung wird erzählt, die Geschichte von Parzivals ritterlichem und bei den Frauen erfolgreichem Vater Gahmuret und vom Halbbruder des Helden entwirft ein farbiges Bild des Orients; König Artus, vor allem der Musterritter Gawan übernehmen die Handlung. Mit der Faszination des Grals konkurrieren vierzehn Liebesgeschichten, sie werden teils breit auserzählt, teils nur angedeutet. Kämpfe ohne Zahl folgen einander – an bunter Fülle der Figuren wie an Situationen, an aufgeworfenen Problemen eines Lebens zwischen Gottesdienst und Frauendienst geht der „Parzival“ seinen mittelalterlichen Konkurrenten weit voran. Jeder konnte darin seinen Helden finden, ob Gahmuret oder Gawan, Artus oder – Parzival selbst, zerrissen und doch gefasst, zielbewusst wie keiner, aber vom Wege irrend bis zur Verzweiflung.

Irritierend, ja subversiv

Doch nicht allein in dem Entwurf der Hauptfigur bleibt der Roman irritierend, ja, subversiv: Der Erzähler hält wenig von den allgemein hoch gehaltenen kirchlichen Hierarchien und Ritualen, propagiert eine eher allgemeine Religiosität im Bezug zu Gott und den Menschen, indem er nicht-christliche Symbole prominent einsetzt – so ist der Gral ein heiliger Stein, wie man ihn aus dem Islam mit der Kaaba kennt. Neben der traditionsbewussten Artusherrschaft steht das utopische Gralkönigtum, das eine Gesellschaft regiert, die Züge eines rigiden Geheimbundes aufweist. Parzival bleibt eine widersprüchliche Faszinationsfigur über die Jahrhunderte, der Roman wirft Fragen über Fragen auf, so dass ihn jede Generation neu lesen wollte.

Gerade entdecktes Fragment, Parzival-Handschrift auf einem kleinen Stück Pergament
Eins der ältesten "Parzival"-Textzeugen. Das in der Universitätsbibliothek gefundene Fragment dürfte aus dem ersten Viertel des 13. Jahrhunderts stammen.

© Universitätsbibliothek Leipzig

Wolfram verfasste seinen Roman ab etwa 1200 für einen Gönnerkreis im bayerisch-fränkischen Raum. Die Grafen von Wertheim und Abenberg sowie der Herr von Durne (Walldürn) könnten den aus einem fränkischen Rittergeschlecht stammenden (Wolframs-Eschenbach) Autor gefördert haben. Vielleicht war er als nachgeborener Sohn für den geistlichen Stand bestimmt, denn er konnte außer der höfischen Leitsprache Französisch auch Latein. Er kennt sich in Theologie und Astrologie, aber auch in der praktischen Medizin und in ritterlichen Kampftechniken aus. Wahrscheinlich ist er nach dem Studium wie sein Held durch Mitteleuropa gezogen, hat vielleicht als Soldritter gekämpft – jedenfalls legt er viel Wert darauf, ein Kämpfer und kein Buchgelehrter zu sein, von Frauen- und Ritterdienst, von dem er so viel zu erzählen weiß, wirklich etwas zu verstehen und nicht nur davon gehört und gelesen zu haben. Stolz behauptet er, er könne „keinen Buchstaben“. Er meint damit, dass er kein – geistlich gebildeter – Schreiber ist.

Für eine Handschrift musste eine Schafherde geschlachtet werden

Kalligraphisch zu schreiben lernten die jungen Kleriker an den Domschulen und in den Klöstern; es war eine besondere Kunst, eine Handschrift anzufertigen und – es war teuer. Für das Pergament, das man für eine „Parzival“-Handschrift brauchte, musste man eine ganze Schafherde schlachten. Nur vermögende Adlige konnten sich das leisten und die Fachleute im Hauskloster oder in der adligen Kanzlei von politisch wichtigen Aufgaben, wie Urkunden und Chroniken zu schreiben, freistellen. Und dem Autor musste seine französische Vorlage, die „Erzählung vom Graal“ des Chrétien de Troyes, zur Verfügung gestellt werden.

Teure Handschriften stützten die politische Macht

Wolfram entwarf vermutlich Abläufe und Situationen, dichtete längere Passagen im Kopf und trug sie an den langen öden Abenden im Winter, wo man nicht reisen konnte, der höfischen Gesellschaft vor, diktierte sie dann einem Schreiber, der für den Gönner (war es Landgraf Hermann von Thüringen?) ein repräsentatives Manuskript anfertigte. Dessen Nachbarn, Verwandte und Freunde waren so versessen auf den neuen Roman, dass sie die Handschrift noch im Entstehen ausliehen, Abschriften anfertigen ließen.

Die Manuskripte dienten dem hofinternen Vortrag als gemeinschaftsstiftendem repräsentativem Ereignis, weniger der privaten Lektüre, sie waren vielmehr Objekte eines Bildungsluxus, der den Hofherren als literarischen Gönner und damit als idealen Herrscher auswies, der Kunst und Kultur anzuregen und zu fördern verstand. So ließ sich politische Macht trefflich legitimieren und stützen.

Der Ruf verbreitete sich in Windeseile

Wie die älteste „Parzival“-Handschrift aussah, wissen wir nicht, noch wo sie geschrieben wurde. Die ältesten Textzeugen aber stammen wie unseres aus dem deutschen Süden, sowohl dem westlichen (alemannischen) wie dem östlichen (bairischen) Sprachraum. Der Ruf des Romans hat sich in Windeseile verbreitet und man wollte ihn überall kennenlernen. Der Erfolg blieb nachhaltig, jemand erwarb ein altes Manuskript aus Bayern im Raum Görlitz im 14. Jahrhundert. Das wissen wir dank des neuen Bruchstücks genauer. Ein Erfolg, der über zweihundert Jahre lebendig bleibt, ist auch in moderner Zeit ein Sonderfall. Dan Browns Thriller wird man das kaum vorhersagen wollen.

Der Autor ist emeritierter Professor für Ältere deutsche Literatur und Sprache an der Freien Universität Berlin

Volker Mertens

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