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Wohlfahrt. Der wirtschaftliche Aufstieg Chinas, der auch das Volk erfasst, stellt die bislang als unauflösbar geltende Verbindung von Markt und Demokratie infrage.

© Reuters

Zukunft des Regierens: Die zerriebene Demokratie

Wutbürger, China, IWF und Weltbank: Kommt das demokratische Prinzip im 21. Jahrhundert unter die Räder? Die Perspektiven sind ambivalent.

Welche Perspektiven hat demokratisches Regieren im 21. Jahrhundert? Drei Entwicklungen zeichnen sich ab, die dazu führen könnten, dass die Frage nach der Begründung von Herrschaft und damit zwingend auch die Demokratiefrage wieder in den Mittelpunkt politischer Auseinandersetzungen in der Welt rückt.

Die erste Entwicklung äußert sich in der Klage über die Postdemokratie, also die Entleerung politischer Prozesse in den Staaten der westlichen Welt. Zwar zeigen die Daten, dass die große Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger nach wie vor insbesondere im Nordwesten Europas mit dem Funktionieren der Demokratie im Ganzen zufrieden sind. Dennoch kann ein Bedeutungsverlust etablierter demokratischer Verfahren nicht übersehen werden. Die institutionalisierten Kanäle der politischen Einflussnahme verlieren an Bedeutung.

Parteien schrumpfen, Debatten finden vermehrt in Talkshows, aber kaum noch in den Parlamenten statt. Und das Mittel der außerparlamentarischen Opposition ist spätestens seit Stuttgart 21 kein generationenspezifisches mehr. Den Wutbürger scheint es wenig zu scheren, ob die zur Debatte stehende Entscheidung die institutionalisierten Entscheidungswege ordentlich durchlaufen hat oder nicht.

Es gibt eine gewachsene Unzufriedenheit mit den Kerninstitutionen der parlamentarischen Demokratie – mit Parteien, Parlamenten und auch Regierungen. Demgegenüber haben die sogenannten nicht majoritären Institutionen, die dem politischen Prozess entzogen sind, wie die Zentralbanken oder die Verfassungsgerichte, überall ein deutlich höheres Ansehen als die demokratischen Kerninstitutionen. Diese Institutionen legitimieren sich durch Expertise beziehungsweise den Schutz der Individualrechte. Sie stärken mithin die liberalen und schwächen die republikanischen Elemente der Demokratien.

Die zweite demokratierelevante Entwicklung: Spätestens seit der Finanzkrise erwächst der liberalen Demokratie westlicher Provenienz mit China eine ordnungspolitische Konkurrenz, die im Gegensatz zum real existierenden Sozialismus der späten Jahre beides ist: anders und erfolgreich. Sie ist anders, weil sie explizit die Entfaltung ökonomischer Marktdynamiken nicht an die Institutionen der liberalen Demokratie koppelt, sie also die scheinbar unauflösbare Verbindung von Markt und Demokratie infrage stellt. Sie ist erfolgreich, weil die autoritär regierenden Eliten in Ländern wie China und Singapur nicht ohne Weiteres als eigensüchtige Despoten abgetan werden können. Ihre Politik hat eine erkennbare Gemeinwohlkomponente und kann dabei auf erhebliche Erfolge verweisen.

Die Anzahl der Menschen, die in den letzten 15 Jahren in China aus den Fängen absoluter Armut befreit worden sind, ist höher als die entsprechende Zahl in ganz Europa im gesamten 20. Jahrhundert.

Diesen Entwicklungen entspricht das neue Selbstvertrauen, mit dem die chinesische Führung auftritt. Wurde bis vor kurzem bei jedem Auslandsbesuch betont, man möchte vom Westen lernen, so hat sich inzwischen die Rhetorik verändert: Es wird jetzt die Notwendigkeit gegenseitigen Lernens hervorgehoben. Freilich bleibt das neue chinesische Selbstvertrauen prekär. Die Aufstände in Nordafrika machen deutlich, dass die normative Kraft der individuellen Freiheit und Selbstbestimmung auch und gerade dann fortwirkt, wenn für einen gewissen materiellen Wohlstand gesorgt ist. Die chinesische Regierung registriert dementsprechend die Entwicklungen in Nordafrika auch mit höchster Sensibilität und verschärft die Repressionen gegen die Oppositionellen im eigenen Land.

Dennoch: China, Singapur und einige andere Staaten in Asien zeigen, dass zumindest über einige Jahrzehnte hinweg eine vertretbare Vorstellung des Gemeinwohls befördert werden kann, ohne dass die Machthabenden demokratischer Kontrolle unterliegen und ohne dass Individualrechte garantiert werden. Damit wird die insbesondere nach 1989 vertretene Vorstellung von der Alternativlosigkeit der liberalen Demokratie untergraben.

Die demokratische Euphorie speiste sich ja nach 1989 nicht ausschließlich aus der normativen Logik der individuellen Selbstbestimmung, sondern eben auch aus der empirisch begründeten Vermutung, dass das Gemeinwohl und die Wohlfahrt langfristig am besten nur im Rahmen einer liberalen Demokratie gemehrt werden kann. Wenn jetzt China als ordnungspolitische Alternative zumindest außerhalb der westlichen Welt gesehen wird, dann ist die Frage nach der richtigen politischen Ordnung wieder auf der weltpolitischen Tagesordnung angekommen.

Die dritte Entwicklung, die dafür sorgt, dass die Rechtfertigung politischer Herrschaft wieder zum Thema wird, findet auf der internationalen Ebene statt. Dort hat sich ein dichtes Netz aus internationalen Regelungen und Organisationen entwickelt. Diese greifen tief in innerstaatliche Angelegenheiten ein und unterlaufen das Konsensprinzip internationaler Politik und damit die Logik staatlicher Souveränität. Staaten delegieren zum einen zunehmend Entscheidungskompetenzen an internationale Organisationen.

Die Weltbank und weitere internationale Organisationen implementieren Politiken selbstständig. Zum anderen können auch internationale Institutionen ohne solch formale Kompetenzzuweisung an internationale Organe das zwischenstaatliche Konsensprinzip umgehen, indem Entscheidungen durch eine Form des Mehrheitsstimmrechts getroffen werden.

In dem Maße, wie die neuen internationalen Institutionen das Konsensprinzip internationaler Politik untergraben und auf innere Angelegenheiten einwirken, üben sie politische Autorität aus. Damit bedürfen sie aber der politischen Legitimation. Dementsprechend werden sie zum Gegenstand öffentlicher Auseinandersetzung und mit Fragen zur Begründung politischer Herrschaft konfrontiert.

Was heißt dies nun für die Perspektiven des demokratischen Regierens im 21. Jahrhundert? Die Entwicklungen verweisen in der Summe machtvoll auf die Wiederkehr der Frage nach der guten politischen Ordnung und deren Legitimation. Idealtypisch lassen sich sechs grundlegende Rechtfertigungen für politische Herrschaft unterscheiden: Sie kann sich etwa durch unvoreingenommene Expertise und Sachkenntnis legitimieren. Damit verbindet sich die Hoffnung auf erfolgreiche, zielführende Politiken, die insbesondere die Wohlfahrt einer Gemeinschaft befördern. Eine weitere Rechtfertigung politischer Herrschaft ist die Beförderung des Selbstwertgefühls der betroffenen Gemeinschaft. Dies geschieht nicht selten durch scharfe Trennziehungen zwischen Innen und Außen, was es zur normativ betrachtet problematischsten Legitimationsquelle macht. Politische Herrschaft kann es sich ferner zum Ziel setzen, die Individualrechte und die Rechtsgleichheit zu befördern oder viertens auf der Rechenschaftspflichtigkeit der Herrschenden zu basieren – auf accountability. Ein anderes Legitimationsmuster räumt allen Bürgern gleiche Partizipationschancen ein, entweder direkt oder durch Repräsentation – der Kern des demokratischen Prinzips also. Schließlich gibt es den öffentlichen Diskurs und Streit als Legitimationsquelle. Dies folgt der Überzeugung, dass der Ausgleich von Interessen durch eine offene Auseinandersetzung über das Gemeinwohl begleitet werden muss.

Bezogen auf die drei demokratierelevanten Entwicklungen zeigt sich: Sie alle beinhalten eine Wegentwicklung von den beiden originär demokratischen Prinzipien politischer Legitimation – von Partizipation und öffentlicher Auseinandersetzung. Auf der einen Seite scheinen der Schutz der Individualrechte und einfache Formen der Rechenschaftspflichtigkeit in den westlichen Demokratien und in internationalen Institutionen an Gewicht zu gewinnen. Auf der anderen Seite wird auf die Autonomie und das Selbstwertgefühl der Gemeinschaft sowie auf erfolgreiche, technokratisch begründbare Politikergebnisse als Legitimationsbasis verwiesen.

Im Ergebnis könnte eine Situation entstehen, in der ein zunehmend demokratiearmer Liberalismus westlicher Prägung und ein undemokratischer Autoritarismus asiatischer Prägung sich als zentrale Legitimationsmuster gegenüberstehen und das demokratische Prinzip dazwischen zerrieben wird.

Die Perspektiven demokratischen Regierens im 21. Jahrhundert sind also ambivalent: Während die Frage nach der angemessenen Herrschaftsbegründung – ein per se demokratisches Anliegen - an Bedeutung gewinnt, verliert möglicherweise die rein liberal-demokratische Antwort auf diese Frage an Überzeugungskraft. Sie muss daher neu begründet und institutionell überdacht werden.

Der Autor ist Direktor der Abteilung Transnationale Konflikte und Internationale Institutionen am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung. Der Text basiert auf dem Hauptvortrag zum 60-jährigen Bestehen der Deutschen Vereinigung für Politikwissenschaft. Die ungekürzte Fassung erscheint in der Juni-Ausgabe der „Blätter für deutsche und internationale Politik“ (www.blaetter.de).

Michael Zürn

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