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Weg vom Krieg. Eine Syrerin mit ihrem Kind an der türkisch-syrischen Grenze.

© Ümit Bektas/reuters

30 Jahre Schengen-Abkommen: "Die Grenzsicherung bringt nichts. Null."

Ministerpräsidentengipfel mit der Kanzlerin, Beratungen in Brüssel: Europa versucht, den Zustrom von Flüchtlingen zu meistern. Mehr Grenzkontrollen helfen nicht, meint die Forscherin Sabine Hess. Das 30 Jahre alte Schengen-Abkommen sei gescheitert.

Die EU-Innenminister haben am Dienstag über den Plan der Brüsseler Kommission debattiert, Flüchtlinge nach einem Schlüssel auf die Mitgliedsstaaten zu verteilen. Was halten Sie von der Idee?

Eigentlich eine gute Idee, aber sie bleibt auf halber Strecke stehen. Natürlich ist das System von Dublin absurd – also das Prinzip, dass das Land, wo Migranten als estes EU-Boden betreten haben, für ihr Verfahren verantwortlich ist. Das schreit geradezu nach Veränderung. Wem soll man erklären, dass Europas Migrationskrise ausgerechnet den Krisenländern im EU-Süden aufgebürdet wird?

 

Was spricht also gegen den Schlüssel?

Dass er die Betroffenen und ihre Selbstintegrationskräfte ignoriert. Migranten nämlich nehmen ihr Schicksal selbst in die Hand und entziehen sich den Versuchen, sie zu kontrollieren und ihre Bewegungsfreiheit zu beschränken. Das hat gerade eine US-Studie wieder untersucht. Es genügt aber auch ein Blick auf die Dublin-Rückführungen…

Sabine Hess ist Professorin für Kulturanthropologie an der Universität Göttingen. Grenzregime sind einer ihrer Forschungsschwerpunkte. Sie ist Mitglied im "Rat für Migration", einem Zusammenschluss von Migrationsforschern und hat "kritnet" (Netzwerk für kritische Migrations- und Grenzregimeforschung) und kürzlich das erste deutsche wissenschaftliche Journal zur Migrationsforschung mitgegründet, www.movements-journal.org
Sabine Hess ist Professorin für Kulturanthropologie an der Universität Göttingen. Grenzregime sind einer ihrer Forschungsschwerpunkte. Sie ist Mitglied im "Rat für Migration", einem Zusammenschluss von Migrationsforschern und hat "kritnet" (Netzwerk für kritische Migrations- und Grenzregimeforschung) und kürzlich das erste deutsche wissenschaftliche Journal zur Migrationsforschung mitgegründet, www.movements-journal.org

© Universität Göttingen

… die „Rücknahme“ von Flüchtlingen durch die Länder, die für sie laut Dublin zuständig sind…

… um zu sehen, dass sich der ganze Aufwand nicht lohnt, es sind nur sehr wenige. Für die Integrationspolitik, die doch alle europäischen Regierungen so hochhalten, sind diese Verteilungen kontraproduktiv. Dürften die Menschen zu ihren Freunden und Familien weiterreisen, in ihre Netzwerke, die sie schon in EU-Staaten haben, brauchte man auch keine teuren und inhumanen Lager für sie. Der Staat entmündigt sie, sperrt sie ein, behandelt sie unmenschlich, statt ihnen zu erlauben, zu produktiven Mitgliedern der Aufnahmegesellschaft zu werden. Nebenbei produziert er so die Sündenböcke für die Rechtspopulisten:

Auch mit Irrationalität muss man in der Politik rechnen.

Ja, aber man muss sie auch an ihren eigenen Ansprüchen messen, das heißt man darf sie nicht achselzuckend aus der Verantwortung entlassen, rational und sachdienlich zu handeln. Im Augenblick ist diese Politik erst recht absurd, denn quer durch Europa gibt es eine unglaubliche Welle von Hilfsbereitschaft für Flüchltlinge, in Italien wie in Deutschland. Gleichzeitig fahren die Innenminster der EU einen rassistischen Nationalismus, militarisieren die Außengrenzen – denken Sie an die geplanten Militärschläge gegen Flüchtlingsboote – und schränken zudem die Bewegungsfreiheit der eigenen Bürger ei: Seit einiger Zeit ist Schengen am Brenner ausgesetzt, da gibt es gibt wieder Kontrollen trinationaler Teams aus Österreich, Italien und Deutschland.

Wie erklären Sie sich diese Kluft zwischen der Haltung der europäischen Gesellschaften und dem Handeln ihrer Regierungen?

Ich fürchte, es ist einfach komplette Ideenlosigkeit. Jahrzehntelang war das Argument, man müsse dem Volk nach dem Mund reden und die Rechtspopulisten einhegen, indem man ihnen entgegenkommt. Jetzt haben wir geradezu einen Linkstrend, etwa in Spanien und Griechenland – Österreich ist ein anderer Fall – die Antwort der Gesellschaft auf die Krise kommt also gerade nicht von Rechts. Selbst die Arbeitgeberverbände reden auf die Regierungen ein, um sie zu einer anderen Migrationspolitik zu bewegen. Doch die Antwort bleibt dieselbe. Vielleicht lässt sich daran sehen, dass Nationalismus und Rassismus eben Ideologien sind, dass sie keinen zweckrationalen Grund brauchen. Im Moment scheinen sie sich jedenfalls von rationalen Bedingungen abzukoppeln.  

Das Schengener Abkommen, das Sie gerade ansprachen, ist am vergangenen Wochenende dreißig Jahre alt geworden. Welche Bedeutung hat das Versprechen eines Europa ohne Schlagbäume noch? Auf Flugreisen ist das Reisen ohne Kontrollen doch ohnehin ein hohles Versprechen und immer wieder wird – Sie nannten den Brenner - Schengen auch ausgesetzt.

Das Freiheitsversprechen von Schengen war immer doppelgesichtig,. Nach innen setzte es an den Hoffnungen der antifaschistischen Kräfte nach dem Krieg an, die auch schon die EU vorgedacht hatten: dass man endlich den Nationalismus und die Teilung in Nationen überwinden könne.  Schengen war wieder so ein Fünkchen Hoffnung.  Nach außen war es aber von Anfang an ein Abwehrmechanismus. Es hat den „Drittstaatsbürger“ geschaffen, einen Menschen mit minderen Rechten. In den letzten Jahren hat sich außerdem die Tendenz verstärkt, auch die Reisefreiheit für die mit europäischem Pass einzustampfen. Dänemark, Frankreich, Deutschland plädieren immer wieder für Kontrollen an den EU-Binnengrenzen. Da ist ein Prozess zurück eingeläutet.

Und  Schengen als Abwehr nach außen?

Ist eine Geschichte des Scheiterns. Rückschläge gab es durch die Bewegungen der Migration von Anfang an – trotz Vorverlagerung der Grenzkontrollen Richtung Afrika, trotz Digitalisierung und „Smart Borders“. Die Massen von Toten im Mittelmeer zeugen auch vom Scheitern von Schengen. Inzwischen hat selbst die Grenzschutzagentur Frontex eine Kehrtwende gemacht, deren Praktiken durch europäische Gerichtsurteile eingeschränkt wurden. Sie haben sich jetzt in die europäischen Hoheitsgewässer zurückgezogen, weil sie, sobald sie außerhalb sind, zur Seenotrettung verpflichtet wären, was Frontex bisher immer stillschweigend ignorierte. Das ist übrigens ein schöner Beweis dafür, dass es doch so etwas wie eine europäische Rechtsetzung und eine europäische Öffentlichkeit gibt, die sich nach den letzten Schiffsunglücken so empört hat, dass man sich bestimmte Praktiken nicht mehr erlauben konnte.

 

Trotz Miliardeninvestitionen ist die Grenzsicherung ein Schlag ins Wasser? Hat sie gar nichts gebracht?

 

Nichts, null. Leider gibt es keine konzise Rechnung, aber Milliarden von Euro sind in Spitzenforschung zur Grenztechnologieentwicklung geflossen. Dabei beweist jeder Tag wieder, dass die Flüchtlinge dennoch kommen, dass sie jeden Mechanismus umgehen können, sogar das Eurodac-System der Fingerabdrücke und biometrischen Daten. Auch weltweit sind alle Versuche gescheitert, Bewegungen über Grenzen zu regieren, auch in Kanada oder zwischen den USA und Mexiko.

Welchen Effekt hat die Grenzsicherung also?

 

Sie erhöht die Preise und sie produziert Tote und Sklavenmärkte. Wir wissen nicht alles und wir wollen auch gar nicht alles wissen, was mit Migranten in Libyen passiert oder auf dem Sinai, das erreicht westliche Medien teils gar nicht.  Der Handel mit der Flucht ist wie der Drogenmarkt ein Markt, auf dem sehr sehr viel Geld zu machen ist und der entsprechend superbrutalisiert ist. Die Brutalisierung der Transitrouten, auch Richtung Israel, hat in den letzten Jahren regelrechte Sklavenmärkte produziert, Leute werden entführt und versklavt oder gefoltert, um mit den Aufnahmen ihrer Qual Geld der Angehörigen zu erpressen. Wo Mobilität eingeschränkt wird, obwohl der Druck zur Wanderung bleibt, ist das eine selbstverständliche Folge. Die ganze scheinheilige Kampagne gegen Schleuser und Schlepper ist absurd. Jetzt will die EU Schlepperboote sogar beschießen. Ich weiß nicht, wie sie deren Boote von Fischerbooten unterscheiden wollen. Die Schlepper sind ohnehin Produkt von Europas eigener Politik. Würde man die beenden, dann wäre dieses Geschäft ausgetrocknet.

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