Karl May ist ein Spätentwickler, wie der deutsche Staat. Als am 18. Januar 1871 in Versailles Kaiser und Reich ausgerufen werden, sitzt er wegen wiederholter kleiner Betrügereien im Gefängnis. Karl May verpasst den Beginn eines beispiellosen Booms, erst drei Jahre später kommt er frei, mit 32 Jahren; ein Viertel davon hat er hinter Gittern verbracht.
Deutschland erlebt in der wilhelminischen Epoche eine stürmische Entwicklung. Es sind Zahlen, wie man sie heute nur aus China kennt: Von 1871 bis 1913 wächst die Bevölkerung im Deutschen Reich von 41 auf 68 Millionen Menschen. Bis zum Ersten Weltkrieg steigt die Steinkohleförderung von 26 auf 190 Millionen Tonnen, die Produktion von Rohstahl von einer auf 17 Millionen Tonnen, das Eisenbahnnetz im Deutschen Reich wächst von 19 000 auf 64 000 Streckenkilometer. Insgesamt versechsfacht sich die Industrieproduktion, nach der Jahrhundertwende treibt die militärische Aufrüstung die Konjunktur an. Deutschland wird die größte Industrienation Europas, der Ausstoß entspricht 15 Prozent der Weltproduktion. Nur die USA sind stärker.
Von einem „vulkanischen Geschehen“ spricht der Historiker Michael Stürmer. Großstädte greifen in die Landschaft aus, Großunternehmen formen den modernen Industriestaat. Und dann will man mit mörderischer Geschwindigkeit auch noch den jahrhundertealten Vorsprung der anderen europäischen Mächte in Übersee aufholen: Kolonien müssen her. 1884 übernehmen die Deutschen das Regiment in Südwestafrika, Togo und Kamerun, 1885 wird Ostafrika kassiert, dann Neu-Guinea. Kiautschou in China folgt 1897, wenig später Samoa in der Südsee. Reichskanzler Otto von Bismarck hatte den Satz geprägt: „Setzen wir Deutschland, sozusagen, in den Sattel. Reiten wird es schon können.“ Das Deutsche Reich wächst wie ein pubertierender Jugendlicher, dessen Kopf nicht mithält mit der Entwicklung der Extremitäten – physisch ein Kraftprotz, mental noch in der Kindheit.
Die Herausbildung breiter bürgerlicher Leserschichten kommt dem jungen Abenteuererzähler May entgegen. Sein produktiver Fleiß, seine schriftstellerische Energie, darin spiegelt sich der optimistische Charakter der Epoche, die in wenigen Jahren so viele bahnbrechende naturwissenschaftliche und technische Innovationen hervorbringt. Karl May aber zieht es zurück zur Natur, immer weiter fort, in unberührte Gegenden. Er muss feststellen, dass der technische Fortschritt die Menschheit zwar äußerlich zivilisiert, aber zugleich einen brutalen, hohen Preis fordert. Den die Indianer Nordamerikas bezahlen.
In der Einleitung zu „Winnetou I“ (1893) heißt es: „Wollte der Rote sein gutes Recht geltend machen, so antwortete man ihm mit Pulver und Blei, und er mußte den überlegenen Waffen der Weißen wieder weichen. Darüber erbittert, rächte er sich nun an dem einzelnen Bleichgesichte, welches ihm begegnete, und die Folgen davon waren dann stets förmliche Massacres, welche unter den Roten angerichtet wurden. Dadurch ist er, ursprünglich ein stolzer, kühner, tapferer, wahrheitsliebender, aufrichtiger und seinen Freunden stets treuer Jägersmann, ein heimlich schleichender, mißtrauischer, lügnerischer Mensch geworden, ohne daß er dafür kann, denn nicht er, sondern der Weiße ist schuld daran."
- Als Karl May das Kriegsbeil begrub
- Einer, der sich selbst erfindet
- In Erzählungen verpackte, politische Botschaften
- Von Kriegssehnsucht keine Spur
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