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Hauptbahnhof Berlin 2006: Hartmut Mehdorn im Interview: „Mehr als nur ein Bauwerk aus Glas, Stahl und Beton“

Das bisher realisierte Bahnkonzept schafft nach Ansicht von Hartmut Mehdorn eine optimale Mobilität in Berlin und Brandenburg. Ein Gespräch mit dem Vorstandsvorsitzenden der Deutschen Bahn AG

Herr Mehdorn, freuen Sie sich über die Eröffnung des Hauptbahnhofs?

Sehr sogar! Und wir sind auch stolz auf das Bauwerk. Es ist einerseits eine Mobilitätsdrehscheibe mit europäischer Dimension. Wir nehmen einen der architektonisch schönsten und wahrscheinlich den funktionalsten Bahnhof der Welt in Betrieb. Andererseits ist der Bahnhof aber auch ein Symbol, und zwar ein Symbol für positive Veränderung der letzten Jahre in unserem Land und bei der Bahn.

Was heißt das konkret?

Der neue Berliner Hauptbahnhof zeigt seinen Besuchern und Gästen eindrucksvoll, was in den Jahren seit der Wiedervereinigung geleistet worden ist, um die Teilung zwischen Ost und West zu überwinden und etwas Ganzes entstehen zu lassen. Auch die Eisenbahn in Deutschland war in diese Herausforderung eingebunden. Die beiden Behörden Bundesbahn und Reichsbahn lieferten im letzten Jahr ihres Bestehens 1993 einen Verlust von 16 Milliarden D-Mark ab. Wir haben in den letzten zwölf Jahren aus diesem schwierigen Erbe sozialverträglich einen modernen, wirtschaftlich erfolgreichen Mobilitätskonzern gemacht. Die Kunden sind für uns der Maßstab des Handelns. Und der neue Berliner Hauptbahnhof ist für den Wandel unseres Unternehmens ein sehr gutes Beispiel. Wir werden mit diesem Jahrhundertbauwerk sogar pünktlich zur WM fertig, was bei meinem Amtsantritt absolut nicht sicher war.

Das haben Sie aber nur geschafft, weil Sie das Dach des Bahnhofs verkürzt haben, was Ihnen viel Kritik eingebracht hat. Würden Sie sich heute wieder so entscheiden?

Wir haben diese Entscheidung getroffen, um die zeitgleiche Inbetriebnahme des Bahnhofs 2006 im Zuge der großen Streckeneröffnungen Berlin–Leipzig und Nürnberg–München sicherzustellen, im Interesse unserer Kunden. Und dieses Ziel haben wir erreicht. Das zählt letztendlich.

Der schöne Bahnhof hat aber auch sehr viel Geld gekostet. Wie viel denn?

Das werden wir in einigen Monaten sagen können, wenn wir alle Bauleistungen abschließend bewertet haben. Klar ist, der Bahnhof war teuer. Aber das neue Bahnkonzept für Berlin wird den Menschen, die hier wohnen und die hierher kommen, einen großen Nutzen bieten. Der Bahnhof und die dazugehörigen Strecken sind ein Quantensprung für die Vernetzung der Stadt, auch für die Bahn. Der ist mit Geld allein nicht zu bewerten, und er wird erst nach und nach voll sichtbar werden. Wir denken, dass das neue Bahnkonzept für Berlin und Brandenburg die Grundlagen legen wird, noch mehr Menschen für das Bahnfahren zu gewinnen.

Nur mit einem neuen Bahnhof?

Der Bahnhof ist ein wichtiger Baustein der Verkehrsachse Norddeutschland–Berlin–Mitteldeutschland–Bayern. In Berlin ist er der Umsteigepunkt zwischen der Ost-West-Achse und der neuen Nord-Süd-Achse. Mit diesem Gesamtkonzept werden wir viel attraktiver für unsere Kunden. Wir brauchen ab sofort nur noch gut eine Stunde nach Leipzig. Halle/Saale rückt 40 Minuten näher an die Hauptstadt. Auch wer über Mitteldeutschland hinaus in Richtung Thüringen und Bayern reisen will, spart eine halbe Stunde. Die Ostsee, Rostock und Stralsund rücken eine halbe Stunde näher an Berlin.

Rechtfertigt dieser Reisezeitgewinn den Milliardenaufwand? Oder anders herum: Würden Sie nochmals einen solchen Bahnhof und einen Tunnel mit gleich vier Röhren bauen lassen?

Nach der Wiedervereinigung ist auf der Basis von vielen Zukunftsannahmen ein weit vorausschauendes Verkehrssystem für Berlin entwickelt worden. Niemand konnte damals wissen, wie sich die Stadt tatsächlich entwickeln würde. Fakt ist auch aus heutiger Sicht: Das realisierte Bahnkonzept schafft eine optimale Mobilität in Berlin und Brandenburg. Andere europäische Metropolen können von so einem Angebot nur träumen. Meine Kollegen in den anderen Ländern beneiden mich darum.

Einige Einheimische sehen dies anders und werfen der Bahn vor, zu groß gebaut zu haben.

Schauen wir auf die Fakten: Die Menschen in Berlin und Brandenburg danken das attraktive Angebot schon heute mit einer überdurchschnittlichen Nutzung der Bahn und der S-Bahn, der U-Bahn, der Straßenbahn und der Busse. Vor fünf Jahren hatten wir eine Million S-Bahn-Fahrgäste pro Tag, heute haben wir 1,4 Millionen. Der Regionalverkehr boomt. Wir haben jetzt auf den von Berlin ausgehenden Strecken im Fernverkehr die höchsten Geschwindigkeiten in ganz Deutschland. Nach Hamburg, Hannover und Leipzig fahren wir im Durchschnitt – von Stadtmitte zu Stadtmitte – 180 Stundenkilometer. Zusammen mit den attraktiven Bahnhöfen hat der Kunde jetzt einen optimalen Nutzen. Das ist also eine Aufwärtsspirale, und die werden wir in Zukunft mit attraktiven Verbindungen und innovativen Mobilitätsangeboten noch beflügeln.

Weltweit schaut man jetzt auf den Berliner Hauptbahnhof. Werden auch die Berliner als Fahrgäste – und Kunden der Geschäfte – kommen?

Der Hauptbahnhof ist ja mehr als nur ein Bauwerk aus Glas, Stahl und Beton. Dieses Bauwerk ist errichtet worden, um in der geografischen Mitte der Stadt etwas Neues zu schaffen. Der Bahnhof ist ein großzügiges Eingangstor zur Stadt und zum Regierungsviertel. Viele Menschen – ob aus Berlin oder als Touristen – entdecken jetzt die Attraktivität und Offenheit des Areals entlang der Spree und zwischen den Regierungsbauten. Ich bin sicher, auch das Antlitz des Hauptbahnhofs lädt die Menschen ein, dort umzusteigen oder zu verweilen, vielleicht etwas zu essen oder einzukaufen. Das wird sich Schritt für Schritt entwickeln. Aber wer in dem Areal verweilt, erkennt schnell das Potenzial für die Zukunft.

Wie sehr stört es Sie, dass es zur Eröffnung des Bahnhofs keinen Anschluss ans U-Bahn-Netz gibt, dass die geplante Nord-Süd-Verbindung der S-Bahn über den Hauptbahnhof nicht zustande gekommen ist und dass auch die Straßenbahn nicht vor 2009 zum Bahnhof fahren wird?

Klar ist, dass die Anbindung an U- und Straßenbahn so noch nicht vollendet ist. Aber Rom ist auch nicht an einem Tag erbaut worden. Ich bin optimistisch, dass die Politik das U- und StraßenbahnThema mit vereinten Kräften angehen wird.

Machen Sie jetzt zumindest beim Bau der S-Bahn-Strecke S 21 vom Nordring zum Hauptbahnhof Tempo?

Die S 21 ist ein wichtiges Zukunftsprojekt für uns. Wir sind dabei, hier entsprechende Planungen vorzubereiten und gemeinsam mit der Politik die Voraussetzungen festzulegen, unter denen wir starten können.

Den perfekten Anschluss an den Nahverkehr hat man im Bahnhof Zoo. Dort lassen Sie aber in Zukunft keine Fernzüge mehr halten. Ist das Ihr letztes Wort?

Schon von Anfang an war im realisierten Konzept klar, dass der Fernverkehr nicht wie heute an drei Bahnhöfen hält, sondern an fünf: dem Hauptbahnhof, Spandau, Südkreuz, Ostbahnhof und Gesundbrunnen. Wir haben ja in detaillierten Analysen dargelegt, welche Reisezeitvorteile sich dadurch für alle Stadtbezirke ergeben und wie insgesamt die Anzahl der Halte zunimmt. Auch in Zukunft ist man in acht Minuten vom Hauptbahnhof am Zoo und kann dort umsteigen. Ich bin sehr zuversichtlich, dass die Vorteile des neuen Konzepts schnell für die allermeisten Menschen in Berlin sichtbar werden: kürzere Gesamtreisezeiten, zusammen mit einer noch höheren Zuverlässigkeit des Bahnsystems in der Stadt.

Auch mehr als 100 000 Unterschriften für den Stopp im Bahnhof, die die Theologin Helga Frisch gesammelt hat, ändern daran nichts?

Der Bahnhof Zoo ist für den Fernverkehr heutigen Standards im Grunde nicht geeignet, das kann man beispielsweise jeden Freitagnachmittag erleben. 100 000 Unterschriften, das sind auch über drei Millionen Berliner, die nicht unterschrieben haben. Wir verlassen uns da lieber auf das über Jahre gewachsene und von der Politik mitgetragene Zukunftskonzept für den Bahnverkehr in Berlin und Brandenburg. Und wir laden diejenigen, die jetzt noch skeptisch sind, ein, das neue Konzept auszuprobieren.

Unstrittig ist aber doch, dass sich für die Fahrgäste aus den westlichen Stadtteilen die Gesamtreisezeit durch die weitere Fahrt zum Hauptbahnhof verlängert?

Einspruch. Aus Charlottenburg ist man mit der S-Bahn oder der U-Bahn sehr schnell in Spandau, wo in Zukunft deutlich mehr Fernzüge halten. Man fährt hier also nicht mehr gegen die eigentliche Fahrtrichtung, sondern ist von Spandau aus zehn Minuten schneller in Hannover oder Hamburg als bisher vom Bahnhof Zoo. Aber ganz davon abgesehen: Es wird nie ein Konzept geben, das für jeden in alle Richtungen nur Vorteile bietet. Das neue Konzept ist das Optimum für die Menschen in ganz Berlin.

Neue Fern- und Regionalbahnhöfe gibt es auch am Südkreuz und in Gesundbrunnen. Im Südkreuz fehlen die geplanten Parkhäuser, in Gesundbrunnen gibt es kein Empfangsgebäude. Wann lassen Sie hier weiterbauen?

Wir sehen uns jetzt sehr genau die Entwicklung der Nachfrage an. Dann entscheiden wir über mögliche Erweiterungen.

So oder so – Berlin ist jetzt wieder eine Bahnstadt. Bleibt der Konzernsitz nun auf Dauer hier? Vielleicht sogar im oder am Hauptbahnhof?

Der Konzernsitz in Berlin stand nie in Frage. Da ist vieles falsch interpretiert worden. Wir müssen uns nun den zukünftigen Bedarf an Bürokapazitäten für die DB AG genau ansehen und daraufhin ein Gesamtkonzept erarbeiten. Der neue Hauptbahnhof und das Areal drum herum sind jedenfalls sehr attraktiv, auch für uns. Deswegen können wir uns auch vorstellen, hier unser Quartier zu beziehen.

Die Fragen stellte Klaus Kurpjuweit.

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