
© privat
Nachruf auf Anita Seifert: Sanfte Leute
Als sie ihrem Sohn einmal den Hintern versohlte, erschrak sie fürchterlich und bat: „Sag es niemanden, ja?“
Stand:
Eine Frau und ein Mann wünschen sich ein Kind. Aber die Frau kann kein Kind bekommen. Also beschließen beide, denn der Wunsch ist groß, eins zu adoptieren. Sie wenden sich an das zuständige Amt, es beginnt eine nervenaufreibende Zeit. „Meine Eltern mussten sich nackig machen“, sagt ihr Sohn später, hunderte Details angeben, Familienverhältnisse, Einkommensverhältnisse. Das Amt zeigt sich zufrieden, da der Mann Polizeibeamter ist. Die Frau, Buchhalterin, muss zusichern, dass sie nur noch halbtags arbeitet. Dann ist das Amt überzeugt, ein Kind gefunden. Am 30. Oktober 1961, einem Montag, holen Anita und Erwin den einjährigen Eddi ab.
„Wir haben dich nackig bekommen“, erzählte Anita Eddi später. Sie müssen alles mitbringen, Hemdchen und Höschen und Miniaturmützen.
Zunächst ist Eddi auf Probe bei den Seiferts, für ein Jahr. Jederzeit und ohne Ankündigung kann das Amt vor der Tür stehen. Jedes Klingeln lässt Anita zusammenzucken. Dann ist das Jahr vorüber.
Nun aber war die Sache die, dass Anita nie mit einem schönen, runden Bauch herumgelaufen ist – ein Stigma. Eine echte Mutter war eine, die ihr Kind bitte schön selbst bekam. Um den Blicken, den Fragen auszuweichen, zogen Anita und Erwin, bevor sie Eddi abholten, um, von der Spandauer Petzoldtstraße in den Spandauer Burscheider Weg. Fußläufig liegt eine knappe Stunde dazwischen, ausreichend, um ihren fehlenden Bauch zu verbergen. Was eine erstaunliche Pointe ist, wenn man bedenkt, wie viele ledige oder minderjährige Frauen ihren vorhandenen Bauch damals versteckten. Für die Leute im Burscheider Weg jedenfalls kam da eine normale junge Familie, Mutter, Vater, Kind, alles in bester Ordnung.
Auf einem großen Spielbrett
Es blieb ein anderes Problem: Anitas Mutter war erst gegen die Hochzeit mit Erwin, dem einfachen Polizisten, gewesen (sie hatte einen Mann, der dicke im Geschäft war, für ihre Tochter ausgesucht), und dann war sie auch gegen diese Adoption: Anita hatte sich ein paar Jahre zuvor einer Unterleibsoperation unterziehen müssen, von der die Mutter annahm, sie habe mit einem heimlichen Schwangerschaftsabbruch zusammengehangen, weshalb sie letztlich unfruchtbar geworden sei. Nun habe sie auch die Konsequenzen zu tragen.
Im Lauf der Jahre aber schickte sich die Mutter in ihr Großmuttersein drein, und sie und Eddi wurden „dickste Freunde“, wie er es ausdrückt.
Alle lebten sehr dicht beieinander, alle im Burscheider Weg, als handle es sich um ein Familienspiel auf einem großen Spielbrett: Der Burscheider Weg ist eine lange Straße mit Zeilenbauten, die beidseitig von ihr abgehen. Erster Zug: Anitas Eltern bewegten sich in die 6D. Zweiter Zug, nach links unten: Anita, Erwin und Eddi begaben sich in die 11E. Dann verließ Eddi für einige Jahre das Feld. Vierter Zug, nach rechts oben: Anita und Erwin gingen in die 24. Fünfter Zug: Eddi kehrte zurück in den Burscheider Weg, in die 6B.
„Er braucht Liebe“
Man sah sich häufig. Die Querelen des Anfangs schienen vergessen. Eddi lief oft zu den Großeltern. Die eigentlichen Helden aber waren seine Eltern, von ihnen hat er letztlich alles. Im Sommer nahmen sie sich sechs Wochen am Stück frei für seine Ferien. Sie segelten auf der Havel und auf der Ostsee. Sie zogen ins Hochparterre, damit Eddi nach Herzenslust rennen und springen konnte und dabei niemanden, der drunter wohnte, störte. Sie schenkten ihm später eine Musikanlage für zweieinhalbtausend Euro. Als er die siebte Klasse wiederholen musste, veranstalteten sie kein übermäßiges Theater. Einmal aber platzte Anita doch die Hutschnur. Sie stritten, Anita warf erst ein Wurstpaket nach ihm, dann griff sie zum Teppichklopfer und schlug ihm ein, zwei Mal auf den Hintern. Da Eddi eine Lederhose trug, gab es nur ein mattes Geräusch, woraufhin sie auf die Kniekehlen zielte. Dann erschrak sie fürchterlich, rannte ins Badezimmer, holte ein Pflaster, klebte es auf die zarten Kratzer und bat: „Sag es niemanden, ja?“
Sie waren sanfte Leute, Anita und Erwin, schrien nicht, tranken nicht, rauchten nur eifrig. Und sie wussten, dieser Tag würde kommen, der Tag, vor dem sie sich fürchteten. Am 18. Geburtstag ihres Sohnes sagte es Erwin schließlich: „Du bist adoptiert. Du kannst uns jetzt Anita und Erwin nennen.“ Eddi blieb bei Mama und Papa. Suchte zwar seine leibliche Mutter auf, wusste danach aber um so mehr, wohin er gehörte.
Die Jahre verstrichen, Eddi zog aus, Anita und Erwin segelten weiter, fuhren Motorboot und Motorrad. Zu Hause hielten sie die traditionelle Aufteilung bei, sie kochte, er kümmerte sich um technische Dinge, auf den Booten jedoch bestand absolute Gleichberechtigung. „Sie war toll auf dem Wasser“, sagt Eddi. Sie verwöhnten ihren Enkel Max, „mit das Schönste, was man uns gegeben hat“. Sie entdeckten Kühlungsborn, reisten 16 Jahre in das Ostseebad.
Vor neun Jahren starb Erwin, aus Anita schien alles Leben zu weichen. Sie aß nicht mehr, sie saß so rum. Bis Eddi die Sache in die Hand nahm. Er kaufte eine Katze, „einen schmusigen Gesellen“, wie die Züchterin den weißen Britisch-Kurzhaar-Kater anpries. Er brachte das Tier zu Anita. „Mama, du bekommst eine Katze, und du hast eine Probezeit.“ Nach einer Woche erlahmte ihr Interesse, doch dann geschah doch noch etwas in ihr, von außen nicht recht zu bestimmen, sie wurde sozusagen eine Einheit mit dem Kater, Chico. Er kroch an ihren Rücken und wärmte sie. Sie kaufte dutzende Bälle für ihr gemeinsames Spiel. „Er braucht Liebe“, sagte sie; so war das schließlich mit Erwin, Eddi und Max auch gewesen.
Sie fuhr wieder nach Kühlungsborn, mit ihrem neuen E-Book, auf dem sie 20 Krimis transportieren konnte. Sie hörte jetzt nicht mehr „Boney M.“ und Tom Jones, sondern „Queen“. Sie wurde mit 80 ein Profi am PC.
Kürzlich wollte sie, wie immer, Katzenfutter kaufen, und stürzte. Sie lag da. Und vielleicht erinnerte sie sich: Sie und Erwin kommen aus dem Haus, um in ein Restaurant zu gehen. Als sie auf die Straße treten, streckt Erwin seine große Hand aus und sie schiebt ihre kleine dort hinein.
- showPaywall:
- false
- isSubscriber:
- false
- isPaid: