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Panorama: Concorde: Der Trauer und der Wut Raum geben

Der Weltenherrscher ist verletzlich und verletzt. Der rechte Arm fehlt der Jesus-Christus-Figur auf diesem Kruzifix aus dem 11.

Der Weltenherrscher ist verletzlich und verletzt. Der rechte Arm fehlt der Jesus-Christus-Figur auf diesem Kruzifix aus dem 11. Jahrhundert ganz, der linke ist ein Stumpf. Dennoch scheint der Christus-Torso die gläubigen Menschen im "Christus-Pavillon" auf der Expo in Hannover in seine Arme zu schließen. Hinter Glas geschützt, ist das Kruzifix Zentrum des Pavillons. Hier, vor dem bescheidenen Altar und den hölzernen Sitzbänken, wird täglich im Stundengebet für zehn Minuten Ökumene gefeiert, in deutscher und englischer Sprache. Später, nach dem Ende der Expo, soll der Christus-Pavillon im thüringischen Kloster Volkenroda wieder aufgebaut werden.

"Deutschland ist fassungslos"

Heute aber, einen Tag nach der Flugzeugkatastrophe, beherrscht das Gefühl der Trauer den lichten großen Raum, den die evangelische Kirche und die deutsche Bischofskonferenz für die Besucher der Weltausstellung errichtet haben. Trauer, Gedenken und Gebet für die Opfer der Unglücksmaschine. Das Besucherbuch wird heute auch als Kondolenzbuch genutzt. Die Besucher der bunten Zukunftsschau suchen gerade an diesem Tag die Ruhe und nach einer Möglichkeit, ihrem Mitgefühl Ausdruck zu verleihen.

An diesem Tag hat kaum ein Besucher ein Auge für die faszinierende Architektur des Pavillons, der das Expo-Motto "Mensch, Natur und Technik" aus christlicher Sicht darstellen soll. Die gläsernen Doppelscheiben sind gefüllt mit Gegenständen aus Natur und Technik: Baumscheiben und Zahnräder, Bambusstangen und Kunststoffschläuche, Mohnkapseln und Einwegspritzen, Silberdisteln und Glühbirnen. Der Pavillon verfügt über Kreuzgang, Krypta und Innenhof, die alle aus der klassischen Kloster- und Tempelarchitektur stammen.

Draußen auf dem Expo-Gelände ist die Stimmung sichtlich gedrückt. Über eine Großleinwand sind der Trauergottesdienst und die Rede von Bundeskanzler Gerhard Schröder zu sehen und zu hören. Die Menschen verweilen davor, schweigend, sie schütteln die Köpfe. Niemand kann wirklich begreifen, was am Tag zuvor geschehen ist. Schröder fasst es in einen einfachen Satz: "Deutschland ist erschüttert. Deutschland ist fassungslos." Seine Miene ist versteinert, rechts über ihm hängt der verletzliche, der verletzte Weltenherrscher. Nicht nur Schröder, sondern auch der niedersächsische Ministerpräsident Sigmar Gabriel versucht, wie alle anderen Politiker, die richtigen Worte zu finden. Doch es gibt keine richtigen Worte, nur Worte der Anteilnahme, des Mitgefühls.

Betroffenheit, das vereint. Natürlich auch mit den Menschen in Paris. Manch ein Expo-Besucher wird mit seinen Gedanken zu den verzeifelten Angehörigen der Opfer gewandert sein, von denen viele am Abend aufgrund ihrer psychischen Verfassung nicht an dem Trauergottesdienst in Paris teilnehmen können. Dort wollten auch Frankreichs Staatspräsident Chirac und Bundesverkehrsminister Klimmt gemeinsam teilnehmen. Viele erinnern sich in den Momenten der Anteilnahme an ein anderes Unglück, das Deutschland ebenso erschüttert hatte: Vor fast genau zwei Jahren starben 101 Menschen bei der Zug-Katastrophe von Eschede. Am 3. Juni 1998 war ein voll besetzter ICE durch einen gebrochenen Radreifen entgleist und bei dem niedersächsischen Ort gegen einen Brückenpfeiler geprallt.

Damals wie heute stelle sich angesichts der zahlreichen Toten besonders laut die Frage nach dem Warum, sagte der frühere hannoversche evangelische Landesbischof Horst Hirschler bei dem Gedenkgottesdienst auf der Expo. Und deshalb bittet er um Solidarität mit den Trauernden. Bundeslandwirtschaftsminister Karl-Heinz Funke ist unter ihnen. Für einen hohen Politiker wie ihn ist es eher ungewöhnlich, dass er aus seinen Gefühlen keinen Hehl macht. Der Sozialdemokrat erzählt vor der Sitzung des Bundeskabinetts, die Tochter eines guten Freundes sei Stewardess in der Concorde gewesen. Die Tränen will und kann Funke nicht verbergen.

Nicht nur in Hannover gibt es am Mittwoch Beileidsbekundungen für die Opfer und deren Angehörige. Viele Bundesländer hatten auf Halbmast geflaggt, als Zeichen der Trauer. Bestürzt sind auch die Regierungschefs der Bundesländer, aus denen die Opfer kommen. Berlins Bürgermeister Eberhard Diepgen (CDU) sagt, die Tragödie zeige, dass Technik Risiken berge. Wolfgang Clement aus Nordrhein-Westfalen spricht von einer "schrecklichen Katastrophe".

Notfallseelsorge

Inzwischen gibt es auch Angebote, den Angehörigen der Opfer einfach nur durch Reden und Zuhören seelischen Beistand zu leisten. In München zum Beispiel erklärt ein Kirchensprecher, der Notfallseelsorger für Bayern habe der Air France sowie dem Reiseveranstalter angeboten, in Kooperation mit anderen deutschen Notfallseelsorgern Teams nach Frankreich zu schicken.

Auf dem Pariser Flughafen Charles de Gaulle bieten die Kirchen bereits solche Hilfe an. Worauf es dabei ankommt, formulierte der katholische Flughafenpfarrer Jacques Fournier, der mit dem Absturz der Concorde erstmals selbst Zeuge einer Flugzeugkatastrophe geworden ist, mit den Worten: Man muss der Trauer und Wut der Angehörigen Raum geben und ihnen zuhören. Die Familienangehörigen werden nach ihrer Ankunft in eine Flughafenzone gebracht. Medienvertreter haben dort keinen Zugang. Dort böten Krankenpflegepersonal, Psychologen sowie ein protestantischer Seelsorger Beistand. Der Vorsitzende der Französischen Bischofskonferenz, Erzbischof Louis Marie Bille, sandte Beileidsschreiben unter anderem an den deutschen Botschafter in Paris, Peter Hartmann, und den Vorsitzenden der Deutschen Bischofskonferenz, den Mainzer Bischof Karl Lehmann. Er sei von dem Unglück überwältigt und tief betroffen, heißt es in den ebenfalls am Mittwoch in Paris veröffentlichten Schreiben.

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