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Ukrainische Rettungskräfte beseitigen nach einem russischen Raketenangriff die Trümmer von Häusern.

© AFP / GENYA SAVILOV

Update

Wie Kiewer auf die Angriffe reagieren: Ukraine meldet Dutzende russische Raketenangriffe auf mehrere Städte

Die Ukraine wurde am Donnerstag von den schwersten Raketenangriffen seit zwei Wochen getroffen. In vielen Städten kam es zu Stromausfällen.

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Das ukrainische Militär hat „massive“ russische Raketenangriffe auf mehrere Städte des Landes am Donnerstagmorgen gemeldet. „29. Dezember. Massive Raketenangriffe ... Der Feind greift die Ukraine an mehreren Fronten an, mit Marschflugkörpern, die von Flugzeugen und Schiffen aus abgefeuert werden“, erklärte die ukrainische Luftwaffe in Onlinediensten.

Von den insgesamt 69 abgefeuerten russischen Raketen habe die Luftabwehr 54 abgeschossen, erklärte der Oberbefehlshaber der Streitkräfte, Walery Saluschny, im Onlinedienst Telegram. Die 16 auf Kiew abgefeuerten Raketen wurden den Angaben zufolge alle abgeschossen. Präsidentenberater Mychailo Podoljak dagegen erklärte, von der russischen Armee seien „mehr als 120 Raketen abgefeuert“ worden, um „wichtige zivile Infrastruktur zu zerstören und massenhaft Zivilisten zu töten“.

Es handelte sich um die schwersten Raketenangriffe seit dem 16. Dezember, als Russland das Land massiv von Bombern aus der Luft und von Kriegsschiffen im Schwarzen Meer beschossen hatte. Es war die zehnte Welle dieser Art seit Oktober. Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj hatte seit Tagen von drohenden neuen Attacken gewarnt.

Drei verletzte in Kiew – darunter ein 14-jähriges Mädchen

In der Hauptstadt Kiew seien bei Angriffen drei Menschen verletzt worden, erklärte Bürgermeister Vitali Klitschko. „Zum jetzigen Zeitpunkt gibt es drei Verletzte, darunter ein 14-jähriges Mädchen. Alle befinden sich im Krankenhaus“, schrieb er im Onlinedienst Telegram.

40 Prozent der Einwohner der Hauptstadt seien von Stromausfällen betroffen, erklärte Klitschko weiter und forderte alle auf, sich mit Trinkwasser einzudecken. Die Energieversorger würden daran arbeiten, die Stromversorgung wieder herzustellen.

Erste Explosionen weckten Anna Sherman, Kunsthistorikerin in Kiew, gegen sechs Uhr morgens, sagte sie dem Tagesspiegel. Zuerst hätte sie gedacht, dass ihr Nachbar mit seiner Bohrmaschine hantiere. Als ihr klar wurde, dass es sich um einen erneuten russischen Angriff handeln müsse, sei sie aus dem Bett gesprungen. Nicht aber, um sich in Sicherheit zu bringen. „Ich lief in die Küche und setzte den Kessel auf. Dann habe ich einige Töpfe mit Wasser gefüllt, um einen Vorrat anzulegen.“

Anna Scherman aus Kiew

© privat

Im Anschluss sei sie einkaufen gegangen. „Ich habe keine Angst vor weiteren Explosionen. Ich glaube an die ukrainische Luftverteidigung.“ Ähnlich gelassen blickt die Journalistin Irina Tiran auf die erneuten Angriffe. „Ich hatte nicht die Absicht, mich irgendwo zu verstecken“, sagte sie dem Tagesspiegel. Sie sei gerade auf dem Weg zur Arbeit gewesen, als die Explosionen losgingen.

Um die Explosionen nicht mehr hören zu müssen, habe sie sich entschieden, einen Kaffee zu trinken. „Bei einem Luftangriff bleiben die Kiewer Cafés nicht lange geschlossen“, sagte Tiran. Laute Musik habe die Explosionen und Sirenen übertönt. „Die Stadt hat gelernt, mit dem Krieg zu leben, und ihre Bewohner auch.“

Im Osten der Hauptstadt seien zwei Privathäuser durch Trümmer abgeschossener Raketen getroffen worden, erklärte die örtliche Militärverwaltung. Im Südwesten Kiews wurden demnach ein Industriebetrieb und ein Spielplatz beschädigt.

Großteil der Stromversorgung in Lwiw ausgefallen

Aus Charkiw, der zweitgrößten ukrainischen Stadt im Osten des Landes, meldete Bürgermeister Igor Terechow eine „Reihe von Explosionen“. Dem Gouverneur der gleichnamigen Region, Oleg Synegubow, zufolge wurde „kritische Infrastruktur“ in der Region sowie in der Stadt getroffen. Demnach schlugen vier Raketen in östlichen und südlichen Stadtteilen ein. Nach Angaben des Regionalgouverneurs starb mindestens ein Mensch bei dem Beschuss.

Kondensstreifen von Raketen sind am Himmel über Kiew zu sehen.

© AFP / SERGEI SUPINSKY

Auch aus der westlichen Stadt Lwiw wurden Explosionen gemeldet. Laut Bürgermeister Andrii Sadowy waren 90 Prozent der Stadt am Donnerstag ohne Strom und es drohte ein Ausfall der Wasserversorgung. Der Gouverneur der Region Lwiw, Maksim Kosytski, erklärte, die Luftverteidigung sei im Einsatz, die Einwohner sollten sich in Schutzräume begeben.

Bewohner von Odessa lassen sich nicht von ihrem Alltag abbringen

Über der Region Odessa wurden nach offiziellen Angaben 21 Raketen abgefangen, auch dort wurde die Energieinfrastruktur beschädigt, der Strom wurde vorsorglich abgeschaltet. Gegen 8.20 Uhr stand der Deutschlehrer Vladimir Kopylov auf seinem Balkon und hörte eine Reihe von Explosionen, sagte er dem Tagesspiegel. „Heute war es besonders klar, so dass ich eine sich bewegende Rakete deutlich sehen konnte.“ Sie sei schließlich von der ukrainischen Luftabwehr abgeschossen worden.

Trotz der Gefahren ging das Leben in Odessa weiter.

Vladimir Kopylov, Deutschlehrer aus Odessa

Auch er ließ sich durch die russischen Raketenangriffe kaum beeinflussen. Nach der letzten Explosion hätten er und sein Partner ihre Koffer ins Auto geladen und seien losgefahren. Sie wollen Silvester in Kiew feiern. „Als wir durch die Stadt fuhren, konnte ich sehen, was um uns herum geschah: Menschen, die zur Arbeit eilten, einige, die mit ihren Hunden spazieren gingen. Trotz der Gefahren ging das Leben in Odessa weiter.“ Nur die Straßenbahnen und Trolleybusse standen still – Stomausfall.

Der Berater des ukrainischen Präsidentenbüros, Olexij Arestowytsch, warnte davor, Bilder von den Explosionen und Einschlägen in den sozialen Netzwerken zu veröffentlichen, weil das Rückschlüsse auf Arbeit der ukrainischen Luftabwehr zulasse und deren Position verraten könne. „Wenn Sie das tun, dann korrigieren sie das Feuer des Gegners.“

Rakete in Belarus als möglicher Vorwand für neue Angriffe

Staatsmedien in Minsk meldeten, dass eine vom Flugabwehrsystem S-300 abgeschossene Rakete auf belarussisches Staatsgebiet gefallen sei. Die Gründe würden derzeit untersucht. Demnach wurde auch Machthaber Alexander Lukaschenko unterrichtet. Das Geschoss sei „von ukrainischem Territorium aus“ abgefeuert und worden, teilte das Verteidigungsministerium in Minsk mit. Die Trümmer der Rakete seien in der Region um Brest nahe der Grenze zur Ukraine und Polen gefunden worden.

Das belarussische Außenministerium berief den ukrainischen Botschafter ein und äußerte „scharfen Protest“. Der Vorfall müsse umgehend untersucht werden, da derartige Vorkommnisse „katastrophale Folgen“ haben könnten und sich nicht wiederholen dürften, erklärte das Ministerium. Belarus ist mit Russland verbündet und unterstützt die russische Invasion in der Ukraine. 

Die Staatsagentur Belta meldete, die Rakete sei womöglich im Zuge des Einsatzes der ukrainischen Flugabwehr auf das Gebiet von Belarus gelangt. Das wäre ein ähnlicher Vorfall wie im November, als polnisches Gebiet getroffen wurde. In der Ukraine sind die Sorgen groß, dass Russland von Belarus aus einen neuen Angriff starten könnte. Ein solcher Fund könnte von Minsk und Moskau als Vorwand genutzt werden.

Russland prahlt mit Kapazitäten

Russlands Außenminister Sergej Lawrow hatte am Mittwoch gesagt, Moskau werde dank seiner „Geduld“ und „Beharrlichkeit“ seine Ziele in der Ukraine früher oder später erreichen. „Wir sind nicht in Eile“, erklärte er und forderte, dass Kiew die Annexion von vier ukrainischen Regionen durch Russland anerkennen müsse, damit die Gespräche wieder aufgenommen werden könnten.

„Unsere absolute Priorität sind vier neue russische Regionen“, sagte Lawrow. Aussagen westlicher Geheimdienste und Militärkreise, wonach Russland die Kampfmittel ausgehen könnten, wies das Verteidigungsministerium in Moskau zurück. „Uns werden die Kalibrs nie ausgehen“, erklärte das Ministerium im Onlinedienst Telegram und bezog sich dabei auf die Marschflugkörper, mit denen Moskau die Ukraine angreift.

Nach erheblichen Gebietsverlusten im Sommer und Herbst hat Moskau seine Angriffe mit Drohnen und Raketen auf die ukrainische Energieinfrastruktur in den vergangenen Wochen verstärkt. Der Kreml hatte zuvor erklärt, es werde an den Feiertagen keine Waffenruhe geben. (mit Agenturen)

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